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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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vor vierzig Jahren

klärte, von Rüstungen merke man bei ihm daheim wenig, außer etwa in Kösel
und in Reiße und in der Einziehung von Reserven für die in Schleswig
stehenden Truppen; aber der Krieg sei unvermeidlich, und den fürchte man auch
in Schlesien gar nicht, viel störender sei das lauge Schwanken zwischen Krieg
und Frieden. Aus Schleswig-Holstein würde Preußen niemals weichen, das
heiße bei ihnen in Schlesien nach Olmütz gehn. Die Haltung des Abgeord¬
netenhauses mißbilligte er scharf, das seien in der letzten Zeit keine Debatten,
sondern nur Personalien gewesen; vor allem sei es ein schwerer Fehler, daß
das Haus in der Schleswig-holsteinischen Frage nicht eine bestimmte Stellung
eingenommen habe. Im anstoßenden Coupe -- ich fuhr natürlich dritter
Klasse -- verfocht ein ehemaliger sächsischer Unteroffizier gegen seine preußischen
Reisegefährten die Vorzüge der damaligen sächsischen Heeresverfassung, die
mir jetzt entfallen sind, natürlich nicht ohne lebhaften Widerspruch. Weiterhin
auf der Fahrt nach Magdeburg waren zwei Preußen darüber einig, daß die
Lasten zwar schwer seien, aber doch nur deshalb, weil Armee und Flotte auch
für ganz Deutschland gehalten würde,:, das dazu doch keinen Pfennig beisteure.
In Magdeburg, dessen Bahnhof damals am Fürstenwall dicht an der Elbe
lag, war von kriegerischen Vorbereitungen nicht das mindeste zu bemerken;
daß eine Reihe von Batterien eine Straße fuhr, die der Zug passierte, war
nichts außergewöhnliches. So kam ich gegen drei Uhr Nachmittags über
Wolfenbüttel, Lutter am Barenberge und Gandersheim in Göttingen an, wo
ich an der Weender Straße, der Hauptstraße der Stadt, im Hause eines wackern
Backermeisters ein bescheidnes Quartier bezog.

Die Lage Göttingens im breiten, grünen, fruchtbaren Leinetale und im
Ringe anmutiger, zum Teil bewaldeter Höhen machte einen behaglichen und
anheimelnden Eindruck, und vom Abhänge des berühmten Hainberges im Osten
der Stadt präsentierte sie sich stattlich, noch halb mittelalterlich. Denn
ringsum zog sich noch der alte, mit schönen Linden beschattete Wall; die Vor¬
städte waren noch ganz unbedeutend und trugen einen überwiegend ländlichen
Charakter. Auch das Innere der Stadt hatte viel Altertümliches und im
ganzen etwas Kleinstädtisches: meist krumme und schmale Gassen, die Häuser
selten über zwei Stockwerke, das obere Stockwerk nach niederdeutscher Weise
etwas vorkragend und meist aus Fachwerk gebaut, hier und da ein Arm
der Leine, der Verkehr gering außer in manchen Stunden in der Weender
Straße, stattlich der Markt mit dem alten, burgartigen Rathause, darüber die
Türme einiger spätgotischer Kirchen. Einen recht ländlichen Eindruck machte
es, wenn am Vormittage die Herde der Stadt auszog, auch am Sonntage,
"ndem unter den Kirchgängern, und am Nachmittage wieder blökend heim¬
kehrte, wobei natürlich jedes Tier von selbst sein Haus auffand und durch die
Hausflur in seinen Stall lief, unbekümmert um die menschlichen Mitbewohner
des Hauses. Nicht ohne leichten Spott nannten deshalb akademische Kreise
Göttingen das "Universitätsdorf".


Grenzboten IV 190" 38
vor vierzig Jahren

klärte, von Rüstungen merke man bei ihm daheim wenig, außer etwa in Kösel
und in Reiße und in der Einziehung von Reserven für die in Schleswig
stehenden Truppen; aber der Krieg sei unvermeidlich, und den fürchte man auch
in Schlesien gar nicht, viel störender sei das lauge Schwanken zwischen Krieg
und Frieden. Aus Schleswig-Holstein würde Preußen niemals weichen, das
heiße bei ihnen in Schlesien nach Olmütz gehn. Die Haltung des Abgeord¬
netenhauses mißbilligte er scharf, das seien in der letzten Zeit keine Debatten,
sondern nur Personalien gewesen; vor allem sei es ein schwerer Fehler, daß
das Haus in der Schleswig-holsteinischen Frage nicht eine bestimmte Stellung
eingenommen habe. Im anstoßenden Coupe — ich fuhr natürlich dritter
Klasse — verfocht ein ehemaliger sächsischer Unteroffizier gegen seine preußischen
Reisegefährten die Vorzüge der damaligen sächsischen Heeresverfassung, die
mir jetzt entfallen sind, natürlich nicht ohne lebhaften Widerspruch. Weiterhin
auf der Fahrt nach Magdeburg waren zwei Preußen darüber einig, daß die
Lasten zwar schwer seien, aber doch nur deshalb, weil Armee und Flotte auch
für ganz Deutschland gehalten würde,:, das dazu doch keinen Pfennig beisteure.
In Magdeburg, dessen Bahnhof damals am Fürstenwall dicht an der Elbe
lag, war von kriegerischen Vorbereitungen nicht das mindeste zu bemerken;
daß eine Reihe von Batterien eine Straße fuhr, die der Zug passierte, war
nichts außergewöhnliches. So kam ich gegen drei Uhr Nachmittags über
Wolfenbüttel, Lutter am Barenberge und Gandersheim in Göttingen an, wo
ich an der Weender Straße, der Hauptstraße der Stadt, im Hause eines wackern
Backermeisters ein bescheidnes Quartier bezog.

Die Lage Göttingens im breiten, grünen, fruchtbaren Leinetale und im
Ringe anmutiger, zum Teil bewaldeter Höhen machte einen behaglichen und
anheimelnden Eindruck, und vom Abhänge des berühmten Hainberges im Osten
der Stadt präsentierte sie sich stattlich, noch halb mittelalterlich. Denn
ringsum zog sich noch der alte, mit schönen Linden beschattete Wall; die Vor¬
städte waren noch ganz unbedeutend und trugen einen überwiegend ländlichen
Charakter. Auch das Innere der Stadt hatte viel Altertümliches und im
ganzen etwas Kleinstädtisches: meist krumme und schmale Gassen, die Häuser
selten über zwei Stockwerke, das obere Stockwerk nach niederdeutscher Weise
etwas vorkragend und meist aus Fachwerk gebaut, hier und da ein Arm
der Leine, der Verkehr gering außer in manchen Stunden in der Weender
Straße, stattlich der Markt mit dem alten, burgartigen Rathause, darüber die
Türme einiger spätgotischer Kirchen. Einen recht ländlichen Eindruck machte
es, wenn am Vormittage die Herde der Stadt auszog, auch am Sonntage,
»ndem unter den Kirchgängern, und am Nachmittage wieder blökend heim¬
kehrte, wobei natürlich jedes Tier von selbst sein Haus auffand und durch die
Hausflur in seinen Stall lief, unbekümmert um die menschlichen Mitbewohner
des Hauses. Nicht ohne leichten Spott nannten deshalb akademische Kreise
Göttingen das „Universitätsdorf".


Grenzboten IV 190« 38
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[0305] vor vierzig Jahren klärte, von Rüstungen merke man bei ihm daheim wenig, außer etwa in Kösel und in Reiße und in der Einziehung von Reserven für die in Schleswig stehenden Truppen; aber der Krieg sei unvermeidlich, und den fürchte man auch in Schlesien gar nicht, viel störender sei das lauge Schwanken zwischen Krieg und Frieden. Aus Schleswig-Holstein würde Preußen niemals weichen, das heiße bei ihnen in Schlesien nach Olmütz gehn. Die Haltung des Abgeord¬ netenhauses mißbilligte er scharf, das seien in der letzten Zeit keine Debatten, sondern nur Personalien gewesen; vor allem sei es ein schwerer Fehler, daß das Haus in der Schleswig-holsteinischen Frage nicht eine bestimmte Stellung eingenommen habe. Im anstoßenden Coupe — ich fuhr natürlich dritter Klasse — verfocht ein ehemaliger sächsischer Unteroffizier gegen seine preußischen Reisegefährten die Vorzüge der damaligen sächsischen Heeresverfassung, die mir jetzt entfallen sind, natürlich nicht ohne lebhaften Widerspruch. Weiterhin auf der Fahrt nach Magdeburg waren zwei Preußen darüber einig, daß die Lasten zwar schwer seien, aber doch nur deshalb, weil Armee und Flotte auch für ganz Deutschland gehalten würde,:, das dazu doch keinen Pfennig beisteure. In Magdeburg, dessen Bahnhof damals am Fürstenwall dicht an der Elbe lag, war von kriegerischen Vorbereitungen nicht das mindeste zu bemerken; daß eine Reihe von Batterien eine Straße fuhr, die der Zug passierte, war nichts außergewöhnliches. So kam ich gegen drei Uhr Nachmittags über Wolfenbüttel, Lutter am Barenberge und Gandersheim in Göttingen an, wo ich an der Weender Straße, der Hauptstraße der Stadt, im Hause eines wackern Backermeisters ein bescheidnes Quartier bezog. Die Lage Göttingens im breiten, grünen, fruchtbaren Leinetale und im Ringe anmutiger, zum Teil bewaldeter Höhen machte einen behaglichen und anheimelnden Eindruck, und vom Abhänge des berühmten Hainberges im Osten der Stadt präsentierte sie sich stattlich, noch halb mittelalterlich. Denn ringsum zog sich noch der alte, mit schönen Linden beschattete Wall; die Vor¬ städte waren noch ganz unbedeutend und trugen einen überwiegend ländlichen Charakter. Auch das Innere der Stadt hatte viel Altertümliches und im ganzen etwas Kleinstädtisches: meist krumme und schmale Gassen, die Häuser selten über zwei Stockwerke, das obere Stockwerk nach niederdeutscher Weise etwas vorkragend und meist aus Fachwerk gebaut, hier und da ein Arm der Leine, der Verkehr gering außer in manchen Stunden in der Weender Straße, stattlich der Markt mit dem alten, burgartigen Rathause, darüber die Türme einiger spätgotischer Kirchen. Einen recht ländlichen Eindruck machte es, wenn am Vormittage die Herde der Stadt auszog, auch am Sonntage, »ndem unter den Kirchgängern, und am Nachmittage wieder blökend heim¬ kehrte, wobei natürlich jedes Tier von selbst sein Haus auffand und durch die Hausflur in seinen Stall lief, unbekümmert um die menschlichen Mitbewohner des Hauses. Nicht ohne leichten Spott nannten deshalb akademische Kreise Göttingen das „Universitätsdorf". Grenzboten IV 190« 38

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/305>, abgerufen am 23.07.2024.