Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur migcl'lieben Abrüstung

Zu den Selbsttäuschungen der Friedensfreunde gehören auch die Illusionen,
die sie sich über die angeblich durch ihren Einfluß bewirkte Einführung der
Schiedsgerichte machen. Man hat in London wieder förmlich darin geschwelgt.
Und doch liegt die Sache einfach so, daß der Fortschritt der Kultur und die
immer feinere Ausbildung des Rechtsgefühls die Fülle seltner werden läßt, in
denen das Ergreifen der ultima rat-in" zwischen den Völkern nötig wird, sodaß
ein Krieg zwischen zivilisierten Völkern nur um die heiligsten und wichtigsten
Interessen geführt werden wird. Das ist eine so erfreuliche und allgemein an¬
erkannte Tatsache, daß es dazu keiner Friedensgesellschaften und interparla¬
mentarischer Konferenzen bedarf, die in Selbstgefälligkeit gar nicht merken, das;
sie nur offne Türen einstoßen. Die Zahl der abgeschlossenen Schiedsgerichts¬
verträge ist allerdings schon so groß, daß man leichter die Staatenpaare zählen
könnte, zwischen denen noch keine besteh", als die Verträge selbst. Sie stimmen
in ihrem Inhalt fast alle überein und setzen fest, daß Streitfälle, die dem
Hnager Schiedsgericht unterbreitet werden sollen, weder die Lebensinteressen noch
die Unabhängigkeit oder die Ehre der vertragschließenden Staaten noch schließlich
die Interessen Dritter berühren dürfen, anch sollen sie ausschließlich rechtlicher
Natur sein oder die Auslegung bestehender Verträge betreffen. Nur der nieder¬
ländisch-dänische Vertrag geht weiter und umfaßt alle Streitfragen, die zwischen
beiden Staaten entstehn können; er betrifft übrigens zwei kleinere Staaten,
die keine gemeinsamen Grenzen und auch nur fernerliegende Interessenkreise
gemein haben. Größere Mächte, die in engern politischen Beziehungen stehn,
können und werden so weitgehende Verträge nicht abschließen und können über¬
haupt in alleu wichtigern Fragen die Mittel der Diplomatie, zu deren letzten
auch der Krieg gehört, nicht entbehren. Darüber ist man in allen politische!?
Kreisen, ausgenommen die eigentlichen Friedensschwärmer, vollkommen klar. Die
Schiedsvertrüge haben sich aus der immer eindringlicher werdenden Erkenntnis
ergeben, daß es unklug wäre, geistige und auch materielle Hilfsmittel des Staats
für geringfügigere Streitigkeiten zu opfern, die sich auch auf andre Weise lösen
lassen. Die Zeitverhältnisse mahnen dringend dazu, alle Kräfte und Mittel des
Staates für die künftigen großen Entscheidungen, die sich für jeden Einsichtigen
vorbereiten, aufzusparen, aber auch bereit zu halten. Das gilt zwar vor allem
für die Groß- und Weltmächte, aber auch für kleinere Staaten, die noch das
Bestreben haben, etwas zu werden und sich zu erhalten. Die Mehrzahl der
Verträge kommt anch dem zukünftigen Zusammenschluß der Machte des euro¬
päischen Festlandes zugute, dessen Notwendigkeit in immer weitern Kreisen er¬
kannt wird, und der eigentlich nur in den Sonderinteressen Englands und dem
Revanchebedürfnis Frankreichs Gegner hat. Das sind alles große politische
Gedanken, die die Abschließung von Schiedsgerichtsverträgen veranlaßt und ge¬
fördert haben, der Anregung durch die Friedensfrennde und Abrüstler hat es
dazu nicht bedurft. Für unbefangne Leute liegt der Beweis dafür schon in
der Tatsache, daß das Jahr 1904 die meisten Schiedsgerichtsverträge zustande


Zur migcl'lieben Abrüstung

Zu den Selbsttäuschungen der Friedensfreunde gehören auch die Illusionen,
die sie sich über die angeblich durch ihren Einfluß bewirkte Einführung der
Schiedsgerichte machen. Man hat in London wieder förmlich darin geschwelgt.
Und doch liegt die Sache einfach so, daß der Fortschritt der Kultur und die
immer feinere Ausbildung des Rechtsgefühls die Fülle seltner werden läßt, in
denen das Ergreifen der ultima rat-in» zwischen den Völkern nötig wird, sodaß
ein Krieg zwischen zivilisierten Völkern nur um die heiligsten und wichtigsten
Interessen geführt werden wird. Das ist eine so erfreuliche und allgemein an¬
erkannte Tatsache, daß es dazu keiner Friedensgesellschaften und interparla¬
mentarischer Konferenzen bedarf, die in Selbstgefälligkeit gar nicht merken, das;
sie nur offne Türen einstoßen. Die Zahl der abgeschlossenen Schiedsgerichts¬
verträge ist allerdings schon so groß, daß man leichter die Staatenpaare zählen
könnte, zwischen denen noch keine besteh», als die Verträge selbst. Sie stimmen
in ihrem Inhalt fast alle überein und setzen fest, daß Streitfälle, die dem
Hnager Schiedsgericht unterbreitet werden sollen, weder die Lebensinteressen noch
die Unabhängigkeit oder die Ehre der vertragschließenden Staaten noch schließlich
die Interessen Dritter berühren dürfen, anch sollen sie ausschließlich rechtlicher
Natur sein oder die Auslegung bestehender Verträge betreffen. Nur der nieder¬
ländisch-dänische Vertrag geht weiter und umfaßt alle Streitfragen, die zwischen
beiden Staaten entstehn können; er betrifft übrigens zwei kleinere Staaten,
die keine gemeinsamen Grenzen und auch nur fernerliegende Interessenkreise
gemein haben. Größere Mächte, die in engern politischen Beziehungen stehn,
können und werden so weitgehende Verträge nicht abschließen und können über¬
haupt in alleu wichtigern Fragen die Mittel der Diplomatie, zu deren letzten
auch der Krieg gehört, nicht entbehren. Darüber ist man in allen politische!?
Kreisen, ausgenommen die eigentlichen Friedensschwärmer, vollkommen klar. Die
Schiedsvertrüge haben sich aus der immer eindringlicher werdenden Erkenntnis
ergeben, daß es unklug wäre, geistige und auch materielle Hilfsmittel des Staats
für geringfügigere Streitigkeiten zu opfern, die sich auch auf andre Weise lösen
lassen. Die Zeitverhältnisse mahnen dringend dazu, alle Kräfte und Mittel des
Staates für die künftigen großen Entscheidungen, die sich für jeden Einsichtigen
vorbereiten, aufzusparen, aber auch bereit zu halten. Das gilt zwar vor allem
für die Groß- und Weltmächte, aber auch für kleinere Staaten, die noch das
Bestreben haben, etwas zu werden und sich zu erhalten. Die Mehrzahl der
Verträge kommt anch dem zukünftigen Zusammenschluß der Machte des euro¬
päischen Festlandes zugute, dessen Notwendigkeit in immer weitern Kreisen er¬
kannt wird, und der eigentlich nur in den Sonderinteressen Englands und dem
Revanchebedürfnis Frankreichs Gegner hat. Das sind alles große politische
Gedanken, die die Abschließung von Schiedsgerichtsverträgen veranlaßt und ge¬
fördert haben, der Anregung durch die Friedensfrennde und Abrüstler hat es
dazu nicht bedurft. Für unbefangne Leute liegt der Beweis dafür schon in
der Tatsache, daß das Jahr 1904 die meisten Schiedsgerichtsverträge zustande


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0294" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300793"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur migcl'lieben Abrüstung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1232" next="#ID_1233"> Zu den Selbsttäuschungen der Friedensfreunde gehören auch die Illusionen,<lb/>
die sie sich über die angeblich durch ihren Einfluß bewirkte Einführung der<lb/>
Schiedsgerichte machen. Man hat in London wieder förmlich darin geschwelgt.<lb/>
Und doch liegt die Sache einfach so, daß der Fortschritt der Kultur und die<lb/>
immer feinere Ausbildung des Rechtsgefühls die Fülle seltner werden läßt, in<lb/>
denen das Ergreifen der ultima rat-in» zwischen den Völkern nötig wird, sodaß<lb/>
ein Krieg zwischen zivilisierten Völkern nur um die heiligsten und wichtigsten<lb/>
Interessen geführt werden wird. Das ist eine so erfreuliche und allgemein an¬<lb/>
erkannte Tatsache, daß es dazu keiner Friedensgesellschaften und interparla¬<lb/>
mentarischer Konferenzen bedarf, die in Selbstgefälligkeit gar nicht merken, das;<lb/>
sie nur offne Türen einstoßen. Die Zahl der abgeschlossenen Schiedsgerichts¬<lb/>
verträge ist allerdings schon so groß, daß man leichter die Staatenpaare zählen<lb/>
könnte, zwischen denen noch keine besteh», als die Verträge selbst. Sie stimmen<lb/>
in ihrem Inhalt fast alle überein und setzen fest, daß Streitfälle, die dem<lb/>
Hnager Schiedsgericht unterbreitet werden sollen, weder die Lebensinteressen noch<lb/>
die Unabhängigkeit oder die Ehre der vertragschließenden Staaten noch schließlich<lb/>
die Interessen Dritter berühren dürfen, anch sollen sie ausschließlich rechtlicher<lb/>
Natur sein oder die Auslegung bestehender Verträge betreffen. Nur der nieder¬<lb/>
ländisch-dänische Vertrag geht weiter und umfaßt alle Streitfragen, die zwischen<lb/>
beiden Staaten entstehn können; er betrifft übrigens zwei kleinere Staaten,<lb/>
die keine gemeinsamen Grenzen und auch nur fernerliegende Interessenkreise<lb/>
gemein haben. Größere Mächte, die in engern politischen Beziehungen stehn,<lb/>
können und werden so weitgehende Verträge nicht abschließen und können über¬<lb/>
haupt in alleu wichtigern Fragen die Mittel der Diplomatie, zu deren letzten<lb/>
auch der Krieg gehört, nicht entbehren. Darüber ist man in allen politische!?<lb/>
Kreisen, ausgenommen die eigentlichen Friedensschwärmer, vollkommen klar. Die<lb/>
Schiedsvertrüge haben sich aus der immer eindringlicher werdenden Erkenntnis<lb/>
ergeben, daß es unklug wäre, geistige und auch materielle Hilfsmittel des Staats<lb/>
für geringfügigere Streitigkeiten zu opfern, die sich auch auf andre Weise lösen<lb/>
lassen. Die Zeitverhältnisse mahnen dringend dazu, alle Kräfte und Mittel des<lb/>
Staates für die künftigen großen Entscheidungen, die sich für jeden Einsichtigen<lb/>
vorbereiten, aufzusparen, aber auch bereit zu halten. Das gilt zwar vor allem<lb/>
für die Groß- und Weltmächte, aber auch für kleinere Staaten, die noch das<lb/>
Bestreben haben, etwas zu werden und sich zu erhalten. Die Mehrzahl der<lb/>
Verträge kommt anch dem zukünftigen Zusammenschluß der Machte des euro¬<lb/>
päischen Festlandes zugute, dessen Notwendigkeit in immer weitern Kreisen er¬<lb/>
kannt wird, und der eigentlich nur in den Sonderinteressen Englands und dem<lb/>
Revanchebedürfnis Frankreichs Gegner hat. Das sind alles große politische<lb/>
Gedanken, die die Abschließung von Schiedsgerichtsverträgen veranlaßt und ge¬<lb/>
fördert haben, der Anregung durch die Friedensfrennde und Abrüstler hat es<lb/>
dazu nicht bedurft. Für unbefangne Leute liegt der Beweis dafür schon in<lb/>
der Tatsache, daß das Jahr 1904 die meisten Schiedsgerichtsverträge zustande</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0294] Zur migcl'lieben Abrüstung Zu den Selbsttäuschungen der Friedensfreunde gehören auch die Illusionen, die sie sich über die angeblich durch ihren Einfluß bewirkte Einführung der Schiedsgerichte machen. Man hat in London wieder förmlich darin geschwelgt. Und doch liegt die Sache einfach so, daß der Fortschritt der Kultur und die immer feinere Ausbildung des Rechtsgefühls die Fülle seltner werden läßt, in denen das Ergreifen der ultima rat-in» zwischen den Völkern nötig wird, sodaß ein Krieg zwischen zivilisierten Völkern nur um die heiligsten und wichtigsten Interessen geführt werden wird. Das ist eine so erfreuliche und allgemein an¬ erkannte Tatsache, daß es dazu keiner Friedensgesellschaften und interparla¬ mentarischer Konferenzen bedarf, die in Selbstgefälligkeit gar nicht merken, das; sie nur offne Türen einstoßen. Die Zahl der abgeschlossenen Schiedsgerichts¬ verträge ist allerdings schon so groß, daß man leichter die Staatenpaare zählen könnte, zwischen denen noch keine besteh», als die Verträge selbst. Sie stimmen in ihrem Inhalt fast alle überein und setzen fest, daß Streitfälle, die dem Hnager Schiedsgericht unterbreitet werden sollen, weder die Lebensinteressen noch die Unabhängigkeit oder die Ehre der vertragschließenden Staaten noch schließlich die Interessen Dritter berühren dürfen, anch sollen sie ausschließlich rechtlicher Natur sein oder die Auslegung bestehender Verträge betreffen. Nur der nieder¬ ländisch-dänische Vertrag geht weiter und umfaßt alle Streitfragen, die zwischen beiden Staaten entstehn können; er betrifft übrigens zwei kleinere Staaten, die keine gemeinsamen Grenzen und auch nur fernerliegende Interessenkreise gemein haben. Größere Mächte, die in engern politischen Beziehungen stehn, können und werden so weitgehende Verträge nicht abschließen und können über¬ haupt in alleu wichtigern Fragen die Mittel der Diplomatie, zu deren letzten auch der Krieg gehört, nicht entbehren. Darüber ist man in allen politische!? Kreisen, ausgenommen die eigentlichen Friedensschwärmer, vollkommen klar. Die Schiedsvertrüge haben sich aus der immer eindringlicher werdenden Erkenntnis ergeben, daß es unklug wäre, geistige und auch materielle Hilfsmittel des Staats für geringfügigere Streitigkeiten zu opfern, die sich auch auf andre Weise lösen lassen. Die Zeitverhältnisse mahnen dringend dazu, alle Kräfte und Mittel des Staates für die künftigen großen Entscheidungen, die sich für jeden Einsichtigen vorbereiten, aufzusparen, aber auch bereit zu halten. Das gilt zwar vor allem für die Groß- und Weltmächte, aber auch für kleinere Staaten, die noch das Bestreben haben, etwas zu werden und sich zu erhalten. Die Mehrzahl der Verträge kommt anch dem zukünftigen Zusammenschluß der Machte des euro¬ päischen Festlandes zugute, dessen Notwendigkeit in immer weitern Kreisen er¬ kannt wird, und der eigentlich nur in den Sonderinteressen Englands und dem Revanchebedürfnis Frankreichs Gegner hat. Das sind alles große politische Gedanken, die die Abschließung von Schiedsgerichtsverträgen veranlaßt und ge¬ fördert haben, der Anregung durch die Friedensfrennde und Abrüstler hat es dazu nicht bedurft. Für unbefangne Leute liegt der Beweis dafür schon in der Tatsache, daß das Jahr 1904 die meisten Schiedsgerichtsverträge zustande

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/294
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/294>, abgerufen am 23.07.2024.