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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Zur angeblichen Abrüstung

Wie stellt er sich denn vor, daß die Herabsetzung der Heeresausgabcn auf
die Hälfte in allen Staaten das jetzt bestehende Kräfteverhältnis wirklich un-
geändert lassen würde? Ganz abgesehen davon, daß ohne Aufhebung der all¬
gemeinen Wehrpflicht in den meisten europäischen Staaten diese Halbierung des
Budgets gar nicht durchzuführen wäre, stellt sich doch auch die Frage el":
Können Staaten mit hauptsächlich überseeischen Interessen, wie zum Beispiel
England, darauf überhaupt eingehn? Über die Landarmeen Deutschlands,
Frankreichs, Österreich-Ungarns, Italiens und Rußlands wäre vielleicht ein Ab¬
kommen im Sinne Jules Simons noch denkbar; aber die Seeinteressen sind
mit einem ganz andern Maßstabe zu messen, und blieben sie von dem Abkommen
ausgeschlossen, so wäre schon damit einer ehrgeizigen Macht die Möglichkeit ge¬
geben, ihre Streitkräfte zur See sehr zum Nachteil eines Nachbarn zu Lande
zu vermehren. Man denke sich nur einmal das heutige Verhältnis zwischen
Deutschland und Frankreich in diesem Sinne ans. Einer Halbierung des
Heeresbudgets würde außerdem keineswegs die Halbierung der Kriegsstärke der
einzelnen Staaten gewissermaßen automatisch folgen, sondern es würde bei der
Reduktion der Armeen mehr auf den Sinn und die Tragweite der neuen
Organisation und auf die Mobilisierungsvorbereitungcn ankommen, die doch
zum großen Teil geheim bleiben müssen. Was hat es Napoleon dem Ersten
genützt, daß Preußen von 1807 bis 1813 nur 42000 Mann halten durfte?
Mit Hilfe des von den Franzosen nicht beachteten Krümpersystems und der
alten Reserven stand doch, als der König rief, die dreifache Trnppenmacht auf
den Beinen. Was damals möglich war, würde sich, natürlich unter andern
Verhältnissen und mit tieferen Geheimnis, doch auch nach der Herabsetzung des
Kriegsbudgets durchführen lassen. Es ist also zunächst durchaus nicht "kindlich",
wenn an der "gewissenhaften Pflichterfüllung der Einzelnen" gezweifelt wird.

Jules Simon hat damals einem AusHorcher noch erzählt, er habe vor
einiger Zeit über einen Artikel mit dem oben angedeuteten Inhalt eine per¬
sönliche Antwort des Fürsten Bismarck erhalten. Dieser (damals noch Reichs¬
kanzler) habe die Tendenz des Artikels nicht bekämpft, aber behauptet, Jules
Simon "würde es niemals wagen, einer französischen Versammlung den end¬
gültigen Verzicht auf Elsaß-Lothringen vorzuschlagen". Während der fran¬
zösische Politiker diese Aufforderung "uicht am Platze" erklärte, ist es be¬
zeichnend für Bismarck, daß er ganz offen mit dem Daumen auf den Punkt
drückte, der eine ehrliche Abrüstung in Europa heutzutage einfach unmöglich
macht. Solange bei den Franzosen die Sehnsucht besteht, unter allen Um¬
ständen die Reichslande wiederzugewinnen, ist ans ihrer Seite an eine ehrliche
Ausführung einer etwaigen Abrüstung nicht zu denken, sie würden im Gegen¬
teil nur darauf sinnen, wie die mit der Abrüstung verbundne Verminderung
der deutschen Heereskraft der Verwirklichung der Revanche zugute kommen könnte.
Die Politik Delcasscs hat doch erst neuerdings wieder bewiesen, daß Frankreich
nur daran denkt und selbst jede Unbeliebtheit Deutschlands ausnützt, um dieses


Zur angeblichen Abrüstung

Wie stellt er sich denn vor, daß die Herabsetzung der Heeresausgabcn auf
die Hälfte in allen Staaten das jetzt bestehende Kräfteverhältnis wirklich un-
geändert lassen würde? Ganz abgesehen davon, daß ohne Aufhebung der all¬
gemeinen Wehrpflicht in den meisten europäischen Staaten diese Halbierung des
Budgets gar nicht durchzuführen wäre, stellt sich doch auch die Frage el«:
Können Staaten mit hauptsächlich überseeischen Interessen, wie zum Beispiel
England, darauf überhaupt eingehn? Über die Landarmeen Deutschlands,
Frankreichs, Österreich-Ungarns, Italiens und Rußlands wäre vielleicht ein Ab¬
kommen im Sinne Jules Simons noch denkbar; aber die Seeinteressen sind
mit einem ganz andern Maßstabe zu messen, und blieben sie von dem Abkommen
ausgeschlossen, so wäre schon damit einer ehrgeizigen Macht die Möglichkeit ge¬
geben, ihre Streitkräfte zur See sehr zum Nachteil eines Nachbarn zu Lande
zu vermehren. Man denke sich nur einmal das heutige Verhältnis zwischen
Deutschland und Frankreich in diesem Sinne ans. Einer Halbierung des
Heeresbudgets würde außerdem keineswegs die Halbierung der Kriegsstärke der
einzelnen Staaten gewissermaßen automatisch folgen, sondern es würde bei der
Reduktion der Armeen mehr auf den Sinn und die Tragweite der neuen
Organisation und auf die Mobilisierungsvorbereitungcn ankommen, die doch
zum großen Teil geheim bleiben müssen. Was hat es Napoleon dem Ersten
genützt, daß Preußen von 1807 bis 1813 nur 42000 Mann halten durfte?
Mit Hilfe des von den Franzosen nicht beachteten Krümpersystems und der
alten Reserven stand doch, als der König rief, die dreifache Trnppenmacht auf
den Beinen. Was damals möglich war, würde sich, natürlich unter andern
Verhältnissen und mit tieferen Geheimnis, doch auch nach der Herabsetzung des
Kriegsbudgets durchführen lassen. Es ist also zunächst durchaus nicht „kindlich",
wenn an der „gewissenhaften Pflichterfüllung der Einzelnen" gezweifelt wird.

Jules Simon hat damals einem AusHorcher noch erzählt, er habe vor
einiger Zeit über einen Artikel mit dem oben angedeuteten Inhalt eine per¬
sönliche Antwort des Fürsten Bismarck erhalten. Dieser (damals noch Reichs¬
kanzler) habe die Tendenz des Artikels nicht bekämpft, aber behauptet, Jules
Simon „würde es niemals wagen, einer französischen Versammlung den end¬
gültigen Verzicht auf Elsaß-Lothringen vorzuschlagen". Während der fran¬
zösische Politiker diese Aufforderung „uicht am Platze" erklärte, ist es be¬
zeichnend für Bismarck, daß er ganz offen mit dem Daumen auf den Punkt
drückte, der eine ehrliche Abrüstung in Europa heutzutage einfach unmöglich
macht. Solange bei den Franzosen die Sehnsucht besteht, unter allen Um¬
ständen die Reichslande wiederzugewinnen, ist ans ihrer Seite an eine ehrliche
Ausführung einer etwaigen Abrüstung nicht zu denken, sie würden im Gegen¬
teil nur darauf sinnen, wie die mit der Abrüstung verbundne Verminderung
der deutschen Heereskraft der Verwirklichung der Revanche zugute kommen könnte.
Die Politik Delcasscs hat doch erst neuerdings wieder bewiesen, daß Frankreich
nur daran denkt und selbst jede Unbeliebtheit Deutschlands ausnützt, um dieses


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[0291] Zur angeblichen Abrüstung Wie stellt er sich denn vor, daß die Herabsetzung der Heeresausgabcn auf die Hälfte in allen Staaten das jetzt bestehende Kräfteverhältnis wirklich un- geändert lassen würde? Ganz abgesehen davon, daß ohne Aufhebung der all¬ gemeinen Wehrpflicht in den meisten europäischen Staaten diese Halbierung des Budgets gar nicht durchzuführen wäre, stellt sich doch auch die Frage el«: Können Staaten mit hauptsächlich überseeischen Interessen, wie zum Beispiel England, darauf überhaupt eingehn? Über die Landarmeen Deutschlands, Frankreichs, Österreich-Ungarns, Italiens und Rußlands wäre vielleicht ein Ab¬ kommen im Sinne Jules Simons noch denkbar; aber die Seeinteressen sind mit einem ganz andern Maßstabe zu messen, und blieben sie von dem Abkommen ausgeschlossen, so wäre schon damit einer ehrgeizigen Macht die Möglichkeit ge¬ geben, ihre Streitkräfte zur See sehr zum Nachteil eines Nachbarn zu Lande zu vermehren. Man denke sich nur einmal das heutige Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich in diesem Sinne ans. Einer Halbierung des Heeresbudgets würde außerdem keineswegs die Halbierung der Kriegsstärke der einzelnen Staaten gewissermaßen automatisch folgen, sondern es würde bei der Reduktion der Armeen mehr auf den Sinn und die Tragweite der neuen Organisation und auf die Mobilisierungsvorbereitungcn ankommen, die doch zum großen Teil geheim bleiben müssen. Was hat es Napoleon dem Ersten genützt, daß Preußen von 1807 bis 1813 nur 42000 Mann halten durfte? Mit Hilfe des von den Franzosen nicht beachteten Krümpersystems und der alten Reserven stand doch, als der König rief, die dreifache Trnppenmacht auf den Beinen. Was damals möglich war, würde sich, natürlich unter andern Verhältnissen und mit tieferen Geheimnis, doch auch nach der Herabsetzung des Kriegsbudgets durchführen lassen. Es ist also zunächst durchaus nicht „kindlich", wenn an der „gewissenhaften Pflichterfüllung der Einzelnen" gezweifelt wird. Jules Simon hat damals einem AusHorcher noch erzählt, er habe vor einiger Zeit über einen Artikel mit dem oben angedeuteten Inhalt eine per¬ sönliche Antwort des Fürsten Bismarck erhalten. Dieser (damals noch Reichs¬ kanzler) habe die Tendenz des Artikels nicht bekämpft, aber behauptet, Jules Simon „würde es niemals wagen, einer französischen Versammlung den end¬ gültigen Verzicht auf Elsaß-Lothringen vorzuschlagen". Während der fran¬ zösische Politiker diese Aufforderung „uicht am Platze" erklärte, ist es be¬ zeichnend für Bismarck, daß er ganz offen mit dem Daumen auf den Punkt drückte, der eine ehrliche Abrüstung in Europa heutzutage einfach unmöglich macht. Solange bei den Franzosen die Sehnsucht besteht, unter allen Um¬ ständen die Reichslande wiederzugewinnen, ist ans ihrer Seite an eine ehrliche Ausführung einer etwaigen Abrüstung nicht zu denken, sie würden im Gegen¬ teil nur darauf sinnen, wie die mit der Abrüstung verbundne Verminderung der deutschen Heereskraft der Verwirklichung der Revanche zugute kommen könnte. Die Politik Delcasscs hat doch erst neuerdings wieder bewiesen, daß Frankreich nur daran denkt und selbst jede Unbeliebtheit Deutschlands ausnützt, um dieses

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/291>, abgerufen am 23.07.2024.