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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Die Bernstorffs

einflussen die politischen Verhältnisse in ihrem ganzen Umfang; das Leben in
den Bernstorffschen Kreisen enthält die Kulturelemente, die für die Wechsel¬
wirkung zwischen den beiden Völkern von Bedeutung sind; die männlichen wie
die weiblichen Mitglieder der Familie sind sowohl in ihren Vorzügen als
in den ihnen anhaftenden Mängeln typische Erscheinungen; in ihrer geistigen
Entwicklung und ihrem täglichen Leben spiegelt sich die ganze Periode wider."

Der erste aus dem alten Geschlecht der Herren von Bernstorff. der sich
zu hoher Stellung und großem Besitz emporarbeitete, war Andreas Gottlieb
(1649 bis 1726), der seit 1677 als Geheimrat die Politik der braunschweigischen
Lande Lüneburg-Celle bestimmte, dann die Vereinigung dieses Landes mit dem
1692 zum Kurstaat erhobnen Hannover betrieb und endlich dem Kurfürsten
Georg Ludwig von Hannover die Krone von Großbritannien erwerben half.
In Anerkennung seiner gegen Ludwig den Vierzehnten, den Protektor der
Stuarts, siegreichen Politik erhob ihn Kaiser Karl der Sechste in den Reichs-
freiherrnstand. Später schwand sein Einfluß auf seinen königlichen Herrn vor
dem mächtigern Parteitreiben in England, und er starb am 6. Juli 1726 in
der Stille des Privatlebens auf seinem Schlosse Gartow (an der Elbe, nahe bei
der brandenburgischen Grenze), das er an Stelle der alten, von den Bülows
erkauften Burg Gartow 1705 bis 1710 erbaut hatte. Er hinterließ seinen
Nachkommen einen großen, wohlgeordneten Besitz -- die drei Fideikommisse
Gartow, Wedendorf (Mecklenburg), Wotersen --, eine reiche Welt- und staats-
münnische Erfahrung und in einem ausführlichen, von Klugheit und Sittlichkeit
diktierten Familienstatut den Antrieb, ihm nachzustreben. Trotzdem tritt die
nächste Generation (Joachim Engelcke 1678 bis 1737 und Charlotte Sophie)
eigentlich nur als Fortpflanzer des Geschlechts und Bewahrer der Güter hervor.
Um so bedeutender waren die noch unter den Augen des Großvaters auf-
gewachsnen Enkel, besonders der jüngere, der 1712 geborne Johann Hartwig
Ernst von Bernstorff.

Erst durch häuslichen Unterricht, dann durch zweijähriges Studium auf
der Universität Tübingen gebildet unternahm er mit seinem ältern Bruder
Andreas Gottlieb die übliche "Kavalierstour" über Straßburg, Genf nach Turin.
Hier lernte er unter dem straffen Regiment des Königs Viktor Amadeus des
Zweiten zuerst einen streng monarchisch organisierten Einheitsstaat kennen.
Dann ging die Reise nach Florenz, Rom, Neapel, Venedig. Wien, Regensburg
und über Luneville nach Paris (März 1731). Hier ging es ihm wie später
dem jungen Goethe in Leipzig: unter dem überwältigenden Eindrucke neu¬
modischer Pracht wird die altfränkische Garderobe abgetan, und aus der Häutung
steigt der Pariser Elegant hervor, der im tressenbesetzten Rocke aus Drap
d'Andylli. in der silbergestickten rosaseidnen Weste, in roten Strümpfen, mit
Silberdegen und goldknöpfigen, bänderbehangnem Stocke gar zierlich einher¬
stolziert. Doch den streng protestantischen deutschen Edelmann erschreckt
das verführerische, unsittliche Treiben, das sich hinter den feinen Formen


Die Bernstorffs

einflussen die politischen Verhältnisse in ihrem ganzen Umfang; das Leben in
den Bernstorffschen Kreisen enthält die Kulturelemente, die für die Wechsel¬
wirkung zwischen den beiden Völkern von Bedeutung sind; die männlichen wie
die weiblichen Mitglieder der Familie sind sowohl in ihren Vorzügen als
in den ihnen anhaftenden Mängeln typische Erscheinungen; in ihrer geistigen
Entwicklung und ihrem täglichen Leben spiegelt sich die ganze Periode wider."

Der erste aus dem alten Geschlecht der Herren von Bernstorff. der sich
zu hoher Stellung und großem Besitz emporarbeitete, war Andreas Gottlieb
(1649 bis 1726), der seit 1677 als Geheimrat die Politik der braunschweigischen
Lande Lüneburg-Celle bestimmte, dann die Vereinigung dieses Landes mit dem
1692 zum Kurstaat erhobnen Hannover betrieb und endlich dem Kurfürsten
Georg Ludwig von Hannover die Krone von Großbritannien erwerben half.
In Anerkennung seiner gegen Ludwig den Vierzehnten, den Protektor der
Stuarts, siegreichen Politik erhob ihn Kaiser Karl der Sechste in den Reichs-
freiherrnstand. Später schwand sein Einfluß auf seinen königlichen Herrn vor
dem mächtigern Parteitreiben in England, und er starb am 6. Juli 1726 in
der Stille des Privatlebens auf seinem Schlosse Gartow (an der Elbe, nahe bei
der brandenburgischen Grenze), das er an Stelle der alten, von den Bülows
erkauften Burg Gartow 1705 bis 1710 erbaut hatte. Er hinterließ seinen
Nachkommen einen großen, wohlgeordneten Besitz — die drei Fideikommisse
Gartow, Wedendorf (Mecklenburg), Wotersen —, eine reiche Welt- und staats-
münnische Erfahrung und in einem ausführlichen, von Klugheit und Sittlichkeit
diktierten Familienstatut den Antrieb, ihm nachzustreben. Trotzdem tritt die
nächste Generation (Joachim Engelcke 1678 bis 1737 und Charlotte Sophie)
eigentlich nur als Fortpflanzer des Geschlechts und Bewahrer der Güter hervor.
Um so bedeutender waren die noch unter den Augen des Großvaters auf-
gewachsnen Enkel, besonders der jüngere, der 1712 geborne Johann Hartwig
Ernst von Bernstorff.

Erst durch häuslichen Unterricht, dann durch zweijähriges Studium auf
der Universität Tübingen gebildet unternahm er mit seinem ältern Bruder
Andreas Gottlieb die übliche „Kavalierstour" über Straßburg, Genf nach Turin.
Hier lernte er unter dem straffen Regiment des Königs Viktor Amadeus des
Zweiten zuerst einen streng monarchisch organisierten Einheitsstaat kennen.
Dann ging die Reise nach Florenz, Rom, Neapel, Venedig. Wien, Regensburg
und über Luneville nach Paris (März 1731). Hier ging es ihm wie später
dem jungen Goethe in Leipzig: unter dem überwältigenden Eindrucke neu¬
modischer Pracht wird die altfränkische Garderobe abgetan, und aus der Häutung
steigt der Pariser Elegant hervor, der im tressenbesetzten Rocke aus Drap
d'Andylli. in der silbergestickten rosaseidnen Weste, in roten Strümpfen, mit
Silberdegen und goldknöpfigen, bänderbehangnem Stocke gar zierlich einher¬
stolziert. Doch den streng protestantischen deutschen Edelmann erschreckt
das verführerische, unsittliche Treiben, das sich hinter den feinen Formen


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[0251] Die Bernstorffs einflussen die politischen Verhältnisse in ihrem ganzen Umfang; das Leben in den Bernstorffschen Kreisen enthält die Kulturelemente, die für die Wechsel¬ wirkung zwischen den beiden Völkern von Bedeutung sind; die männlichen wie die weiblichen Mitglieder der Familie sind sowohl in ihren Vorzügen als in den ihnen anhaftenden Mängeln typische Erscheinungen; in ihrer geistigen Entwicklung und ihrem täglichen Leben spiegelt sich die ganze Periode wider." Der erste aus dem alten Geschlecht der Herren von Bernstorff. der sich zu hoher Stellung und großem Besitz emporarbeitete, war Andreas Gottlieb (1649 bis 1726), der seit 1677 als Geheimrat die Politik der braunschweigischen Lande Lüneburg-Celle bestimmte, dann die Vereinigung dieses Landes mit dem 1692 zum Kurstaat erhobnen Hannover betrieb und endlich dem Kurfürsten Georg Ludwig von Hannover die Krone von Großbritannien erwerben half. In Anerkennung seiner gegen Ludwig den Vierzehnten, den Protektor der Stuarts, siegreichen Politik erhob ihn Kaiser Karl der Sechste in den Reichs- freiherrnstand. Später schwand sein Einfluß auf seinen königlichen Herrn vor dem mächtigern Parteitreiben in England, und er starb am 6. Juli 1726 in der Stille des Privatlebens auf seinem Schlosse Gartow (an der Elbe, nahe bei der brandenburgischen Grenze), das er an Stelle der alten, von den Bülows erkauften Burg Gartow 1705 bis 1710 erbaut hatte. Er hinterließ seinen Nachkommen einen großen, wohlgeordneten Besitz — die drei Fideikommisse Gartow, Wedendorf (Mecklenburg), Wotersen —, eine reiche Welt- und staats- münnische Erfahrung und in einem ausführlichen, von Klugheit und Sittlichkeit diktierten Familienstatut den Antrieb, ihm nachzustreben. Trotzdem tritt die nächste Generation (Joachim Engelcke 1678 bis 1737 und Charlotte Sophie) eigentlich nur als Fortpflanzer des Geschlechts und Bewahrer der Güter hervor. Um so bedeutender waren die noch unter den Augen des Großvaters auf- gewachsnen Enkel, besonders der jüngere, der 1712 geborne Johann Hartwig Ernst von Bernstorff. Erst durch häuslichen Unterricht, dann durch zweijähriges Studium auf der Universität Tübingen gebildet unternahm er mit seinem ältern Bruder Andreas Gottlieb die übliche „Kavalierstour" über Straßburg, Genf nach Turin. Hier lernte er unter dem straffen Regiment des Königs Viktor Amadeus des Zweiten zuerst einen streng monarchisch organisierten Einheitsstaat kennen. Dann ging die Reise nach Florenz, Rom, Neapel, Venedig. Wien, Regensburg und über Luneville nach Paris (März 1731). Hier ging es ihm wie später dem jungen Goethe in Leipzig: unter dem überwältigenden Eindrucke neu¬ modischer Pracht wird die altfränkische Garderobe abgetan, und aus der Häutung steigt der Pariser Elegant hervor, der im tressenbesetzten Rocke aus Drap d'Andylli. in der silbergestickten rosaseidnen Weste, in roten Strümpfen, mit Silberdegen und goldknöpfigen, bänderbehangnem Stocke gar zierlich einher¬ stolziert. Doch den streng protestantischen deutschen Edelmann erschreckt das verführerische, unsittliche Treiben, das sich hinter den feinen Formen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/251>, abgerufen am 23.07.2024.