Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
vierzig Jahre deutscher Parlamentarismus

Versammlungsreden das "Recht" der immunen Abgeordneten nahezu der Un¬
fehlbarkeit gleichgesetzt, von ihren Pflichten ist kaum andeutungsweise die Rede,
und meist auch nur. wenn einem Abgeordneten der Gegenpartei eins ausgewischt
werden soll. Wäre es denn überhaupt möglich gewesen, daß das Schwänzen
im Reichstag in so betrübender Weise eingerissen wäre, wenn die Presse ihres
Amtes gewaltet und die Pflichtverletzung vor der Öffentlichkeit mit der ge¬
bührenden Schärfe gegeißelt hätte?

Die Parlamente sind ihren Traditionen untreu geworden, sie haben ihre
Aufgabe und ihre Pflicht aus den Augen verloren. Der "Münnerstolz vor
Königsthronen" hat den Abgeordneten die Unabhängigkeit geraubt, sie haben
keinen freien Willen mehr, seitdem sie sich abhängig nach unten gemacht haben.
Mit modernen und häufig sehr liberal klingenden Worten im Munde haben
sie sich in den Dienst des politischen und des wirtschaftlichen Rückschritts
gestellt; sie haben, statt die Gegensätze in der Bevölkerung zu mildern, diese
im Interesse der Partei noch verschärft; um eine augenblickliche Volkstümlich¬
keit zu erwerben und gewählt zu werden, hat man Versprechungen gegeben,
die man gar nicht halten kann, man hat in der Sucht nach Popularität die
Freiheit des Parlamentariers, damit die Höhe des Parlaments und zugleich
auch die Interessen des Staats, damit aber schließlich auch die der Bevölkerung
preisgegeben. Man sehe sich doch einmal die 397 Abgeordneten des deutschen
Reichstags darauf an, wie weit sie wirklich nach dem klaren Wortlaut des
Artikels 29 der Reichsverfassung "Vertreter des gesamten Volkes und an Auf¬
träge und Instruktionen nicht gebunden" sind. Ohnehin schon unter dem Bann
der Partei stehend, der nicht leicht und kaum ohne unangenehme Folgen ver¬
lassen werden kann, sind sie fast alle noch schwer beladen mit Versprechungen
und Resolutionen, die bei einer andern Handhabung desselben Wahl- und
Agitationsapparats in den meisten Fällen ganz anders, sogar gegenteilig, hätten
lauten können, nun aber als "öffentliche Meinung" und "Wille des Volkes"
ausgegeben werden. Und diesem künstlich zubereiteten "Volkswillen" zuliebe
werden dann die Agitationsreden "zum Fenster hinaus" gehalten, die jeden
nicht zu dem "Parteiklüngel" gehörenden Abgeordneten zum Hause hinaus¬
treiben. Diese beklagenswerten, einer wahren Volksvertretung geradezu un¬
würdigen Zustände sind schon so oft -- auch in den Grenzboten -- geschildert
worden, daß jedes weitere Eingehen darauf hier überflüssig ist. Dieses Zerr¬
bild einer beratenden Versammlung und die "wahrheitsgetreue" Bericht¬
erstattung darüber in den Parteiblättern haben das, was Deutschland von
seinem Reichstag erwarten mußte, in das absolute Gegenteil verkehrt.

Unter diesen Umständen darf man bezweifeln, ob die in die Länge ge¬
zognen, nur auf Wahlpolitik zielenden Debatten selbst bei beschlußfähigem Hause
auch nur um eine Stunde kürzer ausfallen werden. Dem erwähnten demagogischen
Zuge frommt, opfert man Reichstagssitzungen in großer Zahl, und eigentlich
alle Parteien, die einen mehr, die andern weniger, haben sich mitschuldig daran


vierzig Jahre deutscher Parlamentarismus

Versammlungsreden das „Recht" der immunen Abgeordneten nahezu der Un¬
fehlbarkeit gleichgesetzt, von ihren Pflichten ist kaum andeutungsweise die Rede,
und meist auch nur. wenn einem Abgeordneten der Gegenpartei eins ausgewischt
werden soll. Wäre es denn überhaupt möglich gewesen, daß das Schwänzen
im Reichstag in so betrübender Weise eingerissen wäre, wenn die Presse ihres
Amtes gewaltet und die Pflichtverletzung vor der Öffentlichkeit mit der ge¬
bührenden Schärfe gegeißelt hätte?

Die Parlamente sind ihren Traditionen untreu geworden, sie haben ihre
Aufgabe und ihre Pflicht aus den Augen verloren. Der „Münnerstolz vor
Königsthronen" hat den Abgeordneten die Unabhängigkeit geraubt, sie haben
keinen freien Willen mehr, seitdem sie sich abhängig nach unten gemacht haben.
Mit modernen und häufig sehr liberal klingenden Worten im Munde haben
sie sich in den Dienst des politischen und des wirtschaftlichen Rückschritts
gestellt; sie haben, statt die Gegensätze in der Bevölkerung zu mildern, diese
im Interesse der Partei noch verschärft; um eine augenblickliche Volkstümlich¬
keit zu erwerben und gewählt zu werden, hat man Versprechungen gegeben,
die man gar nicht halten kann, man hat in der Sucht nach Popularität die
Freiheit des Parlamentariers, damit die Höhe des Parlaments und zugleich
auch die Interessen des Staats, damit aber schließlich auch die der Bevölkerung
preisgegeben. Man sehe sich doch einmal die 397 Abgeordneten des deutschen
Reichstags darauf an, wie weit sie wirklich nach dem klaren Wortlaut des
Artikels 29 der Reichsverfassung „Vertreter des gesamten Volkes und an Auf¬
träge und Instruktionen nicht gebunden" sind. Ohnehin schon unter dem Bann
der Partei stehend, der nicht leicht und kaum ohne unangenehme Folgen ver¬
lassen werden kann, sind sie fast alle noch schwer beladen mit Versprechungen
und Resolutionen, die bei einer andern Handhabung desselben Wahl- und
Agitationsapparats in den meisten Fällen ganz anders, sogar gegenteilig, hätten
lauten können, nun aber als „öffentliche Meinung" und „Wille des Volkes"
ausgegeben werden. Und diesem künstlich zubereiteten „Volkswillen" zuliebe
werden dann die Agitationsreden „zum Fenster hinaus" gehalten, die jeden
nicht zu dem „Parteiklüngel" gehörenden Abgeordneten zum Hause hinaus¬
treiben. Diese beklagenswerten, einer wahren Volksvertretung geradezu un¬
würdigen Zustände sind schon so oft — auch in den Grenzboten — geschildert
worden, daß jedes weitere Eingehen darauf hier überflüssig ist. Dieses Zerr¬
bild einer beratenden Versammlung und die „wahrheitsgetreue" Bericht¬
erstattung darüber in den Parteiblättern haben das, was Deutschland von
seinem Reichstag erwarten mußte, in das absolute Gegenteil verkehrt.

Unter diesen Umständen darf man bezweifeln, ob die in die Länge ge¬
zognen, nur auf Wahlpolitik zielenden Debatten selbst bei beschlußfähigem Hause
auch nur um eine Stunde kürzer ausfallen werden. Dem erwähnten demagogischen
Zuge frommt, opfert man Reichstagssitzungen in großer Zahl, und eigentlich
alle Parteien, die einen mehr, die andern weniger, haben sich mitschuldig daran


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0245" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300744"/>
          <fw type="header" place="top"> vierzig Jahre deutscher Parlamentarismus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_998" prev="#ID_997"> Versammlungsreden das &#x201E;Recht" der immunen Abgeordneten nahezu der Un¬<lb/>
fehlbarkeit gleichgesetzt, von ihren Pflichten ist kaum andeutungsweise die Rede,<lb/>
und meist auch nur. wenn einem Abgeordneten der Gegenpartei eins ausgewischt<lb/>
werden soll. Wäre es denn überhaupt möglich gewesen, daß das Schwänzen<lb/>
im Reichstag in so betrübender Weise eingerissen wäre, wenn die Presse ihres<lb/>
Amtes gewaltet und die Pflichtverletzung vor der Öffentlichkeit mit der ge¬<lb/>
bührenden Schärfe gegeißelt hätte?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_999"> Die Parlamente sind ihren Traditionen untreu geworden, sie haben ihre<lb/>
Aufgabe und ihre Pflicht aus den Augen verloren. Der &#x201E;Münnerstolz vor<lb/>
Königsthronen" hat den Abgeordneten die Unabhängigkeit geraubt, sie haben<lb/>
keinen freien Willen mehr, seitdem sie sich abhängig nach unten gemacht haben.<lb/>
Mit modernen und häufig sehr liberal klingenden Worten im Munde haben<lb/>
sie sich in den Dienst des politischen und des wirtschaftlichen Rückschritts<lb/>
gestellt; sie haben, statt die Gegensätze in der Bevölkerung zu mildern, diese<lb/>
im Interesse der Partei noch verschärft; um eine augenblickliche Volkstümlich¬<lb/>
keit zu erwerben und gewählt zu werden, hat man Versprechungen gegeben,<lb/>
die man gar nicht halten kann, man hat in der Sucht nach Popularität die<lb/>
Freiheit des Parlamentariers, damit die Höhe des Parlaments und zugleich<lb/>
auch die Interessen des Staats, damit aber schließlich auch die der Bevölkerung<lb/>
preisgegeben. Man sehe sich doch einmal die 397 Abgeordneten des deutschen<lb/>
Reichstags darauf an, wie weit sie wirklich nach dem klaren Wortlaut des<lb/>
Artikels 29 der Reichsverfassung &#x201E;Vertreter des gesamten Volkes und an Auf¬<lb/>
träge und Instruktionen nicht gebunden" sind. Ohnehin schon unter dem Bann<lb/>
der Partei stehend, der nicht leicht und kaum ohne unangenehme Folgen ver¬<lb/>
lassen werden kann, sind sie fast alle noch schwer beladen mit Versprechungen<lb/>
und Resolutionen, die bei einer andern Handhabung desselben Wahl- und<lb/>
Agitationsapparats in den meisten Fällen ganz anders, sogar gegenteilig, hätten<lb/>
lauten können, nun aber als &#x201E;öffentliche Meinung" und &#x201E;Wille des Volkes"<lb/>
ausgegeben werden. Und diesem künstlich zubereiteten &#x201E;Volkswillen" zuliebe<lb/>
werden dann die Agitationsreden &#x201E;zum Fenster hinaus" gehalten, die jeden<lb/>
nicht zu dem &#x201E;Parteiklüngel" gehörenden Abgeordneten zum Hause hinaus¬<lb/>
treiben. Diese beklagenswerten, einer wahren Volksvertretung geradezu un¬<lb/>
würdigen Zustände sind schon so oft &#x2014; auch in den Grenzboten &#x2014; geschildert<lb/>
worden, daß jedes weitere Eingehen darauf hier überflüssig ist. Dieses Zerr¬<lb/>
bild einer beratenden Versammlung und die &#x201E;wahrheitsgetreue" Bericht¬<lb/>
erstattung darüber in den Parteiblättern haben das, was Deutschland von<lb/>
seinem Reichstag erwarten mußte, in das absolute Gegenteil verkehrt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1000" next="#ID_1001"> Unter diesen Umständen darf man bezweifeln, ob die in die Länge ge¬<lb/>
zognen, nur auf Wahlpolitik zielenden Debatten selbst bei beschlußfähigem Hause<lb/>
auch nur um eine Stunde kürzer ausfallen werden. Dem erwähnten demagogischen<lb/>
Zuge frommt, opfert man Reichstagssitzungen in großer Zahl, und eigentlich<lb/>
alle Parteien, die einen mehr, die andern weniger, haben sich mitschuldig daran</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0245] vierzig Jahre deutscher Parlamentarismus Versammlungsreden das „Recht" der immunen Abgeordneten nahezu der Un¬ fehlbarkeit gleichgesetzt, von ihren Pflichten ist kaum andeutungsweise die Rede, und meist auch nur. wenn einem Abgeordneten der Gegenpartei eins ausgewischt werden soll. Wäre es denn überhaupt möglich gewesen, daß das Schwänzen im Reichstag in so betrübender Weise eingerissen wäre, wenn die Presse ihres Amtes gewaltet und die Pflichtverletzung vor der Öffentlichkeit mit der ge¬ bührenden Schärfe gegeißelt hätte? Die Parlamente sind ihren Traditionen untreu geworden, sie haben ihre Aufgabe und ihre Pflicht aus den Augen verloren. Der „Münnerstolz vor Königsthronen" hat den Abgeordneten die Unabhängigkeit geraubt, sie haben keinen freien Willen mehr, seitdem sie sich abhängig nach unten gemacht haben. Mit modernen und häufig sehr liberal klingenden Worten im Munde haben sie sich in den Dienst des politischen und des wirtschaftlichen Rückschritts gestellt; sie haben, statt die Gegensätze in der Bevölkerung zu mildern, diese im Interesse der Partei noch verschärft; um eine augenblickliche Volkstümlich¬ keit zu erwerben und gewählt zu werden, hat man Versprechungen gegeben, die man gar nicht halten kann, man hat in der Sucht nach Popularität die Freiheit des Parlamentariers, damit die Höhe des Parlaments und zugleich auch die Interessen des Staats, damit aber schließlich auch die der Bevölkerung preisgegeben. Man sehe sich doch einmal die 397 Abgeordneten des deutschen Reichstags darauf an, wie weit sie wirklich nach dem klaren Wortlaut des Artikels 29 der Reichsverfassung „Vertreter des gesamten Volkes und an Auf¬ träge und Instruktionen nicht gebunden" sind. Ohnehin schon unter dem Bann der Partei stehend, der nicht leicht und kaum ohne unangenehme Folgen ver¬ lassen werden kann, sind sie fast alle noch schwer beladen mit Versprechungen und Resolutionen, die bei einer andern Handhabung desselben Wahl- und Agitationsapparats in den meisten Fällen ganz anders, sogar gegenteilig, hätten lauten können, nun aber als „öffentliche Meinung" und „Wille des Volkes" ausgegeben werden. Und diesem künstlich zubereiteten „Volkswillen" zuliebe werden dann die Agitationsreden „zum Fenster hinaus" gehalten, die jeden nicht zu dem „Parteiklüngel" gehörenden Abgeordneten zum Hause hinaus¬ treiben. Diese beklagenswerten, einer wahren Volksvertretung geradezu un¬ würdigen Zustände sind schon so oft — auch in den Grenzboten — geschildert worden, daß jedes weitere Eingehen darauf hier überflüssig ist. Dieses Zerr¬ bild einer beratenden Versammlung und die „wahrheitsgetreue" Bericht¬ erstattung darüber in den Parteiblättern haben das, was Deutschland von seinem Reichstag erwarten mußte, in das absolute Gegenteil verkehrt. Unter diesen Umständen darf man bezweifeln, ob die in die Länge ge¬ zognen, nur auf Wahlpolitik zielenden Debatten selbst bei beschlußfähigem Hause auch nur um eine Stunde kürzer ausfallen werden. Dem erwähnten demagogischen Zuge frommt, opfert man Reichstagssitzungen in großer Zahl, und eigentlich alle Parteien, die einen mehr, die andern weniger, haben sich mitschuldig daran

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/245
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/245>, abgerufen am 23.07.2024.