Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.vierzig Jahre deutscher Parlamentarismus ließ der bis dahin das öffentliche Leben ausschlagend beherrschende deutsche Man kann nicht ohne tiefe Wehmut auf jene erste Zeit des deutschen vierzig Jahre deutscher Parlamentarismus ließ der bis dahin das öffentliche Leben ausschlagend beherrschende deutsche Man kann nicht ohne tiefe Wehmut auf jene erste Zeit des deutschen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0244" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300743"/> <fw type="header" place="top"> vierzig Jahre deutscher Parlamentarismus</fw><lb/> <p xml:id="ID_996" prev="#ID_995"> ließ der bis dahin das öffentliche Leben ausschlagend beherrschende deutsche<lb/> Liberalismus sein Streben nach der parlamentarischen Regierung fallen, die<lb/> gegenüber dem Erfolge des preußischen Königtums gänzlich aussichtslos erscheinen<lb/> mußte und sich auch mit der föderativem Verfassung des neuen Bundesstaats<lb/> nicht in Einklang bringen ließ. Auf dieser klaren Erkenntnis der praktischen<lb/> politischen Notwendigkeit beruhte in der Hauptsache die Höhe des ersten<lb/> deutschen Parlamentarismus im Reichstage und zugleich die große Zeit des<lb/> Nationalliberalismus, der aus den Erfahrungen der Konfliktszeit gelernt hatte.<lb/> Diesem ersten deutschen Parlamentarismus war es vorbehalten, der Welt zu<lb/> zeigen, daß es politisch nützlicher ist, das öffentliche Leben, statt auf die<lb/> rücksichtslose Herrschaft der einen Partei über die andern, auf die Verständigung<lb/> zu gründen. Die jetzt lebende Generation hat nur noch wenig von den<lb/> damaligen Vorgängen in der Erinnerung und erhält durch den ihr überreichlich<lb/> gebotnen Lesestoff, der aber leider fast ausschließlich in einseitigen Parteiblättern<lb/> steht, nur parteiisch gefärbte Kenntnis davon. Es würde jedoch zu weit führen,<lb/> hier wieder weitläufiger darauf einzugehn.</p><lb/> <p xml:id="ID_997" next="#ID_998"> Man kann nicht ohne tiefe Wehmut auf jene erste Zeit des deutschen<lb/> Parlamentarismus zurückschauen. Was war der Reichstag damals in den<lb/> Augen des deutschen Volkes, und was ist er heute? Die geistige Höhe der<lb/> jetzigen endlosen Verhandlungen steht tief unter der der siebziger Jahre, und<lb/> das Ergebnis der ungebührlich in die Länge gezognen Sessionen steht in<lb/> schreienden Mißverhältnis zu der aufgewandten Zeit. Man hat dafür allgemein<lb/> das Übel des Absentismus verantwortlich gemacht. Unstreitig war die an¬<lb/> dauernde, wenn auch nur selten offen erklärte Beschlußunfähigkeit des Reichstags<lb/> die Hauptursache dafür, daß unnütze Debatten nicht beizeiten geschlossen werden<lb/> konnten, doch diese unliebsame Erscheinung ist der Mißstand selbst, kennzeichnet<lb/> aber nicht seine Ursache, denn es ist unzweifelhaft, daß das Fernbleiben so<lb/> vieler Abgeordneter von Berlin durch die Langweiligkeit und die Zwecklosigkeit<lb/> der Debatten verschuldet wird. Deshalb ist auch jeder Appell an das Pflicht¬<lb/> gefühl der Erwählten des Volkes fruchtlos geblieben. Der Bundesrat hat nun<lb/> ein neues Mittel angewandt, den Absentismus zu beseitigen, indem er der<lb/> von der Reichstagsmehrheit seit Jahren geforderten Gewährung von Diäten<lb/> zugestimmt hat. Von liberaler Seite ist wohl immer behauptet worden, die<lb/> Gewährung von Diäten werde das Pflichtgefühl der Abgeordneten wesentlich<lb/> schärfen; das ist aber doch zu bezweifeln, denn dann müßte man die gewohnheits¬<lb/> mäßigen Absentisten doch noch viel niedriger einschätzen, als es ohnehin schon<lb/> geschieht. Das ganze Übel unsers Reichstagselends ist eine Folge des dema¬<lb/> gogischen Zuges, der hauptsächlich infolge der auf dem allgemeinen Wahlrecht<lb/> fußender Agitation unser ganzes öffentliches Leben ergriffen hat. Wer spricht<lb/> in unsern Tagen noch von Pflichten gegen den Staat und die Öffentlichkeit<lb/> im allgemeinen? Man hört nur von dem „Recht", das nach Mephistopheles<lb/> „mit uns geboren" sein soll. So wird auch in den meisten Zeitungen und</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0244]
vierzig Jahre deutscher Parlamentarismus
ließ der bis dahin das öffentliche Leben ausschlagend beherrschende deutsche
Liberalismus sein Streben nach der parlamentarischen Regierung fallen, die
gegenüber dem Erfolge des preußischen Königtums gänzlich aussichtslos erscheinen
mußte und sich auch mit der föderativem Verfassung des neuen Bundesstaats
nicht in Einklang bringen ließ. Auf dieser klaren Erkenntnis der praktischen
politischen Notwendigkeit beruhte in der Hauptsache die Höhe des ersten
deutschen Parlamentarismus im Reichstage und zugleich die große Zeit des
Nationalliberalismus, der aus den Erfahrungen der Konfliktszeit gelernt hatte.
Diesem ersten deutschen Parlamentarismus war es vorbehalten, der Welt zu
zeigen, daß es politisch nützlicher ist, das öffentliche Leben, statt auf die
rücksichtslose Herrschaft der einen Partei über die andern, auf die Verständigung
zu gründen. Die jetzt lebende Generation hat nur noch wenig von den
damaligen Vorgängen in der Erinnerung und erhält durch den ihr überreichlich
gebotnen Lesestoff, der aber leider fast ausschließlich in einseitigen Parteiblättern
steht, nur parteiisch gefärbte Kenntnis davon. Es würde jedoch zu weit führen,
hier wieder weitläufiger darauf einzugehn.
Man kann nicht ohne tiefe Wehmut auf jene erste Zeit des deutschen
Parlamentarismus zurückschauen. Was war der Reichstag damals in den
Augen des deutschen Volkes, und was ist er heute? Die geistige Höhe der
jetzigen endlosen Verhandlungen steht tief unter der der siebziger Jahre, und
das Ergebnis der ungebührlich in die Länge gezognen Sessionen steht in
schreienden Mißverhältnis zu der aufgewandten Zeit. Man hat dafür allgemein
das Übel des Absentismus verantwortlich gemacht. Unstreitig war die an¬
dauernde, wenn auch nur selten offen erklärte Beschlußunfähigkeit des Reichstags
die Hauptursache dafür, daß unnütze Debatten nicht beizeiten geschlossen werden
konnten, doch diese unliebsame Erscheinung ist der Mißstand selbst, kennzeichnet
aber nicht seine Ursache, denn es ist unzweifelhaft, daß das Fernbleiben so
vieler Abgeordneter von Berlin durch die Langweiligkeit und die Zwecklosigkeit
der Debatten verschuldet wird. Deshalb ist auch jeder Appell an das Pflicht¬
gefühl der Erwählten des Volkes fruchtlos geblieben. Der Bundesrat hat nun
ein neues Mittel angewandt, den Absentismus zu beseitigen, indem er der
von der Reichstagsmehrheit seit Jahren geforderten Gewährung von Diäten
zugestimmt hat. Von liberaler Seite ist wohl immer behauptet worden, die
Gewährung von Diäten werde das Pflichtgefühl der Abgeordneten wesentlich
schärfen; das ist aber doch zu bezweifeln, denn dann müßte man die gewohnheits¬
mäßigen Absentisten doch noch viel niedriger einschätzen, als es ohnehin schon
geschieht. Das ganze Übel unsers Reichstagselends ist eine Folge des dema¬
gogischen Zuges, der hauptsächlich infolge der auf dem allgemeinen Wahlrecht
fußender Agitation unser ganzes öffentliches Leben ergriffen hat. Wer spricht
in unsern Tagen noch von Pflichten gegen den Staat und die Öffentlichkeit
im allgemeinen? Man hört nur von dem „Recht", das nach Mephistopheles
„mit uns geboren" sein soll. So wird auch in den meisten Zeitungen und
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