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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Klarenberge mit ihrem schwarzbraunen, angeblich von Lukas selbst gemalten
Marienbild?, zu dem noch jetzt alljährlich viele Tausende gläubig pilgern. Auch
vom russischen Heer hätten wir gern mehr gesehen, der Unterschied zwischen den
nahe an der Grenze liegenden Truppen und den Soldaten in Rooo Nadvmsk
war auch für den flüchtigen Beobachter auffallend, und zwar zugunsten jener.
Und doch hatten wir alle Ursache, den Herren, die uns zu schleuniger Rückkehr
rieten, dankbar zu sein? sie hatten recht damit gehabt, daß man in Rußland
jetzt keinen Tag vor schlimmen Überraschungen sicher sei. Am Tage darauf
schon wurde in Tschenstochau von dem Nevolutionsausschuß der Belagerungszu¬
stand über die Stadt verhängt, Offiziere und Mannschaften wurden durch Maner-
anschlägc, für den Fall, daß sie nach zehn Uhr abends auf der Straße gesehen
würden, mit Erschießen bedroht. Dasselbe berichteten uns Bewohner von Mys-
lowitz von dem unmittelbar gegenüber auf dem linken Ufer der Przemsa liegenden
Modrshejow-Niwka. allabendlich höre man dort Schüsse fallen. Für uns wäre
dieser Belagerungszustand kaum von Bedeutung geworden. Bedenklicher dagegen
hätte ein andrer Vorfall für uns werden können, der sich auf dem Bahnhof
Sosnowice ereignete. In denselben Warteraum, worin wir uns aufgehalten
hatten, wurde zwei Tage später eine Bombe geschleudert, durch die -- wenn
die Zeitungsberichte zuverlässig waren -- ein Mann getötet und viele schwer
verletzt wurden, bei einer darüber ausbrechenden Panik sei außerdem noch eine
Menge andrer zu Schaden gekommen.

Wie an die frühern Ballonfahrten, so schloß sich auch an diese eine
zweitägige Reise an, zunächst nach Myslowitz und der Dreikaiserecke, wo an der
Einmündung der Weißen in die Schwarze Przemsa Deutschland, Nußland und
Österreich (Galizien) zusammenstoßen, dann weiter nach dem kleinen Gebirge,
wohin wir durch die Lüfte getragen zu werden hofften, nach dem Zigeunerwald
und dem Klimczok; und was uns als schönes Endziel vorgeschwebt hatte, auch
die Hohe Trala, wurde von einem der Reisegefährten besucht.

Auf der Heimfahrt bewegten uns neben der Erinnerung an die Fülle des
Erlebten Gedanken an die bevorstehende Sedcmfeier, den Tag nationaler Er¬
hebung und Selbstbesinnung für unser Volk. Wie viele Festredner würden
diesesmal. um ihre Zuhörer zu gerechter Freude an der Gegenwart zu stimmen,
Wohl darauf hinweisen, wie ganz anders es gerade vor hundert Jahren, in den
Tagen der Schlacht von Jena und Auerstcidt, in Deutschland ausgesehen habe.
Nun, wie der Gedanke an das Nacheinander der Zeit, so muß den Deutschen auch
ein Vergleich des Nebeneinander im Raume zu dankbarer Würdigung der Zu¬
stände in der Heimat führen, wenn er hinschaut auf das unglückliche Nachbar¬
volk im Osten, das jetzt in verworrnein, blutigem Ringen mit sich selbst eine
Sturm- und Drangzcit durchlebt.




Grenzboten IV 190628

Klarenberge mit ihrem schwarzbraunen, angeblich von Lukas selbst gemalten
Marienbild?, zu dem noch jetzt alljährlich viele Tausende gläubig pilgern. Auch
vom russischen Heer hätten wir gern mehr gesehen, der Unterschied zwischen den
nahe an der Grenze liegenden Truppen und den Soldaten in Rooo Nadvmsk
war auch für den flüchtigen Beobachter auffallend, und zwar zugunsten jener.
Und doch hatten wir alle Ursache, den Herren, die uns zu schleuniger Rückkehr
rieten, dankbar zu sein? sie hatten recht damit gehabt, daß man in Rußland
jetzt keinen Tag vor schlimmen Überraschungen sicher sei. Am Tage darauf
schon wurde in Tschenstochau von dem Nevolutionsausschuß der Belagerungszu¬
stand über die Stadt verhängt, Offiziere und Mannschaften wurden durch Maner-
anschlägc, für den Fall, daß sie nach zehn Uhr abends auf der Straße gesehen
würden, mit Erschießen bedroht. Dasselbe berichteten uns Bewohner von Mys-
lowitz von dem unmittelbar gegenüber auf dem linken Ufer der Przemsa liegenden
Modrshejow-Niwka. allabendlich höre man dort Schüsse fallen. Für uns wäre
dieser Belagerungszustand kaum von Bedeutung geworden. Bedenklicher dagegen
hätte ein andrer Vorfall für uns werden können, der sich auf dem Bahnhof
Sosnowice ereignete. In denselben Warteraum, worin wir uns aufgehalten
hatten, wurde zwei Tage später eine Bombe geschleudert, durch die — wenn
die Zeitungsberichte zuverlässig waren — ein Mann getötet und viele schwer
verletzt wurden, bei einer darüber ausbrechenden Panik sei außerdem noch eine
Menge andrer zu Schaden gekommen.

Wie an die frühern Ballonfahrten, so schloß sich auch an diese eine
zweitägige Reise an, zunächst nach Myslowitz und der Dreikaiserecke, wo an der
Einmündung der Weißen in die Schwarze Przemsa Deutschland, Nußland und
Österreich (Galizien) zusammenstoßen, dann weiter nach dem kleinen Gebirge,
wohin wir durch die Lüfte getragen zu werden hofften, nach dem Zigeunerwald
und dem Klimczok; und was uns als schönes Endziel vorgeschwebt hatte, auch
die Hohe Trala, wurde von einem der Reisegefährten besucht.

Auf der Heimfahrt bewegten uns neben der Erinnerung an die Fülle des
Erlebten Gedanken an die bevorstehende Sedcmfeier, den Tag nationaler Er¬
hebung und Selbstbesinnung für unser Volk. Wie viele Festredner würden
diesesmal. um ihre Zuhörer zu gerechter Freude an der Gegenwart zu stimmen,
Wohl darauf hinweisen, wie ganz anders es gerade vor hundert Jahren, in den
Tagen der Schlacht von Jena und Auerstcidt, in Deutschland ausgesehen habe.
Nun, wie der Gedanke an das Nacheinander der Zeit, so muß den Deutschen auch
ein Vergleich des Nebeneinander im Raume zu dankbarer Würdigung der Zu¬
stände in der Heimat führen, wenn er hinschaut auf das unglückliche Nachbar¬
volk im Osten, das jetzt in verworrnein, blutigem Ringen mit sich selbst eine
Sturm- und Drangzcit durchlebt.




Grenzboten IV 190628
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[0225] Klarenberge mit ihrem schwarzbraunen, angeblich von Lukas selbst gemalten Marienbild?, zu dem noch jetzt alljährlich viele Tausende gläubig pilgern. Auch vom russischen Heer hätten wir gern mehr gesehen, der Unterschied zwischen den nahe an der Grenze liegenden Truppen und den Soldaten in Rooo Nadvmsk war auch für den flüchtigen Beobachter auffallend, und zwar zugunsten jener. Und doch hatten wir alle Ursache, den Herren, die uns zu schleuniger Rückkehr rieten, dankbar zu sein? sie hatten recht damit gehabt, daß man in Rußland jetzt keinen Tag vor schlimmen Überraschungen sicher sei. Am Tage darauf schon wurde in Tschenstochau von dem Nevolutionsausschuß der Belagerungszu¬ stand über die Stadt verhängt, Offiziere und Mannschaften wurden durch Maner- anschlägc, für den Fall, daß sie nach zehn Uhr abends auf der Straße gesehen würden, mit Erschießen bedroht. Dasselbe berichteten uns Bewohner von Mys- lowitz von dem unmittelbar gegenüber auf dem linken Ufer der Przemsa liegenden Modrshejow-Niwka. allabendlich höre man dort Schüsse fallen. Für uns wäre dieser Belagerungszustand kaum von Bedeutung geworden. Bedenklicher dagegen hätte ein andrer Vorfall für uns werden können, der sich auf dem Bahnhof Sosnowice ereignete. In denselben Warteraum, worin wir uns aufgehalten hatten, wurde zwei Tage später eine Bombe geschleudert, durch die — wenn die Zeitungsberichte zuverlässig waren — ein Mann getötet und viele schwer verletzt wurden, bei einer darüber ausbrechenden Panik sei außerdem noch eine Menge andrer zu Schaden gekommen. Wie an die frühern Ballonfahrten, so schloß sich auch an diese eine zweitägige Reise an, zunächst nach Myslowitz und der Dreikaiserecke, wo an der Einmündung der Weißen in die Schwarze Przemsa Deutschland, Nußland und Österreich (Galizien) zusammenstoßen, dann weiter nach dem kleinen Gebirge, wohin wir durch die Lüfte getragen zu werden hofften, nach dem Zigeunerwald und dem Klimczok; und was uns als schönes Endziel vorgeschwebt hatte, auch die Hohe Trala, wurde von einem der Reisegefährten besucht. Auf der Heimfahrt bewegten uns neben der Erinnerung an die Fülle des Erlebten Gedanken an die bevorstehende Sedcmfeier, den Tag nationaler Er¬ hebung und Selbstbesinnung für unser Volk. Wie viele Festredner würden diesesmal. um ihre Zuhörer zu gerechter Freude an der Gegenwart zu stimmen, Wohl darauf hinweisen, wie ganz anders es gerade vor hundert Jahren, in den Tagen der Schlacht von Jena und Auerstcidt, in Deutschland ausgesehen habe. Nun, wie der Gedanke an das Nacheinander der Zeit, so muß den Deutschen auch ein Vergleich des Nebeneinander im Raume zu dankbarer Würdigung der Zu¬ stände in der Heimat führen, wenn er hinschaut auf das unglückliche Nachbar¬ volk im Osten, das jetzt in verworrnein, blutigem Ringen mit sich selbst eine Sturm- und Drangzcit durchlebt. Grenzboten IV 190628

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/225>, abgerufen am 23.07.2024.