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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Luftreisen

nehmung. Der Wind hätte dann neuerdings seine Richtung wieder völlig geändert
und triebe uns wie zu Anfang der Fahrt wieder genau nach Osten. Bei der
gegenwärtigen Geschwindigkeit von stündlich 46 Kilometern wären wir in zwei¬
einhalb Stunden an der russischen Grenze.

Sobald eine neue Lücke in den Wolken entsteht, spähen wir nach einem
bezeichnenden Merkmal aus, um uns auf der Karte zurechtzufinden. Vergebens.
Wohl sehen wir in geringen Abständen voneinander kleinere, auch einige größere
Ortschaften, slawische Rundlinge mit ihrem birnenförmigen Kern, jüngere deutsche
Anlagen mit rechteckigen Markt in der Mitte, von dem die nach den vier
Himmelsrichtungen den ehemaligen Stadttoren zustrebenden Hauptstraßen und
deren Parallelstraßen ausgehn, aber auch sie nach außen hin meist rund oder
oval gestaltet, ferner Schlösser und Rittergüter, kleine Wälder und Teiche. Aber
dieses alles bietet keinen Anhalt zur Orientierung, auch tauchen die Punkte beim
Zerreißen des Wolkenschleiers so flüchtig nur auf, als würens Bilder der
Phantasie, und der Kompaß zeigt uns zwar an, wo Norden liegt, aber bei der,
wenn auch geringen, so doch fortwährenden Drehung von Ballon und Korb,
dem immer lebhaftem Treiben der Wolken, die weder Geschwindigkeit noch
Richtung völlig mit uns teilen, ist es unmöglich, mit Sicherheit zu bestimmen,
wohin wir uns bewegen.

Jetzt sind wir ganz und gar abgeschnitten von der Erde, und zwar sind es
Gewitterwolken, über denen wir schweben. Wir hören den Donner von allen
Seiten, aber ohnmächtig verhallt er im Weltenraum, wir ahnen die Blitze, aber
der ruhige, sieghafte Glanz der über uns glühenden Sonne läßt ihr zuckendes
Licht nicht aufkommen. Die Wolken, die von unten dunkel und drohend aussehen
mögen, weil eine immer die andre beschattet, sind für uns blendend weiß wie
unberührter Schnee, sodaß die Augen uns schmerzen, während auch die herr¬
lichsten Wolkengebilde, die wir ans Erden schauen, dagegen nur tauwetter-
schmutzigen Schneemassen gleichen. Das ist ein wundersames Spiel. Eben noch
schienen die Wolken ein unabsehbares wogendes Meer zu bilden, jetzt brodelts
bald hier, bald dort empor wie der Qualm einer Feuersbrunst bei Windstille,
aber alles in zartestem, duftigen Weiß, ewig wechselnde Bilder von unvergleich¬
licher Schönheit, um deren Anblick willen sich allein schon die ganze Fahrt
lohnte. Auch bis zu uus im Korbe dringt von unten herauf kühlend der
Wolkenhauch, und wir müssen kleine Vallastopfer bringen, um uns auf der
erreichten Höhe von 2000 Metern zu erhalten.

Der Charakter der Landschaft unter uns hat sich inzwischen verändert.
Spalten in den Wolken lassen uns Wälder von großer Ausdehnung wahrnehmen.
Unsre Vermutung, daß wir ostwärts fliegen, gewinnt an Wahrscheinlichkeit. Es
müssen die Wälder östlich von Trachenberg sein, die unter uns liegen, die Forste
Katholisch-Hammer und Kuhbrück.

Auf allen Seiten werden jetzt, als fänden sie in den tiefern Schichten
keinen Raum mehr, seltsame luftige Gestalten ans den Wolkenmassen heraus-


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nehmung. Der Wind hätte dann neuerdings seine Richtung wieder völlig geändert
und triebe uns wie zu Anfang der Fahrt wieder genau nach Osten. Bei der
gegenwärtigen Geschwindigkeit von stündlich 46 Kilometern wären wir in zwei¬
einhalb Stunden an der russischen Grenze.

Sobald eine neue Lücke in den Wolken entsteht, spähen wir nach einem
bezeichnenden Merkmal aus, um uns auf der Karte zurechtzufinden. Vergebens.
Wohl sehen wir in geringen Abständen voneinander kleinere, auch einige größere
Ortschaften, slawische Rundlinge mit ihrem birnenförmigen Kern, jüngere deutsche
Anlagen mit rechteckigen Markt in der Mitte, von dem die nach den vier
Himmelsrichtungen den ehemaligen Stadttoren zustrebenden Hauptstraßen und
deren Parallelstraßen ausgehn, aber auch sie nach außen hin meist rund oder
oval gestaltet, ferner Schlösser und Rittergüter, kleine Wälder und Teiche. Aber
dieses alles bietet keinen Anhalt zur Orientierung, auch tauchen die Punkte beim
Zerreißen des Wolkenschleiers so flüchtig nur auf, als würens Bilder der
Phantasie, und der Kompaß zeigt uns zwar an, wo Norden liegt, aber bei der,
wenn auch geringen, so doch fortwährenden Drehung von Ballon und Korb,
dem immer lebhaftem Treiben der Wolken, die weder Geschwindigkeit noch
Richtung völlig mit uns teilen, ist es unmöglich, mit Sicherheit zu bestimmen,
wohin wir uns bewegen.

Jetzt sind wir ganz und gar abgeschnitten von der Erde, und zwar sind es
Gewitterwolken, über denen wir schweben. Wir hören den Donner von allen
Seiten, aber ohnmächtig verhallt er im Weltenraum, wir ahnen die Blitze, aber
der ruhige, sieghafte Glanz der über uns glühenden Sonne läßt ihr zuckendes
Licht nicht aufkommen. Die Wolken, die von unten dunkel und drohend aussehen
mögen, weil eine immer die andre beschattet, sind für uns blendend weiß wie
unberührter Schnee, sodaß die Augen uns schmerzen, während auch die herr¬
lichsten Wolkengebilde, die wir ans Erden schauen, dagegen nur tauwetter-
schmutzigen Schneemassen gleichen. Das ist ein wundersames Spiel. Eben noch
schienen die Wolken ein unabsehbares wogendes Meer zu bilden, jetzt brodelts
bald hier, bald dort empor wie der Qualm einer Feuersbrunst bei Windstille,
aber alles in zartestem, duftigen Weiß, ewig wechselnde Bilder von unvergleich¬
licher Schönheit, um deren Anblick willen sich allein schon die ganze Fahrt
lohnte. Auch bis zu uus im Korbe dringt von unten herauf kühlend der
Wolkenhauch, und wir müssen kleine Vallastopfer bringen, um uns auf der
erreichten Höhe von 2000 Metern zu erhalten.

Der Charakter der Landschaft unter uns hat sich inzwischen verändert.
Spalten in den Wolken lassen uns Wälder von großer Ausdehnung wahrnehmen.
Unsre Vermutung, daß wir ostwärts fliegen, gewinnt an Wahrscheinlichkeit. Es
müssen die Wälder östlich von Trachenberg sein, die unter uns liegen, die Forste
Katholisch-Hammer und Kuhbrück.

Auf allen Seiten werden jetzt, als fänden sie in den tiefern Schichten
keinen Raum mehr, seltsame luftige Gestalten ans den Wolkenmassen heraus-


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[0218] Luftreisen nehmung. Der Wind hätte dann neuerdings seine Richtung wieder völlig geändert und triebe uns wie zu Anfang der Fahrt wieder genau nach Osten. Bei der gegenwärtigen Geschwindigkeit von stündlich 46 Kilometern wären wir in zwei¬ einhalb Stunden an der russischen Grenze. Sobald eine neue Lücke in den Wolken entsteht, spähen wir nach einem bezeichnenden Merkmal aus, um uns auf der Karte zurechtzufinden. Vergebens. Wohl sehen wir in geringen Abständen voneinander kleinere, auch einige größere Ortschaften, slawische Rundlinge mit ihrem birnenförmigen Kern, jüngere deutsche Anlagen mit rechteckigen Markt in der Mitte, von dem die nach den vier Himmelsrichtungen den ehemaligen Stadttoren zustrebenden Hauptstraßen und deren Parallelstraßen ausgehn, aber auch sie nach außen hin meist rund oder oval gestaltet, ferner Schlösser und Rittergüter, kleine Wälder und Teiche. Aber dieses alles bietet keinen Anhalt zur Orientierung, auch tauchen die Punkte beim Zerreißen des Wolkenschleiers so flüchtig nur auf, als würens Bilder der Phantasie, und der Kompaß zeigt uns zwar an, wo Norden liegt, aber bei der, wenn auch geringen, so doch fortwährenden Drehung von Ballon und Korb, dem immer lebhaftem Treiben der Wolken, die weder Geschwindigkeit noch Richtung völlig mit uns teilen, ist es unmöglich, mit Sicherheit zu bestimmen, wohin wir uns bewegen. Jetzt sind wir ganz und gar abgeschnitten von der Erde, und zwar sind es Gewitterwolken, über denen wir schweben. Wir hören den Donner von allen Seiten, aber ohnmächtig verhallt er im Weltenraum, wir ahnen die Blitze, aber der ruhige, sieghafte Glanz der über uns glühenden Sonne läßt ihr zuckendes Licht nicht aufkommen. Die Wolken, die von unten dunkel und drohend aussehen mögen, weil eine immer die andre beschattet, sind für uns blendend weiß wie unberührter Schnee, sodaß die Augen uns schmerzen, während auch die herr¬ lichsten Wolkengebilde, die wir ans Erden schauen, dagegen nur tauwetter- schmutzigen Schneemassen gleichen. Das ist ein wundersames Spiel. Eben noch schienen die Wolken ein unabsehbares wogendes Meer zu bilden, jetzt brodelts bald hier, bald dort empor wie der Qualm einer Feuersbrunst bei Windstille, aber alles in zartestem, duftigen Weiß, ewig wechselnde Bilder von unvergleich¬ licher Schönheit, um deren Anblick willen sich allein schon die ganze Fahrt lohnte. Auch bis zu uus im Korbe dringt von unten herauf kühlend der Wolkenhauch, und wir müssen kleine Vallastopfer bringen, um uns auf der erreichten Höhe von 2000 Metern zu erhalten. Der Charakter der Landschaft unter uns hat sich inzwischen verändert. Spalten in den Wolken lassen uns Wälder von großer Ausdehnung wahrnehmen. Unsre Vermutung, daß wir ostwärts fliegen, gewinnt an Wahrscheinlichkeit. Es müssen die Wälder östlich von Trachenberg sein, die unter uns liegen, die Forste Katholisch-Hammer und Kuhbrück. Auf allen Seiten werden jetzt, als fänden sie in den tiefern Schichten keinen Raum mehr, seltsame luftige Gestalten ans den Wolkenmassen heraus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/218>, abgerufen am 23.07.2024.