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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Luftreisen

dehntes Wald- und Heideland unter uns, in den Lichtungen nirgends Felder,
sondern nur üppig grünende Auen und einzelne kleine Wasserbecken, so zu unsrer
Linken den Jühnsdorfer See.

Die aufgehende Sonne beschert uns zwei angenehme Überraschungen. Wir
räumen im Korbe auf, rollen das Schlepptau ab und entdecken dabei, daß wir
einen Sack Ballast mehr an Bord haben, als nach unsrer anfänglichen Zählung
möglich wäre. In den sechs Nachtstunden haben wir drei Sack verbraucht,
und sieben sind noch übrig; somit hatten wir zehn, nicht bloß neun Säcke mit¬
genommen. Das läßt uns noch auf eine lange Fahrt hoffen. Südlich von
Tornow kreuzen wir den vielgewundnen Bober, aber nicht bloß einmal, sondern
gleich hintereinander ^ein zweites und ein drittes mal, ein Zeichen, daß der
Wind sich geändert hat; er treibt uns nicht mehr nach Ostnordost auf Grün¬
berg zu, sondern mit plötzlicher Wendung nach Ostsüdost. So wird doch
vielleicht der Kelch einer Landung an der russischen Grenze oder gar in Ru߬
land selbst an uns vorübergehn, und mit Behagen genießen wir bei einer
kurzen Fahrt am Schlepptau über die Paganzer Heide die mit Waldesduft ge¬
würzte frische Morgenluft.

Der Sonne entgegen gehts auch jetzt noch, immer entlang an einem fast
ohne jede Krümmung in den Wiesengrund eingegrabnen Flüßchen, der Schwarze,
zu der parallel wenig Kilometer nördlich die Oesel fließt. Bei Neusalz treffen
wir auf die Breslau-Stettiner Bahnlinie und zugleich auf den zweiten großen
deutschen Strom, den wir diesesmal berühren sollen, die Oder, deren seit 1886
auf dieser Strecke beendete segensreiche Regulierung durch abwechselnd von
beiden Ufern in regelmäßigen Abstünden vorspringende Buhnen von oben wie
eine Verunzierung der Natur erscheint. Kurz vor sechs Uhr haben wir sie das
erstemal überflogen und folgen nun, über dem Mediatfürstentum Schönaich-
Carolath und den Gewässern der Alten Oder schwebend, dem Großen Land¬
graben. Die Residenz der Fürsten, Dorf und Schloß Carolath, ebenso der andre
Hauptort des Fürstentums, das Städtchen Beuthen, bleiben zu unsrer Rechten.

Die Sonnenwürme dehnt den Wasserstoff unsers Ballons aus und zieht
uns allmählich immer mehr empor, und je höher wir steigen, um so mehr tritt
zu unsrer Freude die erhoffte Rechtsdrehung der Luftströmung nach Südosten
zu ein. Infolgedessen schneiden wir in 1000 Meter Höhe noch zweimal die
Oder, zuletzt bei Klein-Tschirne, dessen vielgenannten Gutsherrn wir jetzt freilich
mit unsern Gedanken in Weichselmünde aufsuchen müssen. Dann lassen wir
den Fluß links von uns, während wir rechts im Südwesten einen kleinen be¬
waldeten Gebirgszug erblicken, in seinen höchsten Erhebungen zwar wenig über
200 Meter, aber doch ists ein wohltätiger Anblick, nachdem wir solange nur
Flachland geschaut haben; und trotz ihrer geringen Höhe bleiben die von Westen
heranziehenden Wolken an ihm hängen. Es sind die Katzenberge, der nordwestliche
Ausläufer des Mährisch-Schlesischen Landrückens. Wenn wir die jetzige Richtung
beibehalten, dann winkt uns -- nach einem Fluge über Schlesien in seiner ganzen


Luftreisen

dehntes Wald- und Heideland unter uns, in den Lichtungen nirgends Felder,
sondern nur üppig grünende Auen und einzelne kleine Wasserbecken, so zu unsrer
Linken den Jühnsdorfer See.

Die aufgehende Sonne beschert uns zwei angenehme Überraschungen. Wir
räumen im Korbe auf, rollen das Schlepptau ab und entdecken dabei, daß wir
einen Sack Ballast mehr an Bord haben, als nach unsrer anfänglichen Zählung
möglich wäre. In den sechs Nachtstunden haben wir drei Sack verbraucht,
und sieben sind noch übrig; somit hatten wir zehn, nicht bloß neun Säcke mit¬
genommen. Das läßt uns noch auf eine lange Fahrt hoffen. Südlich von
Tornow kreuzen wir den vielgewundnen Bober, aber nicht bloß einmal, sondern
gleich hintereinander ^ein zweites und ein drittes mal, ein Zeichen, daß der
Wind sich geändert hat; er treibt uns nicht mehr nach Ostnordost auf Grün¬
berg zu, sondern mit plötzlicher Wendung nach Ostsüdost. So wird doch
vielleicht der Kelch einer Landung an der russischen Grenze oder gar in Ru߬
land selbst an uns vorübergehn, und mit Behagen genießen wir bei einer
kurzen Fahrt am Schlepptau über die Paganzer Heide die mit Waldesduft ge¬
würzte frische Morgenluft.

Der Sonne entgegen gehts auch jetzt noch, immer entlang an einem fast
ohne jede Krümmung in den Wiesengrund eingegrabnen Flüßchen, der Schwarze,
zu der parallel wenig Kilometer nördlich die Oesel fließt. Bei Neusalz treffen
wir auf die Breslau-Stettiner Bahnlinie und zugleich auf den zweiten großen
deutschen Strom, den wir diesesmal berühren sollen, die Oder, deren seit 1886
auf dieser Strecke beendete segensreiche Regulierung durch abwechselnd von
beiden Ufern in regelmäßigen Abstünden vorspringende Buhnen von oben wie
eine Verunzierung der Natur erscheint. Kurz vor sechs Uhr haben wir sie das
erstemal überflogen und folgen nun, über dem Mediatfürstentum Schönaich-
Carolath und den Gewässern der Alten Oder schwebend, dem Großen Land¬
graben. Die Residenz der Fürsten, Dorf und Schloß Carolath, ebenso der andre
Hauptort des Fürstentums, das Städtchen Beuthen, bleiben zu unsrer Rechten.

Die Sonnenwürme dehnt den Wasserstoff unsers Ballons aus und zieht
uns allmählich immer mehr empor, und je höher wir steigen, um so mehr tritt
zu unsrer Freude die erhoffte Rechtsdrehung der Luftströmung nach Südosten
zu ein. Infolgedessen schneiden wir in 1000 Meter Höhe noch zweimal die
Oder, zuletzt bei Klein-Tschirne, dessen vielgenannten Gutsherrn wir jetzt freilich
mit unsern Gedanken in Weichselmünde aufsuchen müssen. Dann lassen wir
den Fluß links von uns, während wir rechts im Südwesten einen kleinen be¬
waldeten Gebirgszug erblicken, in seinen höchsten Erhebungen zwar wenig über
200 Meter, aber doch ists ein wohltätiger Anblick, nachdem wir solange nur
Flachland geschaut haben; und trotz ihrer geringen Höhe bleiben die von Westen
heranziehenden Wolken an ihm hängen. Es sind die Katzenberge, der nordwestliche
Ausläufer des Mährisch-Schlesischen Landrückens. Wenn wir die jetzige Richtung
beibehalten, dann winkt uns — nach einem Fluge über Schlesien in seiner ganzen


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[0216] Luftreisen dehntes Wald- und Heideland unter uns, in den Lichtungen nirgends Felder, sondern nur üppig grünende Auen und einzelne kleine Wasserbecken, so zu unsrer Linken den Jühnsdorfer See. Die aufgehende Sonne beschert uns zwei angenehme Überraschungen. Wir räumen im Korbe auf, rollen das Schlepptau ab und entdecken dabei, daß wir einen Sack Ballast mehr an Bord haben, als nach unsrer anfänglichen Zählung möglich wäre. In den sechs Nachtstunden haben wir drei Sack verbraucht, und sieben sind noch übrig; somit hatten wir zehn, nicht bloß neun Säcke mit¬ genommen. Das läßt uns noch auf eine lange Fahrt hoffen. Südlich von Tornow kreuzen wir den vielgewundnen Bober, aber nicht bloß einmal, sondern gleich hintereinander ^ein zweites und ein drittes mal, ein Zeichen, daß der Wind sich geändert hat; er treibt uns nicht mehr nach Ostnordost auf Grün¬ berg zu, sondern mit plötzlicher Wendung nach Ostsüdost. So wird doch vielleicht der Kelch einer Landung an der russischen Grenze oder gar in Ru߬ land selbst an uns vorübergehn, und mit Behagen genießen wir bei einer kurzen Fahrt am Schlepptau über die Paganzer Heide die mit Waldesduft ge¬ würzte frische Morgenluft. Der Sonne entgegen gehts auch jetzt noch, immer entlang an einem fast ohne jede Krümmung in den Wiesengrund eingegrabnen Flüßchen, der Schwarze, zu der parallel wenig Kilometer nördlich die Oesel fließt. Bei Neusalz treffen wir auf die Breslau-Stettiner Bahnlinie und zugleich auf den zweiten großen deutschen Strom, den wir diesesmal berühren sollen, die Oder, deren seit 1886 auf dieser Strecke beendete segensreiche Regulierung durch abwechselnd von beiden Ufern in regelmäßigen Abstünden vorspringende Buhnen von oben wie eine Verunzierung der Natur erscheint. Kurz vor sechs Uhr haben wir sie das erstemal überflogen und folgen nun, über dem Mediatfürstentum Schönaich- Carolath und den Gewässern der Alten Oder schwebend, dem Großen Land¬ graben. Die Residenz der Fürsten, Dorf und Schloß Carolath, ebenso der andre Hauptort des Fürstentums, das Städtchen Beuthen, bleiben zu unsrer Rechten. Die Sonnenwürme dehnt den Wasserstoff unsers Ballons aus und zieht uns allmählich immer mehr empor, und je höher wir steigen, um so mehr tritt zu unsrer Freude die erhoffte Rechtsdrehung der Luftströmung nach Südosten zu ein. Infolgedessen schneiden wir in 1000 Meter Höhe noch zweimal die Oder, zuletzt bei Klein-Tschirne, dessen vielgenannten Gutsherrn wir jetzt freilich mit unsern Gedanken in Weichselmünde aufsuchen müssen. Dann lassen wir den Fluß links von uns, während wir rechts im Südwesten einen kleinen be¬ waldeten Gebirgszug erblicken, in seinen höchsten Erhebungen zwar wenig über 200 Meter, aber doch ists ein wohltätiger Anblick, nachdem wir solange nur Flachland geschaut haben; und trotz ihrer geringen Höhe bleiben die von Westen heranziehenden Wolken an ihm hängen. Es sind die Katzenberge, der nordwestliche Ausläufer des Mährisch-Schlesischen Landrückens. Wenn wir die jetzige Richtung beibehalten, dann winkt uns — nach einem Fluge über Schlesien in seiner ganzen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/216>, abgerufen am 23.07.2024.