Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das preußische Vffizierkorps von ^306 im Lichte neuer Forschungen

Magdeburg gefällt wird. Dieses Gutachten dürfte nach dem Arbeitsplan der
Kommission von Major von Pirch verfaßt sein. Das Verhalten des Gouverneurs
wird in militärischer Hinsicht als sehr tadelnswert bezeichnet, dann heißt es:
"als Mensch dürfte er aber eher zu entschuldigen seyn. Er war 71 Jahre
alt, durch Krankheit, Blessuren und angestrengte Fatiguen des Gebrauchs eines
Theils seiner Glieder beraubt, demohngeachtet nahm er doch den Rest seiner
Kräfte zusammen und ordnete in der ersten Zeit bey Tag und bey Nacht alles
persönlich an. Eine solche Anstrengung konnte aber nicht von Dauer seyn; ihr
mußte Erschlaffung folgen. Freylich wäre es gut gewesen, wenn er gleich vom
Eintritt der Gefahr einen Conseil, bestehend aus den erfahrensten Generalen,
dem Ingenieur vom Platze und dem Artillerie-Chef, angeordnet Hütte, um die
Vertheidigungs-Anstalten planmäßig zu führen; dies erlaubte aber sein Trieb,
alles allein zu verfügen, nicht und er mochte wohl glauben, dies jetzt wie in
ruhigen Zeiten thun zu können. Kummer über das Unglück pes Staats und
über das Hinsinken seiner kräftigsten Stützen, den er als wahrer Patriot sehr
lebhaft fühlen mußte, und Aerger über die Auflösung aller Subordinations-
Verhältnisse mußten ihn natürlich oft verstimmen und ihn taub gegen den
Rath derjenigen seiner Untergebenen machen, die vielleicht, weil sie nicht so
tief als er die Zernichtung der Preußischen Glorie fühlten, mehr Besonnenheit
behielten. Unlautere Absichten hat er wenigstens bey der unglücklichen Ueber¬
gabe seiner Festung nicht gehabt, davon sprechen ihn alle Anzeigen, die Armuth,
in welcher er sein Leben beschloß und sein uneigennütziger Lebenswandel völlig
frey; nur seine militärische und politische Ansicht von seiner Lage war falsch
und diese verleitete ihn, von dem früher wiederholt geäußerten Entschlüsse
abzugehen, seine Festung bis zum letzten Blutstropfen zu vertheidigen."

Trotz dieser psychologisch feinen Erklärung seines Verhaltens wurde über
den verstorbnen General Gericht gehalten. Das Urteil des Kriegsgerichts
lautete, daß der General "wegen der im November 1806 sich schuldig ge¬
machten sehr übereilten, ganz eigenmächtigen und durchaus pflichtwidrigem
Uebergabe der wichtigen Festung Magdeburg an die Kayserlich französischen
Truppen, wenn er noch am Leben wäre, zu arquebusiren seyn würde".

Außer den Kommandanten von Küstrin und Magdeburg wurden noch zwei
Offiziere wegen der Übergabe von Schweidnitz, einer wegen der von Spandau,
und zwei wegen der Kapitulation bei Pasewalk nach dem Kriegsrecht des
Großen Kurfürsten von 1656 zum Tode verurteilt. Eines der Todesurteile
traf, wie oben erzählt worden ist, einen Toten. Von den übrigen bestätigte
der König nur eines, das gegen den Kommandanten von Küstrin. Vollstreckt
wurde es nicht. Jngersleben hatte sich nach Sachsen geflüchtet. Er starb im
Jahre 1814 in der Nähe von Leipzig.

Die Offiziere, die zwar nicht an den Kapitulationen beteiligt waren, aber
sonst ihre Pflicht verletzt hatten, wurden von der Kommission in drei Gruppen
eingeteilt. Die erste umfaßte die "Befehlshaber großer oder kleiner Detachements,


Das preußische Vffizierkorps von ^306 im Lichte neuer Forschungen

Magdeburg gefällt wird. Dieses Gutachten dürfte nach dem Arbeitsplan der
Kommission von Major von Pirch verfaßt sein. Das Verhalten des Gouverneurs
wird in militärischer Hinsicht als sehr tadelnswert bezeichnet, dann heißt es:
„als Mensch dürfte er aber eher zu entschuldigen seyn. Er war 71 Jahre
alt, durch Krankheit, Blessuren und angestrengte Fatiguen des Gebrauchs eines
Theils seiner Glieder beraubt, demohngeachtet nahm er doch den Rest seiner
Kräfte zusammen und ordnete in der ersten Zeit bey Tag und bey Nacht alles
persönlich an. Eine solche Anstrengung konnte aber nicht von Dauer seyn; ihr
mußte Erschlaffung folgen. Freylich wäre es gut gewesen, wenn er gleich vom
Eintritt der Gefahr einen Conseil, bestehend aus den erfahrensten Generalen,
dem Ingenieur vom Platze und dem Artillerie-Chef, angeordnet Hütte, um die
Vertheidigungs-Anstalten planmäßig zu führen; dies erlaubte aber sein Trieb,
alles allein zu verfügen, nicht und er mochte wohl glauben, dies jetzt wie in
ruhigen Zeiten thun zu können. Kummer über das Unglück pes Staats und
über das Hinsinken seiner kräftigsten Stützen, den er als wahrer Patriot sehr
lebhaft fühlen mußte, und Aerger über die Auflösung aller Subordinations-
Verhältnisse mußten ihn natürlich oft verstimmen und ihn taub gegen den
Rath derjenigen seiner Untergebenen machen, die vielleicht, weil sie nicht so
tief als er die Zernichtung der Preußischen Glorie fühlten, mehr Besonnenheit
behielten. Unlautere Absichten hat er wenigstens bey der unglücklichen Ueber¬
gabe seiner Festung nicht gehabt, davon sprechen ihn alle Anzeigen, die Armuth,
in welcher er sein Leben beschloß und sein uneigennütziger Lebenswandel völlig
frey; nur seine militärische und politische Ansicht von seiner Lage war falsch
und diese verleitete ihn, von dem früher wiederholt geäußerten Entschlüsse
abzugehen, seine Festung bis zum letzten Blutstropfen zu vertheidigen."

Trotz dieser psychologisch feinen Erklärung seines Verhaltens wurde über
den verstorbnen General Gericht gehalten. Das Urteil des Kriegsgerichts
lautete, daß der General „wegen der im November 1806 sich schuldig ge¬
machten sehr übereilten, ganz eigenmächtigen und durchaus pflichtwidrigem
Uebergabe der wichtigen Festung Magdeburg an die Kayserlich französischen
Truppen, wenn er noch am Leben wäre, zu arquebusiren seyn würde".

Außer den Kommandanten von Küstrin und Magdeburg wurden noch zwei
Offiziere wegen der Übergabe von Schweidnitz, einer wegen der von Spandau,
und zwei wegen der Kapitulation bei Pasewalk nach dem Kriegsrecht des
Großen Kurfürsten von 1656 zum Tode verurteilt. Eines der Todesurteile
traf, wie oben erzählt worden ist, einen Toten. Von den übrigen bestätigte
der König nur eines, das gegen den Kommandanten von Küstrin. Vollstreckt
wurde es nicht. Jngersleben hatte sich nach Sachsen geflüchtet. Er starb im
Jahre 1814 in der Nähe von Leipzig.

Die Offiziere, die zwar nicht an den Kapitulationen beteiligt waren, aber
sonst ihre Pflicht verletzt hatten, wurden von der Kommission in drei Gruppen
eingeteilt. Die erste umfaßte die „Befehlshaber großer oder kleiner Detachements,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0192" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300691"/>
          <fw type="header" place="top">  Das preußische Vffizierkorps von ^306 im Lichte neuer Forschungen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_768" prev="#ID_767"> Magdeburg gefällt wird. Dieses Gutachten dürfte nach dem Arbeitsplan der<lb/>
Kommission von Major von Pirch verfaßt sein. Das Verhalten des Gouverneurs<lb/>
wird in militärischer Hinsicht als sehr tadelnswert bezeichnet, dann heißt es:<lb/>
&#x201E;als Mensch dürfte er aber eher zu entschuldigen seyn. Er war 71 Jahre<lb/>
alt, durch Krankheit, Blessuren und angestrengte Fatiguen des Gebrauchs eines<lb/>
Theils seiner Glieder beraubt, demohngeachtet nahm er doch den Rest seiner<lb/>
Kräfte zusammen und ordnete in der ersten Zeit bey Tag und bey Nacht alles<lb/>
persönlich an. Eine solche Anstrengung konnte aber nicht von Dauer seyn; ihr<lb/>
mußte Erschlaffung folgen. Freylich wäre es gut gewesen, wenn er gleich vom<lb/>
Eintritt der Gefahr einen Conseil, bestehend aus den erfahrensten Generalen,<lb/>
dem Ingenieur vom Platze und dem Artillerie-Chef, angeordnet Hütte, um die<lb/>
Vertheidigungs-Anstalten planmäßig zu führen; dies erlaubte aber sein Trieb,<lb/>
alles allein zu verfügen, nicht und er mochte wohl glauben, dies jetzt wie in<lb/>
ruhigen Zeiten thun zu können. Kummer über das Unglück pes Staats und<lb/>
über das Hinsinken seiner kräftigsten Stützen, den er als wahrer Patriot sehr<lb/>
lebhaft fühlen mußte, und Aerger über die Auflösung aller Subordinations-<lb/>
Verhältnisse mußten ihn natürlich oft verstimmen und ihn taub gegen den<lb/>
Rath derjenigen seiner Untergebenen machen, die vielleicht, weil sie nicht so<lb/>
tief als er die Zernichtung der Preußischen Glorie fühlten, mehr Besonnenheit<lb/>
behielten. Unlautere Absichten hat er wenigstens bey der unglücklichen Ueber¬<lb/>
gabe seiner Festung nicht gehabt, davon sprechen ihn alle Anzeigen, die Armuth,<lb/>
in welcher er sein Leben beschloß und sein uneigennütziger Lebenswandel völlig<lb/>
frey; nur seine militärische und politische Ansicht von seiner Lage war falsch<lb/>
und diese verleitete ihn, von dem früher wiederholt geäußerten Entschlüsse<lb/>
abzugehen, seine Festung bis zum letzten Blutstropfen zu vertheidigen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_769"> Trotz dieser psychologisch feinen Erklärung seines Verhaltens wurde über<lb/>
den verstorbnen General Gericht gehalten. Das Urteil des Kriegsgerichts<lb/>
lautete, daß der General &#x201E;wegen der im November 1806 sich schuldig ge¬<lb/>
machten sehr übereilten, ganz eigenmächtigen und durchaus pflichtwidrigem<lb/>
Uebergabe der wichtigen Festung Magdeburg an die Kayserlich französischen<lb/>
Truppen, wenn er noch am Leben wäre, zu arquebusiren seyn würde".</p><lb/>
          <p xml:id="ID_770"> Außer den Kommandanten von Küstrin und Magdeburg wurden noch zwei<lb/>
Offiziere wegen der Übergabe von Schweidnitz, einer wegen der von Spandau,<lb/>
und zwei wegen der Kapitulation bei Pasewalk nach dem Kriegsrecht des<lb/>
Großen Kurfürsten von 1656 zum Tode verurteilt. Eines der Todesurteile<lb/>
traf, wie oben erzählt worden ist, einen Toten. Von den übrigen bestätigte<lb/>
der König nur eines, das gegen den Kommandanten von Küstrin. Vollstreckt<lb/>
wurde es nicht. Jngersleben hatte sich nach Sachsen geflüchtet. Er starb im<lb/>
Jahre 1814 in der Nähe von Leipzig.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_771" next="#ID_772"> Die Offiziere, die zwar nicht an den Kapitulationen beteiligt waren, aber<lb/>
sonst ihre Pflicht verletzt hatten, wurden von der Kommission in drei Gruppen<lb/>
eingeteilt. Die erste umfaßte die &#x201E;Befehlshaber großer oder kleiner Detachements,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0192] Das preußische Vffizierkorps von ^306 im Lichte neuer Forschungen Magdeburg gefällt wird. Dieses Gutachten dürfte nach dem Arbeitsplan der Kommission von Major von Pirch verfaßt sein. Das Verhalten des Gouverneurs wird in militärischer Hinsicht als sehr tadelnswert bezeichnet, dann heißt es: „als Mensch dürfte er aber eher zu entschuldigen seyn. Er war 71 Jahre alt, durch Krankheit, Blessuren und angestrengte Fatiguen des Gebrauchs eines Theils seiner Glieder beraubt, demohngeachtet nahm er doch den Rest seiner Kräfte zusammen und ordnete in der ersten Zeit bey Tag und bey Nacht alles persönlich an. Eine solche Anstrengung konnte aber nicht von Dauer seyn; ihr mußte Erschlaffung folgen. Freylich wäre es gut gewesen, wenn er gleich vom Eintritt der Gefahr einen Conseil, bestehend aus den erfahrensten Generalen, dem Ingenieur vom Platze und dem Artillerie-Chef, angeordnet Hütte, um die Vertheidigungs-Anstalten planmäßig zu führen; dies erlaubte aber sein Trieb, alles allein zu verfügen, nicht und er mochte wohl glauben, dies jetzt wie in ruhigen Zeiten thun zu können. Kummer über das Unglück pes Staats und über das Hinsinken seiner kräftigsten Stützen, den er als wahrer Patriot sehr lebhaft fühlen mußte, und Aerger über die Auflösung aller Subordinations- Verhältnisse mußten ihn natürlich oft verstimmen und ihn taub gegen den Rath derjenigen seiner Untergebenen machen, die vielleicht, weil sie nicht so tief als er die Zernichtung der Preußischen Glorie fühlten, mehr Besonnenheit behielten. Unlautere Absichten hat er wenigstens bey der unglücklichen Ueber¬ gabe seiner Festung nicht gehabt, davon sprechen ihn alle Anzeigen, die Armuth, in welcher er sein Leben beschloß und sein uneigennütziger Lebenswandel völlig frey; nur seine militärische und politische Ansicht von seiner Lage war falsch und diese verleitete ihn, von dem früher wiederholt geäußerten Entschlüsse abzugehen, seine Festung bis zum letzten Blutstropfen zu vertheidigen." Trotz dieser psychologisch feinen Erklärung seines Verhaltens wurde über den verstorbnen General Gericht gehalten. Das Urteil des Kriegsgerichts lautete, daß der General „wegen der im November 1806 sich schuldig ge¬ machten sehr übereilten, ganz eigenmächtigen und durchaus pflichtwidrigem Uebergabe der wichtigen Festung Magdeburg an die Kayserlich französischen Truppen, wenn er noch am Leben wäre, zu arquebusiren seyn würde". Außer den Kommandanten von Küstrin und Magdeburg wurden noch zwei Offiziere wegen der Übergabe von Schweidnitz, einer wegen der von Spandau, und zwei wegen der Kapitulation bei Pasewalk nach dem Kriegsrecht des Großen Kurfürsten von 1656 zum Tode verurteilt. Eines der Todesurteile traf, wie oben erzählt worden ist, einen Toten. Von den übrigen bestätigte der König nur eines, das gegen den Kommandanten von Küstrin. Vollstreckt wurde es nicht. Jngersleben hatte sich nach Sachsen geflüchtet. Er starb im Jahre 1814 in der Nähe von Leipzig. Die Offiziere, die zwar nicht an den Kapitulationen beteiligt waren, aber sonst ihre Pflicht verletzt hatten, wurden von der Kommission in drei Gruppen eingeteilt. Die erste umfaßte die „Befehlshaber großer oder kleiner Detachements,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/192
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/192>, abgerufen am 23.07.2024.