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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Das preußische Vffizierkorps von ^8O6 im Lichte neuer Forschungen

großes Stück Arbeit wurde der Kommission dadurch abgenommen, daß der
Konig einen Vorschlag des Generalleutnants von Grawert guthieß, wonach das
Verhalten der Frontoffiziere durch Regimentstribunale untersucht werden sollte,
die jedes Offizierkorps aus seiner Mitte zu wählen und einzusetzen hatte.

Dem Willen des Königs entsprechend beschränkte sich die Kommission auf
die Untersuchung des Verhaltens der höhern Führer in den Schlachten und in
den Gefechten an der Saale und auf dem Rückzüge sowie der Kapitulationen
der Festungen und einzelner Truppenteile. Daneben behielt sie die Oberleitung
der Negimentstribunale.

Zuerst nahm sie die Prüfung der Festungskapitulationen vor, danach die
des Verhaltens der Offiziere, die an der Saale kommandiert hatten, zuletzt
die der Kapitulationen auf freiem Felde. Diese letzte Arbeit war beim Ausbruch
der Befreiungskriege noch nicht erledigt und wurde überhaupt nicht beendet.
Im Jahre 1817 wurde die Untersuchung der Kapitulation bei Prenzlau und
der damit in Verbindung stehenden Kapitulationen niedergeschlagen.

Wie gewissenhaft die Kommission bei der Untersuchung vorging, geht
daraus hervor, daß sie für die Übergabe der Festungen neben den Gouverneuren
und Kommandanten die Befehlshaber der in den Festungen eingeschlossnen
Truppen sowie die Artillerie- und die Jngenieuroffiziere zur Rechenschaft zog,
daß sie die Berichte aller dieser Offiziere, den Wortlaut des Diensteides der
Festungskommandanten und des Jngenieurreglements, das streng geheim gehalten
wurde, einforderte, besonders auch daraus, daß sie auch Zivilpersonen der
Zeugenpflicht unterwarf. Man weiß, daß Zivilpersonen bedeutenden Anteil an
der Erhaltung Kolbergs hatten. Meist aber waren Zivilpersonen am Falle der
Festungen mitschuldig. Aus den Akten der Untersuchungskommission ergibt
sich, daß Joachim Nettelbeck an der Gemahlin des Kommandanten von Küstrin
eine Gesinnungsverwandte hatte. Als sich Oberst von Jngersleben anschickte
zur Abschließung der Kapitulation über die Oder zum Feinde zu fahren,
beschwor ihn seine Gattin nicht zum Feinde zu gehn und die Festung nicht
zu übergeben -- M6moiig.ö xroäitur aMsäam aoiss inolinAtÄS iaiv. se ladautss g.
ksiv.im8 lestiwtÄS. Hier war das Flehen der Frau umsonst. Die Heinrich Blank,
deren falsche Humanität und deren unseligen Kosmopolitismus Paul Heyse in
seinem Schauspiel Colberg schildert, waren in Küstrin zahlreicher und mächtiger
als die Nettelbeck. Der Kammerpräsident bestimmte den unschlüssiger Kom¬
mandanten zu der unheilvollen Fahrt in das Lager des Feindes. Ein Umstand
milderte das tragische Schicksal der unglücklichen Frau von Jngersleben. Sie
starb zwischen 1806 und 1808, erlebte also die Verurteilung ihres Mannes nicht,
die am 29. September 1809 erfolgte und am 14. November bestätigt wurde.

Mit welcher Sorgfalt sich die Mitglieder der Kommission die Entstehung
der unheilvollen Entschlüsse im Geiste der zu beurteilenden Offiziere vergegen¬
wärtigten, zeigt das Urteil, das über den Gouverneur von Magdeburg, General
^r Infanterie von Kleist, in dem Gutachten über die Kapitulation von


Das preußische Vffizierkorps von ^8O6 im Lichte neuer Forschungen

großes Stück Arbeit wurde der Kommission dadurch abgenommen, daß der
Konig einen Vorschlag des Generalleutnants von Grawert guthieß, wonach das
Verhalten der Frontoffiziere durch Regimentstribunale untersucht werden sollte,
die jedes Offizierkorps aus seiner Mitte zu wählen und einzusetzen hatte.

Dem Willen des Königs entsprechend beschränkte sich die Kommission auf
die Untersuchung des Verhaltens der höhern Führer in den Schlachten und in
den Gefechten an der Saale und auf dem Rückzüge sowie der Kapitulationen
der Festungen und einzelner Truppenteile. Daneben behielt sie die Oberleitung
der Negimentstribunale.

Zuerst nahm sie die Prüfung der Festungskapitulationen vor, danach die
des Verhaltens der Offiziere, die an der Saale kommandiert hatten, zuletzt
die der Kapitulationen auf freiem Felde. Diese letzte Arbeit war beim Ausbruch
der Befreiungskriege noch nicht erledigt und wurde überhaupt nicht beendet.
Im Jahre 1817 wurde die Untersuchung der Kapitulation bei Prenzlau und
der damit in Verbindung stehenden Kapitulationen niedergeschlagen.

Wie gewissenhaft die Kommission bei der Untersuchung vorging, geht
daraus hervor, daß sie für die Übergabe der Festungen neben den Gouverneuren
und Kommandanten die Befehlshaber der in den Festungen eingeschlossnen
Truppen sowie die Artillerie- und die Jngenieuroffiziere zur Rechenschaft zog,
daß sie die Berichte aller dieser Offiziere, den Wortlaut des Diensteides der
Festungskommandanten und des Jngenieurreglements, das streng geheim gehalten
wurde, einforderte, besonders auch daraus, daß sie auch Zivilpersonen der
Zeugenpflicht unterwarf. Man weiß, daß Zivilpersonen bedeutenden Anteil an
der Erhaltung Kolbergs hatten. Meist aber waren Zivilpersonen am Falle der
Festungen mitschuldig. Aus den Akten der Untersuchungskommission ergibt
sich, daß Joachim Nettelbeck an der Gemahlin des Kommandanten von Küstrin
eine Gesinnungsverwandte hatte. Als sich Oberst von Jngersleben anschickte
zur Abschließung der Kapitulation über die Oder zum Feinde zu fahren,
beschwor ihn seine Gattin nicht zum Feinde zu gehn und die Festung nicht
zu übergeben — M6moiig.ö xroäitur aMsäam aoiss inolinAtÄS iaiv. se ladautss g.
ksiv.im8 lestiwtÄS. Hier war das Flehen der Frau umsonst. Die Heinrich Blank,
deren falsche Humanität und deren unseligen Kosmopolitismus Paul Heyse in
seinem Schauspiel Colberg schildert, waren in Küstrin zahlreicher und mächtiger
als die Nettelbeck. Der Kammerpräsident bestimmte den unschlüssiger Kom¬
mandanten zu der unheilvollen Fahrt in das Lager des Feindes. Ein Umstand
milderte das tragische Schicksal der unglücklichen Frau von Jngersleben. Sie
starb zwischen 1806 und 1808, erlebte also die Verurteilung ihres Mannes nicht,
die am 29. September 1809 erfolgte und am 14. November bestätigt wurde.

Mit welcher Sorgfalt sich die Mitglieder der Kommission die Entstehung
der unheilvollen Entschlüsse im Geiste der zu beurteilenden Offiziere vergegen¬
wärtigten, zeigt das Urteil, das über den Gouverneur von Magdeburg, General
^r Infanterie von Kleist, in dem Gutachten über die Kapitulation von


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/191>, abgerufen am 23.07.2024.