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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Tiflis

Prinzip, daß wahnsinnige Preisaufschläge kein Betrug sind. Ähnlich ists im
Teppichhandel, zu dem man sehr viel Zeit und Geduld haben muß, und wobei
man gut tut, Äußerungen des Gefallens an wirklich schönen Stücken aufzusparen,
bis man in ihrem Besitz ist. Ein armenischer Teppichhändler hats uns mit
seinen Waren angetan.

Viele Läden dienten zugleich der Herstellung der Waren. Mehr originell als
appetitlich gings in einer persischen Bäckerei zu, in der die halbnackten Gestalten
große Teigfladen an einen dickbäuchigen runden Backherd klebten, der nach oben
in den Schornstein überging. Noch weniger erfreulich war freilich das Treiben
in der Barbierstube nebenan, wo sich Perser die Schädel rasieren ließen, und
wo die Gehilfen ihrem Opfer der Einfachheit halber auf die abzukratzenden
Flächen spuckten.

Ein höllisches Pflaster und schwache Anklänge an einen Vürgersteig zeugen
von dem Bestreben der staatlichen Gewalt, zu europäisieren. Ihre Vertreter, die
Schutzleute, die in ganz Rußland gleich uniformiert und mit dem Revolver aus¬
gerüstet sind, standen an den Hauptstraßen und beobachteten trotz ihrer schein¬
baren Gleichgiltigkeit sehr scharf. Ihre Selbsterhaltung verlangte es: sie erfreuen
sich, ob mit oder ohne Schuld ihrerseits, keiner Beliebtheit, und die letzte der
hundertundfünf Mordtaten, die Tiflis seit wenig Monaten in Aufregung hielten,
hatte einen braven Schutzmann das Leben gekostet. Bei Nacht wird das Polizei¬
aufgebot auf dem Maidan auf einen ganzen Zug und dazu eine halbe Sowie
Kosaken verstärkt. An einigen Stellen werden starke Posten aufgestellt, und
Patrouillen durchziehen das trübe erleuchtete Straßengewirr. Die Unruhen und
die allgemeine Unsicherheit hatten in Tiflis außerdem besondre militärische Ma߬
nahmen notwendig gemacht. Die Truppen wurden alarmbereit gehalten. Die
Hauptwache auf dem Golowinskiprospekt war von einer ganzen Kompagnie besetzt,
und die Konvoissotnje des Generalgouverneurs war jederzeit zum Ausrücken bereit,
ihre Pferde standen gesattelt in den von der Straße aus durch mehrere Tore
zugänglichen Ställen, während sich die Mannschaft die tödliche Langeweile dieses
halben Kriegszustandes durch Absingen ihrer melodischen aber wie alle slawische
Musik etwas schwermütig klingenden Lieder vertrieb.

Die Stimmung unter den höhern Offizieren und Beamten war dem Ernst
der Lage angemessen. Natürlich waren die Ereignisse in Baku ein Hauptthema
der Unterhaltung; die nach Tiflis geflüchteten und die Hotels bewohnenden
Privatpersonen taten das ihrige, es nach ihrer Weise zu variieren. Auch ruhige,
verständige Menschen vermeinten schon damals das Krachen aller Fugen des
Reiches zu hören und erzählten als Tatsache, daß alle Offiziere Todesurteile
von irgendeinem Revolutionskomitee empfangen hätten. Auffällig war immerhin
die Bestimmtheit, mit der für den kommenden Sonnabend der Wiederausbruch
der Unruhen in Baku versprochen und Reflexwirkungen im ganzen Kaukasien er¬
wartet wurden. Natürlich wollte der Chef des Gouvernements Tiflis, General S.,
dem wir mangels des noch nicht ernannten Statthalters unsern Besuch machten,


Tiflis

Prinzip, daß wahnsinnige Preisaufschläge kein Betrug sind. Ähnlich ists im
Teppichhandel, zu dem man sehr viel Zeit und Geduld haben muß, und wobei
man gut tut, Äußerungen des Gefallens an wirklich schönen Stücken aufzusparen,
bis man in ihrem Besitz ist. Ein armenischer Teppichhändler hats uns mit
seinen Waren angetan.

Viele Läden dienten zugleich der Herstellung der Waren. Mehr originell als
appetitlich gings in einer persischen Bäckerei zu, in der die halbnackten Gestalten
große Teigfladen an einen dickbäuchigen runden Backherd klebten, der nach oben
in den Schornstein überging. Noch weniger erfreulich war freilich das Treiben
in der Barbierstube nebenan, wo sich Perser die Schädel rasieren ließen, und
wo die Gehilfen ihrem Opfer der Einfachheit halber auf die abzukratzenden
Flächen spuckten.

Ein höllisches Pflaster und schwache Anklänge an einen Vürgersteig zeugen
von dem Bestreben der staatlichen Gewalt, zu europäisieren. Ihre Vertreter, die
Schutzleute, die in ganz Rußland gleich uniformiert und mit dem Revolver aus¬
gerüstet sind, standen an den Hauptstraßen und beobachteten trotz ihrer schein¬
baren Gleichgiltigkeit sehr scharf. Ihre Selbsterhaltung verlangte es: sie erfreuen
sich, ob mit oder ohne Schuld ihrerseits, keiner Beliebtheit, und die letzte der
hundertundfünf Mordtaten, die Tiflis seit wenig Monaten in Aufregung hielten,
hatte einen braven Schutzmann das Leben gekostet. Bei Nacht wird das Polizei¬
aufgebot auf dem Maidan auf einen ganzen Zug und dazu eine halbe Sowie
Kosaken verstärkt. An einigen Stellen werden starke Posten aufgestellt, und
Patrouillen durchziehen das trübe erleuchtete Straßengewirr. Die Unruhen und
die allgemeine Unsicherheit hatten in Tiflis außerdem besondre militärische Ma߬
nahmen notwendig gemacht. Die Truppen wurden alarmbereit gehalten. Die
Hauptwache auf dem Golowinskiprospekt war von einer ganzen Kompagnie besetzt,
und die Konvoissotnje des Generalgouverneurs war jederzeit zum Ausrücken bereit,
ihre Pferde standen gesattelt in den von der Straße aus durch mehrere Tore
zugänglichen Ställen, während sich die Mannschaft die tödliche Langeweile dieses
halben Kriegszustandes durch Absingen ihrer melodischen aber wie alle slawische
Musik etwas schwermütig klingenden Lieder vertrieb.

Die Stimmung unter den höhern Offizieren und Beamten war dem Ernst
der Lage angemessen. Natürlich waren die Ereignisse in Baku ein Hauptthema
der Unterhaltung; die nach Tiflis geflüchteten und die Hotels bewohnenden
Privatpersonen taten das ihrige, es nach ihrer Weise zu variieren. Auch ruhige,
verständige Menschen vermeinten schon damals das Krachen aller Fugen des
Reiches zu hören und erzählten als Tatsache, daß alle Offiziere Todesurteile
von irgendeinem Revolutionskomitee empfangen hätten. Auffällig war immerhin
die Bestimmtheit, mit der für den kommenden Sonnabend der Wiederausbruch
der Unruhen in Baku versprochen und Reflexwirkungen im ganzen Kaukasien er¬
wartet wurden. Natürlich wollte der Chef des Gouvernements Tiflis, General S.,
dem wir mangels des noch nicht ernannten Statthalters unsern Besuch machten,


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[0166] Tiflis Prinzip, daß wahnsinnige Preisaufschläge kein Betrug sind. Ähnlich ists im Teppichhandel, zu dem man sehr viel Zeit und Geduld haben muß, und wobei man gut tut, Äußerungen des Gefallens an wirklich schönen Stücken aufzusparen, bis man in ihrem Besitz ist. Ein armenischer Teppichhändler hats uns mit seinen Waren angetan. Viele Läden dienten zugleich der Herstellung der Waren. Mehr originell als appetitlich gings in einer persischen Bäckerei zu, in der die halbnackten Gestalten große Teigfladen an einen dickbäuchigen runden Backherd klebten, der nach oben in den Schornstein überging. Noch weniger erfreulich war freilich das Treiben in der Barbierstube nebenan, wo sich Perser die Schädel rasieren ließen, und wo die Gehilfen ihrem Opfer der Einfachheit halber auf die abzukratzenden Flächen spuckten. Ein höllisches Pflaster und schwache Anklänge an einen Vürgersteig zeugen von dem Bestreben der staatlichen Gewalt, zu europäisieren. Ihre Vertreter, die Schutzleute, die in ganz Rußland gleich uniformiert und mit dem Revolver aus¬ gerüstet sind, standen an den Hauptstraßen und beobachteten trotz ihrer schein¬ baren Gleichgiltigkeit sehr scharf. Ihre Selbsterhaltung verlangte es: sie erfreuen sich, ob mit oder ohne Schuld ihrerseits, keiner Beliebtheit, und die letzte der hundertundfünf Mordtaten, die Tiflis seit wenig Monaten in Aufregung hielten, hatte einen braven Schutzmann das Leben gekostet. Bei Nacht wird das Polizei¬ aufgebot auf dem Maidan auf einen ganzen Zug und dazu eine halbe Sowie Kosaken verstärkt. An einigen Stellen werden starke Posten aufgestellt, und Patrouillen durchziehen das trübe erleuchtete Straßengewirr. Die Unruhen und die allgemeine Unsicherheit hatten in Tiflis außerdem besondre militärische Ma߬ nahmen notwendig gemacht. Die Truppen wurden alarmbereit gehalten. Die Hauptwache auf dem Golowinskiprospekt war von einer ganzen Kompagnie besetzt, und die Konvoissotnje des Generalgouverneurs war jederzeit zum Ausrücken bereit, ihre Pferde standen gesattelt in den von der Straße aus durch mehrere Tore zugänglichen Ställen, während sich die Mannschaft die tödliche Langeweile dieses halben Kriegszustandes durch Absingen ihrer melodischen aber wie alle slawische Musik etwas schwermütig klingenden Lieder vertrieb. Die Stimmung unter den höhern Offizieren und Beamten war dem Ernst der Lage angemessen. Natürlich waren die Ereignisse in Baku ein Hauptthema der Unterhaltung; die nach Tiflis geflüchteten und die Hotels bewohnenden Privatpersonen taten das ihrige, es nach ihrer Weise zu variieren. Auch ruhige, verständige Menschen vermeinten schon damals das Krachen aller Fugen des Reiches zu hören und erzählten als Tatsache, daß alle Offiziere Todesurteile von irgendeinem Revolutionskomitee empfangen hätten. Auffällig war immerhin die Bestimmtheit, mit der für den kommenden Sonnabend der Wiederausbruch der Unruhen in Baku versprochen und Reflexwirkungen im ganzen Kaukasien er¬ wartet wurden. Natürlich wollte der Chef des Gouvernements Tiflis, General S., dem wir mangels des noch nicht ernannten Statthalters unsern Besuch machten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/166>, abgerufen am 23.07.2024.