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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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ficht und mit mehr Anpassung an den Gegner getroffen worden wären, mit
dem man zu tun hatte. So aber war die politische Niederlage des Staates schon
lange vor Ausbruch des Krieges entschieden. Seit der Entsendung Lombards
nach Brüssel im Jahre 1803 zu Napoleon hatte dieser ein hinreichendes Bild
der Kräfte gewonnen, die im preußischen Staatswesen leitend tütig waren.
Lombard hatte er nicht für ernst genommen, und daß der König gerade ihm
einen solchen Mann schickte, erschien ihm charakteristisch für die gesamte Hand¬
habung der preußischen Politik, die er nun mit leichter Mühe unter geschickter
Benutzung ihrer Schwächen Schritt für Schritt in die Zwangslage brachte, sich
entweder seinem Willen zu unterwerfen oder die bewaffnete Entscheidung unter
ungünstigen Verhältnissen suchen zu müssen.

Gewiß hat die Periode der Stein - Hardenbergschen Reformgesetzgebung
viele gebundne Kräfte im preußischen Staatswesen frei gemacht, die wenig Jahre
später in den Befreiungskämpfen zur vollen Geltung kamen. Aber so hoch
man die Wirkungen der Reformperiode nach dieser Richtung hin auch ein¬
schätzen will, es sind doch schließlich nur vier Jahre gewesen, innerhalb deren
sie unter dem Druck der Zeitverhültnisse, der französischen Belastung des Landes,
kurzum gegen Widerstände aller Art langsam zur Geltung kamen. Neben ihnen
wirkte der Haß und die ungeheure Erbitterung, die die französische Unterjochung
wachgerufen hatte, moralische Kräfte, die doch nur in einem gesunden Volks¬
körper leben können. Gerade die glorreiche, von Volk und Heer freudig ge¬
tragne Erhebung im Jahre 1813, aus der tiefsten Volksseele hervorgegangen
trotz der ungeheuern Opfer, die sechs Jahre lang das Land und seinen Wohl¬
stand erschöpft hatten, beweist, daß das Preußen von 1806 im Kern gesund
war, und daß nur Geist und Form der Staats- und Heeresleitung der durch
die französische Revolution und ihre Folgen veränderten Zeit nicht mehr an¬
gepaßt waren. War der Zusammenbruch ohnegleichen gewesen, so war es sechs
Jahre später auch die Erhebung. Der unbefangne historische Rückblick nach
hundert Jahren berechtigt die Enkel heute zu der Auffassung, daß wenn die
Schlacht bei Jena einerseits die Wirkung von Ursachen gewesen ist, die recht¬
zeitig zu beseitigen einer weitschauenden Regierung sehr wohl möglich gewesen
wäre, sie andrerseits wiederum selbst zur Ursache segensvoller Wirkungen ge¬
worden ist, deren wir uns noch heute in dem nmfesteten Frieden des geeinten
Deutschen Reiches erfreuen. Das Unglück wurde zur Quelle des Heils. Wie
dem über das Schlachtfeld von Jena dahinwcmdernden Schlossergesellen Dreyse
ein aufgefundnes preußisches Gewehr den Anstoß zur spätern Erfindung des
Zündnadelgewehrs bot, mit dem Preußen nach sechzig Jahren die siegreichen
Einigungskämpfe führte, so ist von jenem Tage und von jenem Schlachtfelde
auch die politische Wiedergeburt Preußens und damit Deutschlands ausgegangen.
Darum können wir am 14. Oktober an die Gräber der in der Doppelschlacht
Gefallenen, wenn auch mit Ernst und Wehmut, so doch in dem stolzen Bewußt¬
sein treten, daß sie nur den Anfang des Weges bezeichnen, der im Januar 1871


Jena

ficht und mit mehr Anpassung an den Gegner getroffen worden wären, mit
dem man zu tun hatte. So aber war die politische Niederlage des Staates schon
lange vor Ausbruch des Krieges entschieden. Seit der Entsendung Lombards
nach Brüssel im Jahre 1803 zu Napoleon hatte dieser ein hinreichendes Bild
der Kräfte gewonnen, die im preußischen Staatswesen leitend tütig waren.
Lombard hatte er nicht für ernst genommen, und daß der König gerade ihm
einen solchen Mann schickte, erschien ihm charakteristisch für die gesamte Hand¬
habung der preußischen Politik, die er nun mit leichter Mühe unter geschickter
Benutzung ihrer Schwächen Schritt für Schritt in die Zwangslage brachte, sich
entweder seinem Willen zu unterwerfen oder die bewaffnete Entscheidung unter
ungünstigen Verhältnissen suchen zu müssen.

Gewiß hat die Periode der Stein - Hardenbergschen Reformgesetzgebung
viele gebundne Kräfte im preußischen Staatswesen frei gemacht, die wenig Jahre
später in den Befreiungskämpfen zur vollen Geltung kamen. Aber so hoch
man die Wirkungen der Reformperiode nach dieser Richtung hin auch ein¬
schätzen will, es sind doch schließlich nur vier Jahre gewesen, innerhalb deren
sie unter dem Druck der Zeitverhültnisse, der französischen Belastung des Landes,
kurzum gegen Widerstände aller Art langsam zur Geltung kamen. Neben ihnen
wirkte der Haß und die ungeheure Erbitterung, die die französische Unterjochung
wachgerufen hatte, moralische Kräfte, die doch nur in einem gesunden Volks¬
körper leben können. Gerade die glorreiche, von Volk und Heer freudig ge¬
tragne Erhebung im Jahre 1813, aus der tiefsten Volksseele hervorgegangen
trotz der ungeheuern Opfer, die sechs Jahre lang das Land und seinen Wohl¬
stand erschöpft hatten, beweist, daß das Preußen von 1806 im Kern gesund
war, und daß nur Geist und Form der Staats- und Heeresleitung der durch
die französische Revolution und ihre Folgen veränderten Zeit nicht mehr an¬
gepaßt waren. War der Zusammenbruch ohnegleichen gewesen, so war es sechs
Jahre später auch die Erhebung. Der unbefangne historische Rückblick nach
hundert Jahren berechtigt die Enkel heute zu der Auffassung, daß wenn die
Schlacht bei Jena einerseits die Wirkung von Ursachen gewesen ist, die recht¬
zeitig zu beseitigen einer weitschauenden Regierung sehr wohl möglich gewesen
wäre, sie andrerseits wiederum selbst zur Ursache segensvoller Wirkungen ge¬
worden ist, deren wir uns noch heute in dem nmfesteten Frieden des geeinten
Deutschen Reiches erfreuen. Das Unglück wurde zur Quelle des Heils. Wie
dem über das Schlachtfeld von Jena dahinwcmdernden Schlossergesellen Dreyse
ein aufgefundnes preußisches Gewehr den Anstoß zur spätern Erfindung des
Zündnadelgewehrs bot, mit dem Preußen nach sechzig Jahren die siegreichen
Einigungskämpfe führte, so ist von jenem Tage und von jenem Schlachtfelde
auch die politische Wiedergeburt Preußens und damit Deutschlands ausgegangen.
Darum können wir am 14. Oktober an die Gräber der in der Doppelschlacht
Gefallenen, wenn auch mit Ernst und Wehmut, so doch in dem stolzen Bewußt¬
sein treten, daß sie nur den Anfang des Weges bezeichnen, der im Januar 1871


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/152>, abgerufen am 23.07.2024.