Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Instizreform

glieder des Oberlandesgerichts, 7 Mitglieder des Reichsgerichts, abgesehen von
den Kräften des Gerichtsschreiberei- und Zustellungsdienstes, alles vielleicht
wegen einiger Mark!) Daß bei der Vielheit der Instanzen die Entscheidung
der einzelnen Instanz, von der höchsten abgesehen, fast auf die Bedeutung eines
vorläufigen Gutachtens herabsank, und daß dabei eine Verschiedenheit der Ent¬
scheidungen mehr oder minder unvermeidlich war, erscheint ohne weiteres ein¬
leuchtend. Kein Wunder, daß bei einem solchen Verfahren die Autorität der
Rechtsprechung systematisch untergraben und das Volk in seiner Auffassung von
Recht und Gerechtigkeit irre wurde. Ein solches Verfahren erinnert in der Tat
an eine Lotterie mit vielen Ziehungen und läßt den im Volksmuude herrschenden
Sprachgebrauch, der Prozeß ist gewonnen oder verloren, nicht unbegründet er¬
scheinen. Noch heute kommt es vor, daß die Oberlandesgerichte als Berufungs¬
gerichte gegen Urteile der Landgerichte bei dem Mangel einer Berufungssumme
wegen der geringfügigsten Sachen, sogar wegen einiger Mark, angerufen werden
können. Nach der jüngst im Jnstizmiuisterialblatt veröffentlichten Statistik waren
im Jahre 1905 bei den Oberlandesgerichten in Preuße" nicht weniger als
9494 Beschwerden anhängig, die erfahrungsmäßig dem Gegenstande nach meisten¬
teils geringfügiger Art sind. Kein Wunder ferner, daß sich die Termine der
höhern Gerichte häufen, und daß über Prozeßverschleppung geklagt wird. Die
Klagen über Prozeßverschleppung, die von den Gerichten den Rechtsanwälten,
von diesen den Gerichten vorgeworfen wird, sind weniger auf Schuld der
Organe der Rechtspflege als auf Müugel der Prozeßordnung zurückzuführen.
Die Richter walten unermüdlich ihres Amtes und seufzen unter der Last der
Arbeit, aber trotzdem Unzufriedenheit des Publikums, Klagen über Prozeßver¬
schleppung und über mangelhafte Rechtspflege! Eine weitere Folge davon, daß
sich die höhern Gerichte mit Bagatellsachen befassen müssen, die eines solchen
Aufwandes von Kräften nicht wert sind, ist der Übelstand, daß ihre Zeit den
höhern, wichtigern Aufgaben des Berufs entzogen wird, und daß aus der Be¬
schäftigung mit dem vielen Kleinen die Gefahr erwächst, daß sich auch der Blick
ius Kleine verliert, und der Gesichtskreis beschränkt wird. Deshalb muß noch¬
mals betont werden, es muß mit dem kostspieligen und kostbaren Richter-
personal Maß gehalten und Wandel geschafft werden durch Änderung der Organi¬
sation oder des Verfahrens.




Zur Instizreform

glieder des Oberlandesgerichts, 7 Mitglieder des Reichsgerichts, abgesehen von
den Kräften des Gerichtsschreiberei- und Zustellungsdienstes, alles vielleicht
wegen einiger Mark!) Daß bei der Vielheit der Instanzen die Entscheidung
der einzelnen Instanz, von der höchsten abgesehen, fast auf die Bedeutung eines
vorläufigen Gutachtens herabsank, und daß dabei eine Verschiedenheit der Ent¬
scheidungen mehr oder minder unvermeidlich war, erscheint ohne weiteres ein¬
leuchtend. Kein Wunder, daß bei einem solchen Verfahren die Autorität der
Rechtsprechung systematisch untergraben und das Volk in seiner Auffassung von
Recht und Gerechtigkeit irre wurde. Ein solches Verfahren erinnert in der Tat
an eine Lotterie mit vielen Ziehungen und läßt den im Volksmuude herrschenden
Sprachgebrauch, der Prozeß ist gewonnen oder verloren, nicht unbegründet er¬
scheinen. Noch heute kommt es vor, daß die Oberlandesgerichte als Berufungs¬
gerichte gegen Urteile der Landgerichte bei dem Mangel einer Berufungssumme
wegen der geringfügigsten Sachen, sogar wegen einiger Mark, angerufen werden
können. Nach der jüngst im Jnstizmiuisterialblatt veröffentlichten Statistik waren
im Jahre 1905 bei den Oberlandesgerichten in Preuße» nicht weniger als
9494 Beschwerden anhängig, die erfahrungsmäßig dem Gegenstande nach meisten¬
teils geringfügiger Art sind. Kein Wunder ferner, daß sich die Termine der
höhern Gerichte häufen, und daß über Prozeßverschleppung geklagt wird. Die
Klagen über Prozeßverschleppung, die von den Gerichten den Rechtsanwälten,
von diesen den Gerichten vorgeworfen wird, sind weniger auf Schuld der
Organe der Rechtspflege als auf Müugel der Prozeßordnung zurückzuführen.
Die Richter walten unermüdlich ihres Amtes und seufzen unter der Last der
Arbeit, aber trotzdem Unzufriedenheit des Publikums, Klagen über Prozeßver¬
schleppung und über mangelhafte Rechtspflege! Eine weitere Folge davon, daß
sich die höhern Gerichte mit Bagatellsachen befassen müssen, die eines solchen
Aufwandes von Kräften nicht wert sind, ist der Übelstand, daß ihre Zeit den
höhern, wichtigern Aufgaben des Berufs entzogen wird, und daß aus der Be¬
schäftigung mit dem vielen Kleinen die Gefahr erwächst, daß sich auch der Blick
ius Kleine verliert, und der Gesichtskreis beschränkt wird. Deshalb muß noch¬
mals betont werden, es muß mit dem kostspieligen und kostbaren Richter-
personal Maß gehalten und Wandel geschafft werden durch Änderung der Organi¬
sation oder des Verfahrens.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0144" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300643"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Instizreform</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_563" prev="#ID_562"> glieder des Oberlandesgerichts, 7 Mitglieder des Reichsgerichts, abgesehen von<lb/>
den Kräften des Gerichtsschreiberei- und Zustellungsdienstes, alles vielleicht<lb/>
wegen einiger Mark!) Daß bei der Vielheit der Instanzen die Entscheidung<lb/>
der einzelnen Instanz, von der höchsten abgesehen, fast auf die Bedeutung eines<lb/>
vorläufigen Gutachtens herabsank, und daß dabei eine Verschiedenheit der Ent¬<lb/>
scheidungen mehr oder minder unvermeidlich war, erscheint ohne weiteres ein¬<lb/>
leuchtend. Kein Wunder, daß bei einem solchen Verfahren die Autorität der<lb/>
Rechtsprechung systematisch untergraben und das Volk in seiner Auffassung von<lb/>
Recht und Gerechtigkeit irre wurde. Ein solches Verfahren erinnert in der Tat<lb/>
an eine Lotterie mit vielen Ziehungen und läßt den im Volksmuude herrschenden<lb/>
Sprachgebrauch, der Prozeß ist gewonnen oder verloren, nicht unbegründet er¬<lb/>
scheinen. Noch heute kommt es vor, daß die Oberlandesgerichte als Berufungs¬<lb/>
gerichte gegen Urteile der Landgerichte bei dem Mangel einer Berufungssumme<lb/>
wegen der geringfügigsten Sachen, sogar wegen einiger Mark, angerufen werden<lb/>
können. Nach der jüngst im Jnstizmiuisterialblatt veröffentlichten Statistik waren<lb/>
im Jahre 1905 bei den Oberlandesgerichten in Preuße» nicht weniger als<lb/>
9494 Beschwerden anhängig, die erfahrungsmäßig dem Gegenstande nach meisten¬<lb/>
teils geringfügiger Art sind. Kein Wunder ferner, daß sich die Termine der<lb/>
höhern Gerichte häufen, und daß über Prozeßverschleppung geklagt wird. Die<lb/>
Klagen über Prozeßverschleppung, die von den Gerichten den Rechtsanwälten,<lb/>
von diesen den Gerichten vorgeworfen wird, sind weniger auf Schuld der<lb/>
Organe der Rechtspflege als auf Müugel der Prozeßordnung zurückzuführen.<lb/>
Die Richter walten unermüdlich ihres Amtes und seufzen unter der Last der<lb/>
Arbeit, aber trotzdem Unzufriedenheit des Publikums, Klagen über Prozeßver¬<lb/>
schleppung und über mangelhafte Rechtspflege! Eine weitere Folge davon, daß<lb/>
sich die höhern Gerichte mit Bagatellsachen befassen müssen, die eines solchen<lb/>
Aufwandes von Kräften nicht wert sind, ist der Übelstand, daß ihre Zeit den<lb/>
höhern, wichtigern Aufgaben des Berufs entzogen wird, und daß aus der Be¬<lb/>
schäftigung mit dem vielen Kleinen die Gefahr erwächst, daß sich auch der Blick<lb/>
ius Kleine verliert, und der Gesichtskreis beschränkt wird. Deshalb muß noch¬<lb/>
mals betont werden, es muß mit dem kostspieligen und kostbaren Richter-<lb/>
personal Maß gehalten und Wandel geschafft werden durch Änderung der Organi¬<lb/>
sation oder des Verfahrens.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0144] Zur Instizreform glieder des Oberlandesgerichts, 7 Mitglieder des Reichsgerichts, abgesehen von den Kräften des Gerichtsschreiberei- und Zustellungsdienstes, alles vielleicht wegen einiger Mark!) Daß bei der Vielheit der Instanzen die Entscheidung der einzelnen Instanz, von der höchsten abgesehen, fast auf die Bedeutung eines vorläufigen Gutachtens herabsank, und daß dabei eine Verschiedenheit der Ent¬ scheidungen mehr oder minder unvermeidlich war, erscheint ohne weiteres ein¬ leuchtend. Kein Wunder, daß bei einem solchen Verfahren die Autorität der Rechtsprechung systematisch untergraben und das Volk in seiner Auffassung von Recht und Gerechtigkeit irre wurde. Ein solches Verfahren erinnert in der Tat an eine Lotterie mit vielen Ziehungen und läßt den im Volksmuude herrschenden Sprachgebrauch, der Prozeß ist gewonnen oder verloren, nicht unbegründet er¬ scheinen. Noch heute kommt es vor, daß die Oberlandesgerichte als Berufungs¬ gerichte gegen Urteile der Landgerichte bei dem Mangel einer Berufungssumme wegen der geringfügigsten Sachen, sogar wegen einiger Mark, angerufen werden können. Nach der jüngst im Jnstizmiuisterialblatt veröffentlichten Statistik waren im Jahre 1905 bei den Oberlandesgerichten in Preuße» nicht weniger als 9494 Beschwerden anhängig, die erfahrungsmäßig dem Gegenstande nach meisten¬ teils geringfügiger Art sind. Kein Wunder ferner, daß sich die Termine der höhern Gerichte häufen, und daß über Prozeßverschleppung geklagt wird. Die Klagen über Prozeßverschleppung, die von den Gerichten den Rechtsanwälten, von diesen den Gerichten vorgeworfen wird, sind weniger auf Schuld der Organe der Rechtspflege als auf Müugel der Prozeßordnung zurückzuführen. Die Richter walten unermüdlich ihres Amtes und seufzen unter der Last der Arbeit, aber trotzdem Unzufriedenheit des Publikums, Klagen über Prozeßver¬ schleppung und über mangelhafte Rechtspflege! Eine weitere Folge davon, daß sich die höhern Gerichte mit Bagatellsachen befassen müssen, die eines solchen Aufwandes von Kräften nicht wert sind, ist der Übelstand, daß ihre Zeit den höhern, wichtigern Aufgaben des Berufs entzogen wird, und daß aus der Be¬ schäftigung mit dem vielen Kleinen die Gefahr erwächst, daß sich auch der Blick ius Kleine verliert, und der Gesichtskreis beschränkt wird. Deshalb muß noch¬ mals betont werden, es muß mit dem kostspieligen und kostbaren Richter- personal Maß gehalten und Wandel geschafft werden durch Änderung der Organi¬ sation oder des Verfahrens.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/144
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/144>, abgerufen am 25.08.2024.