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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Zur Iustizreform

In dem Bezirke des vormaligen Appellationsgerichtshofes zu Köln kam
man mit weniger als einem Viertel des jetzt dort vorhandnen Personals aus;
die Justiz stand in Ansehen, und die Bevölkerung war mit der Rechtspflege
zufrieden. Die inzwischen eingetretne bedeutende Vermehrung kann nur zum
Teil durch die Zunahme der Bevölkerung ihre Erklärung finden; zum großen
Teil ist sie durch Änderung der Gesetzgebung notwendig geworden. Das starke
Anwachsen der Richterzahl beweist, daß es so nicht fortgehn kann, und daß auf
anderm Wege, sei es durch Änderung der Organisation oder des Verfahrens,
Abhilfe geschafft werden muß. Dem Oberbürgermeister Dr. Adickes gebührt
das große Verdienst, auf die Notwendigkeit der Reform hingewiesen zu haben.
Ich nehme keinen Anstand, zu behaupten, daß die geltende Zivilprozeßordnung
in großem Maße an der Schwächung der Autorität der Gerichte und an dein
Sinken des Ansehens der Richter die Schuld trifft. Ihre siebenundzwanzig-
jährige Geltung ist die praktische Probe auf ihren Wert. Vom Standpunkte
doktrinärer Prinzipienreiterei ist sie das Muster der Vollkommenheit. Vom
Praktischen Standpunkt aber kann ihr bei aller Anerkennung ihrer Vorzüge
der Vorwurf nicht erspart bleiben, daß sie an bedeutenden Mängeln leidet. An
eine den Bedürfnissen des praktischen Lebens entsprechende Prozeßordnung ist
die Anforderung zu stellen, daß sie dem verletzten Rechte möglichst rasch, mit
ausreichender Sicherheit und mit einfachen Mitteln unter Berücksichtigung der
Kostenlast der Parteien sowohl als auch des Staates zum Siege verhilft. Es
soll nicht verkannt werden, daß der Kampf um das Recht eine ethische Be¬
deutung hat und als Vetütigung der Persönlichkeit der Betrachtung eine ideale
Seite darbietet. Bei der Gestaltung des Verfahrens darf der Gesetzgeber jedoch
die Tatsache nicht außer acht lassen, daß jeder Prozeß ein soziales und
wirtschaftliches Übel ist, das die Leidenschaften entfesselt und Opfer an Zeit
und Geld verlangt. Deshalb muß sein Ziel darauf gerichtet sein, das Proze߬
übel nicht über das notwendige Mindestmaß auszudehnen und der Proze߬
sucht sowie der Prozeßverschleppung möglichst zu steuern. Er muß sich vor
Augen halten, daß sich eine vollkommne Sicherheit richtiger Entscheidung
nicht immer erreichen läßt, und daß bei der UnVollkommenheit aller mensch¬
lichen Einrichtungen nicht das Erstreben unerreichbarer Ideale, sondern nur
das praktisch Durchführbare und Zweckmüßige seine Aufgabe sein kann. Wie
verhält sich nun zu diesen Anforderungen die Zivilprozeßordnung? Ein Bei¬
spiel kennzeichnet die ganze Richtung und damit ihren Hauptmangel. Unter
der Herrschaft der Zivilprozeßordnung in der Fassung vom 30. Januar 1877
konnte es vorkommen, daß ein Streit wegen des geringfügigsten Gegenstandes
im Wege der Beschwerde von dem Amtsgerichte durch alle Instanzen hindurch
bis an das Reichsgericht gebracht wurde. Welche Handhabe für eine Partei,
die darauf ausging, den Prozeß zu verschleppen! Welche Verschwendung von
Nichterkräften, die regelmäßig im umgekehrten Verhältnis zur Wichtigkeit des
Gegenstandes stand! (1 Amtsrichter, 3 Mitglieder des Landgerichts, 5 Mit-


Zur Iustizreform

In dem Bezirke des vormaligen Appellationsgerichtshofes zu Köln kam
man mit weniger als einem Viertel des jetzt dort vorhandnen Personals aus;
die Justiz stand in Ansehen, und die Bevölkerung war mit der Rechtspflege
zufrieden. Die inzwischen eingetretne bedeutende Vermehrung kann nur zum
Teil durch die Zunahme der Bevölkerung ihre Erklärung finden; zum großen
Teil ist sie durch Änderung der Gesetzgebung notwendig geworden. Das starke
Anwachsen der Richterzahl beweist, daß es so nicht fortgehn kann, und daß auf
anderm Wege, sei es durch Änderung der Organisation oder des Verfahrens,
Abhilfe geschafft werden muß. Dem Oberbürgermeister Dr. Adickes gebührt
das große Verdienst, auf die Notwendigkeit der Reform hingewiesen zu haben.
Ich nehme keinen Anstand, zu behaupten, daß die geltende Zivilprozeßordnung
in großem Maße an der Schwächung der Autorität der Gerichte und an dein
Sinken des Ansehens der Richter die Schuld trifft. Ihre siebenundzwanzig-
jährige Geltung ist die praktische Probe auf ihren Wert. Vom Standpunkte
doktrinärer Prinzipienreiterei ist sie das Muster der Vollkommenheit. Vom
Praktischen Standpunkt aber kann ihr bei aller Anerkennung ihrer Vorzüge
der Vorwurf nicht erspart bleiben, daß sie an bedeutenden Mängeln leidet. An
eine den Bedürfnissen des praktischen Lebens entsprechende Prozeßordnung ist
die Anforderung zu stellen, daß sie dem verletzten Rechte möglichst rasch, mit
ausreichender Sicherheit und mit einfachen Mitteln unter Berücksichtigung der
Kostenlast der Parteien sowohl als auch des Staates zum Siege verhilft. Es
soll nicht verkannt werden, daß der Kampf um das Recht eine ethische Be¬
deutung hat und als Vetütigung der Persönlichkeit der Betrachtung eine ideale
Seite darbietet. Bei der Gestaltung des Verfahrens darf der Gesetzgeber jedoch
die Tatsache nicht außer acht lassen, daß jeder Prozeß ein soziales und
wirtschaftliches Übel ist, das die Leidenschaften entfesselt und Opfer an Zeit
und Geld verlangt. Deshalb muß sein Ziel darauf gerichtet sein, das Proze߬
übel nicht über das notwendige Mindestmaß auszudehnen und der Proze߬
sucht sowie der Prozeßverschleppung möglichst zu steuern. Er muß sich vor
Augen halten, daß sich eine vollkommne Sicherheit richtiger Entscheidung
nicht immer erreichen läßt, und daß bei der UnVollkommenheit aller mensch¬
lichen Einrichtungen nicht das Erstreben unerreichbarer Ideale, sondern nur
das praktisch Durchführbare und Zweckmüßige seine Aufgabe sein kann. Wie
verhält sich nun zu diesen Anforderungen die Zivilprozeßordnung? Ein Bei¬
spiel kennzeichnet die ganze Richtung und damit ihren Hauptmangel. Unter
der Herrschaft der Zivilprozeßordnung in der Fassung vom 30. Januar 1877
konnte es vorkommen, daß ein Streit wegen des geringfügigsten Gegenstandes
im Wege der Beschwerde von dem Amtsgerichte durch alle Instanzen hindurch
bis an das Reichsgericht gebracht wurde. Welche Handhabe für eine Partei,
die darauf ausging, den Prozeß zu verschleppen! Welche Verschwendung von
Nichterkräften, die regelmäßig im umgekehrten Verhältnis zur Wichtigkeit des
Gegenstandes stand! (1 Amtsrichter, 3 Mitglieder des Landgerichts, 5 Mit-


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[0143] Zur Iustizreform In dem Bezirke des vormaligen Appellationsgerichtshofes zu Köln kam man mit weniger als einem Viertel des jetzt dort vorhandnen Personals aus; die Justiz stand in Ansehen, und die Bevölkerung war mit der Rechtspflege zufrieden. Die inzwischen eingetretne bedeutende Vermehrung kann nur zum Teil durch die Zunahme der Bevölkerung ihre Erklärung finden; zum großen Teil ist sie durch Änderung der Gesetzgebung notwendig geworden. Das starke Anwachsen der Richterzahl beweist, daß es so nicht fortgehn kann, und daß auf anderm Wege, sei es durch Änderung der Organisation oder des Verfahrens, Abhilfe geschafft werden muß. Dem Oberbürgermeister Dr. Adickes gebührt das große Verdienst, auf die Notwendigkeit der Reform hingewiesen zu haben. Ich nehme keinen Anstand, zu behaupten, daß die geltende Zivilprozeßordnung in großem Maße an der Schwächung der Autorität der Gerichte und an dein Sinken des Ansehens der Richter die Schuld trifft. Ihre siebenundzwanzig- jährige Geltung ist die praktische Probe auf ihren Wert. Vom Standpunkte doktrinärer Prinzipienreiterei ist sie das Muster der Vollkommenheit. Vom Praktischen Standpunkt aber kann ihr bei aller Anerkennung ihrer Vorzüge der Vorwurf nicht erspart bleiben, daß sie an bedeutenden Mängeln leidet. An eine den Bedürfnissen des praktischen Lebens entsprechende Prozeßordnung ist die Anforderung zu stellen, daß sie dem verletzten Rechte möglichst rasch, mit ausreichender Sicherheit und mit einfachen Mitteln unter Berücksichtigung der Kostenlast der Parteien sowohl als auch des Staates zum Siege verhilft. Es soll nicht verkannt werden, daß der Kampf um das Recht eine ethische Be¬ deutung hat und als Vetütigung der Persönlichkeit der Betrachtung eine ideale Seite darbietet. Bei der Gestaltung des Verfahrens darf der Gesetzgeber jedoch die Tatsache nicht außer acht lassen, daß jeder Prozeß ein soziales und wirtschaftliches Übel ist, das die Leidenschaften entfesselt und Opfer an Zeit und Geld verlangt. Deshalb muß sein Ziel darauf gerichtet sein, das Proze߬ übel nicht über das notwendige Mindestmaß auszudehnen und der Proze߬ sucht sowie der Prozeßverschleppung möglichst zu steuern. Er muß sich vor Augen halten, daß sich eine vollkommne Sicherheit richtiger Entscheidung nicht immer erreichen läßt, und daß bei der UnVollkommenheit aller mensch¬ lichen Einrichtungen nicht das Erstreben unerreichbarer Ideale, sondern nur das praktisch Durchführbare und Zweckmüßige seine Aufgabe sein kann. Wie verhält sich nun zu diesen Anforderungen die Zivilprozeßordnung? Ein Bei¬ spiel kennzeichnet die ganze Richtung und damit ihren Hauptmangel. Unter der Herrschaft der Zivilprozeßordnung in der Fassung vom 30. Januar 1877 konnte es vorkommen, daß ein Streit wegen des geringfügigsten Gegenstandes im Wege der Beschwerde von dem Amtsgerichte durch alle Instanzen hindurch bis an das Reichsgericht gebracht wurde. Welche Handhabe für eine Partei, die darauf ausging, den Prozeß zu verschleppen! Welche Verschwendung von Nichterkräften, die regelmäßig im umgekehrten Verhältnis zur Wichtigkeit des Gegenstandes stand! (1 Amtsrichter, 3 Mitglieder des Landgerichts, 5 Mit-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/143>, abgerufen am 23.07.2024.