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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Zur Justizreform

mit dem Publikum haben als die Jnstanzgerichte. Wenn wirklich ein Unterschied
in der Rechtsprechung bestehn sollte, so findet er seine natürliche Erklärung in
der Verschiedenheit der Gesetzgebung, zu deren Korrektur das Reichsgericht nicht
das Recht hat. Daß der Rechtsprechung des Reichsgerichts in Zivilsachen aller¬
dings nicht der Vorwurf der Rückständigkeit gemacht werden kann, dafür dürfte
als Zeugnis die Anerkennung dienen, die dessen Tätigkeit in Patentsachen, also
auf dem Gebiete der Technik und des Fortschritts, aus Anlaß der Novelle
betreffend die Entlastung des Reichsgerichts gefunden hat. Die Kritik, die Hamm
an der strafrechtlichen Rechtsprechung des Reichsgerichts geübt hat, ist wieder einer
Kritik durch den Senatspräsidenten beim Reichsgericht Freiherrn von Bülow
in der Deutschen Juristenzeitung, elfter Jahrgang, Seite 40 jedenfalls mit guten
Gründen unterzogen worden. Ob die eine oder die andre Kritik die größere
Berechtigung für sich hat, kann dahingestellt bleiben. Hier genügt es, darauf
hinzuweisen, daß auch eine Kritik von so hochstehender und berufner Seite in
ihrem Ergebnis nicht über allen Zweifel erhaben ist. Man wird in der An¬
nahme nicht fehlgehn, daß so manche Kritik richterlicher Entscheidungen, die
dem Richter Weltfremdheit vorwirft, auf eine andre Ansicht hinausläuft, die
richtig, aber auch unrichtig sein kann. Bei der Würdigung einer solchen Kritik
sollte man jedenfalls nie außer acht lassen, daß, wie die Parteien selbst über das
Recht ernsthaft streiten, so auch eine verschiedne Auffassung aller derer nicht
ausgeschlossen ist, die zur Urteilsfindung berufen sind oder sich hierzu berufen
fühlen. Diese Gedankenreihe schließe ich ab mit dem Urteil eines hervor¬
ragenden Mannes, der nicht dem Nichterstande angehört. In einem Aufsatze
"Rechtspflege und volkstümliches Rechtsbewußtsein" (Deutsche Juristenzeitung,
zehnter Jahrgang, Seite 10) schreibt Professor Laband:

"Wer die Sammlungen der Entscheidungen in bürgerlichen Rechtssachen
durchsieht, wird sich der Überzeugung nicht verschließen, daß die Gerichte redlich
bemüht sind, unter sorgfältiger Würdigung der Verkehrsbedürfnisfe und nach
Billigkeit zu entscheiden, und daß der Vorwurf tut ^ustitiA xsrsat inrmäus
auf ihre Urteile nicht zutrifft. Man darf aber nicht übersehen, daß der Richter
an eine doppelte Schranke gebunden ist: einerseits an die positiven Vorschriften
der Gesetze, andrerseits an das von den Parteien ihm unterbreitete Material,
welches nicht immer vollständig und sachgemäß ist, sodaß manches ungerechte
Urteil von den Parteien selbst verschuldet ist."

Ergeben die vorstehenden Ausführungen, daß die abfälligen Urteile über
die Rechtsprechung jedenfalls mit Vorsicht aufzunehmen sind, so soll doch den
Klagen über Mängel in der Rechtspflege nicht alle Berechtigung abgesprochen
werden. Eine andre Frage ist es jedoch, wieviel hiervon auf Schuld der Gerichte,
wieviel auf die Justizverwaltung und Gesetzgebung zurückzuführen ist. Da die
Reform der Strafjustiz im Werke und schon anderweit einer eingehenden Kritik
unterworfen wordeu ist, so soll hier bloß die Zivilrechtspflege in den Kreis der
Erörterungen gezogen werden.


Zur Justizreform

mit dem Publikum haben als die Jnstanzgerichte. Wenn wirklich ein Unterschied
in der Rechtsprechung bestehn sollte, so findet er seine natürliche Erklärung in
der Verschiedenheit der Gesetzgebung, zu deren Korrektur das Reichsgericht nicht
das Recht hat. Daß der Rechtsprechung des Reichsgerichts in Zivilsachen aller¬
dings nicht der Vorwurf der Rückständigkeit gemacht werden kann, dafür dürfte
als Zeugnis die Anerkennung dienen, die dessen Tätigkeit in Patentsachen, also
auf dem Gebiete der Technik und des Fortschritts, aus Anlaß der Novelle
betreffend die Entlastung des Reichsgerichts gefunden hat. Die Kritik, die Hamm
an der strafrechtlichen Rechtsprechung des Reichsgerichts geübt hat, ist wieder einer
Kritik durch den Senatspräsidenten beim Reichsgericht Freiherrn von Bülow
in der Deutschen Juristenzeitung, elfter Jahrgang, Seite 40 jedenfalls mit guten
Gründen unterzogen worden. Ob die eine oder die andre Kritik die größere
Berechtigung für sich hat, kann dahingestellt bleiben. Hier genügt es, darauf
hinzuweisen, daß auch eine Kritik von so hochstehender und berufner Seite in
ihrem Ergebnis nicht über allen Zweifel erhaben ist. Man wird in der An¬
nahme nicht fehlgehn, daß so manche Kritik richterlicher Entscheidungen, die
dem Richter Weltfremdheit vorwirft, auf eine andre Ansicht hinausläuft, die
richtig, aber auch unrichtig sein kann. Bei der Würdigung einer solchen Kritik
sollte man jedenfalls nie außer acht lassen, daß, wie die Parteien selbst über das
Recht ernsthaft streiten, so auch eine verschiedne Auffassung aller derer nicht
ausgeschlossen ist, die zur Urteilsfindung berufen sind oder sich hierzu berufen
fühlen. Diese Gedankenreihe schließe ich ab mit dem Urteil eines hervor¬
ragenden Mannes, der nicht dem Nichterstande angehört. In einem Aufsatze
„Rechtspflege und volkstümliches Rechtsbewußtsein" (Deutsche Juristenzeitung,
zehnter Jahrgang, Seite 10) schreibt Professor Laband:

„Wer die Sammlungen der Entscheidungen in bürgerlichen Rechtssachen
durchsieht, wird sich der Überzeugung nicht verschließen, daß die Gerichte redlich
bemüht sind, unter sorgfältiger Würdigung der Verkehrsbedürfnisfe und nach
Billigkeit zu entscheiden, und daß der Vorwurf tut ^ustitiA xsrsat inrmäus
auf ihre Urteile nicht zutrifft. Man darf aber nicht übersehen, daß der Richter
an eine doppelte Schranke gebunden ist: einerseits an die positiven Vorschriften
der Gesetze, andrerseits an das von den Parteien ihm unterbreitete Material,
welches nicht immer vollständig und sachgemäß ist, sodaß manches ungerechte
Urteil von den Parteien selbst verschuldet ist."

Ergeben die vorstehenden Ausführungen, daß die abfälligen Urteile über
die Rechtsprechung jedenfalls mit Vorsicht aufzunehmen sind, so soll doch den
Klagen über Mängel in der Rechtspflege nicht alle Berechtigung abgesprochen
werden. Eine andre Frage ist es jedoch, wieviel hiervon auf Schuld der Gerichte,
wieviel auf die Justizverwaltung und Gesetzgebung zurückzuführen ist. Da die
Reform der Strafjustiz im Werke und schon anderweit einer eingehenden Kritik
unterworfen wordeu ist, so soll hier bloß die Zivilrechtspflege in den Kreis der
Erörterungen gezogen werden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/140>, abgerufen am 23.07.2024.