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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Gegen die Agitation der Sozialdemokratie

Anzahl von "Genossen" Mitglieder der kantonalen und der eidgenössischen
Behörden, der Rate usw. sind. Wir finden sie außerdem als Richter, Staats¬
anwälte, Geistliche und sehr zahlreich als Lehrer. Ein Zusammenschluß der
bürgerlichen Parteien -- namentlich zu Wahlzwecken -- wird auch in der
Schweiz mehr und mehr erstrebt, stößt aber auch hier, genau wie in Deutsch¬
land, auf die Schwierigkeiten, die durch die besondern Verhältnisse, Interessen
und Zänkereien dieser Parteien hervorgerufen werden. Trotzdem sind auch
wir der Ansicht des erwähnten Artikels des Reichsboten, daß eine Ver¬
ständigung der Nichtsozialdemokraten nicht allein dringend notwendig, sondern
auch wohl durchführbar wäre, denn wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.
Die meisten Schwierigkeiten wird ein Einvernehmen mit der am meisten links
stehenden freisinnig-demokratischen Partei bieten, weil diese -- trotz ihrer Ab¬
leugnung -- mehr und mehr zur Sozialdemokratie hinneigt und ihr mehr und
mehr ihre Sympathien widmet. An dieser bedauerlichen Erscheinung wird durch¬
aus nichts dadurch geändert, daß die freisinnige Presse oft gegen die Sozial¬
demokratie schreibt und sie befehdet; dies ist eigentlich nur der Fall, wenn sie
von der sozialdemokratischen Presse einmal auf den Fuß getreten, also persön¬
lich beleidigt wird -- in den Hauptfragen stimmt sie doch mit dem sozial¬
demokratischen Programm überein, und sie würde eine vollständige Allianz
mit der Sozialdemokratie zur Bekämpfung der konservativen Partei, des
Zentrums, der Nationalliberalen nur zu gern sehen. Genau so wie sich die
Sozialdemokrcitcn öffentlich als Gegner der Anarchisten erklären, denen sie
doch im Grunde außerordentlich nahe stehn, genau so ist die Scheidewand
zwischen der am meisten links stehenden freisinnigen Demokratie (zum Beispiel
Frankfurter Zeitung) und der Sozialdemokratie recht durchsichtig. Für alle
andern Parteien scheint uns aber eine Verständigung, zunächst zu Wahl¬
zwecken, im Bereiche der Möglichkeit zu liegen, wenn jede der in Frage
kommenden Parteien bereit ist, ihre Spezialforderungen nicht unbedingt auf¬
recht zu erhalten und demnach nicht immer eigne Kandidaten aufzustellen.
Agrarier, Bauernbündler, Antisemiten sollten sich in der Hauptsache immer
den von Konservativen, Zentrum oder Nationalliberalen aufgestellten Kandi¬
daten anschließen; für diese drei Hauptparteien müßte aber ein Modus der
Verständigung durch gegenseitiges Nachgeben geschaffen werden. Kann man
dann die Freisinnigen zum Beitritt gewinnen -- um so besser.

Was nun den Vorwurf betrifft, den der Reichsbote den Regierungen
macht, daß sie untätig zusähen, "wie die nationalen Parteien mehr und mehr
unter die sozialen Räuber fallen", so müssen wir der Zeitung leider in ge¬
wisser Hinsicht und bis auf einen gewissen Punkt Recht geben. Wir sollten
nämlich denken, daß auch ohne Ausnahmegesetzgebung die Regierungen jetzt
schon genügende Machtvollkommenheiten hätten, energischer gegen die Agitation
der Sozialdemokratie vorzugehn. Man muß sich doch fragen, was werden soll,
wenn es so fortgeht, wenn nicht allein die sozialdemokratischen Stimmen bei


Gegen die Agitation der Sozialdemokratie

Anzahl von „Genossen" Mitglieder der kantonalen und der eidgenössischen
Behörden, der Rate usw. sind. Wir finden sie außerdem als Richter, Staats¬
anwälte, Geistliche und sehr zahlreich als Lehrer. Ein Zusammenschluß der
bürgerlichen Parteien — namentlich zu Wahlzwecken — wird auch in der
Schweiz mehr und mehr erstrebt, stößt aber auch hier, genau wie in Deutsch¬
land, auf die Schwierigkeiten, die durch die besondern Verhältnisse, Interessen
und Zänkereien dieser Parteien hervorgerufen werden. Trotzdem sind auch
wir der Ansicht des erwähnten Artikels des Reichsboten, daß eine Ver¬
ständigung der Nichtsozialdemokraten nicht allein dringend notwendig, sondern
auch wohl durchführbar wäre, denn wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.
Die meisten Schwierigkeiten wird ein Einvernehmen mit der am meisten links
stehenden freisinnig-demokratischen Partei bieten, weil diese — trotz ihrer Ab¬
leugnung — mehr und mehr zur Sozialdemokratie hinneigt und ihr mehr und
mehr ihre Sympathien widmet. An dieser bedauerlichen Erscheinung wird durch¬
aus nichts dadurch geändert, daß die freisinnige Presse oft gegen die Sozial¬
demokratie schreibt und sie befehdet; dies ist eigentlich nur der Fall, wenn sie
von der sozialdemokratischen Presse einmal auf den Fuß getreten, also persön¬
lich beleidigt wird — in den Hauptfragen stimmt sie doch mit dem sozial¬
demokratischen Programm überein, und sie würde eine vollständige Allianz
mit der Sozialdemokratie zur Bekämpfung der konservativen Partei, des
Zentrums, der Nationalliberalen nur zu gern sehen. Genau so wie sich die
Sozialdemokrcitcn öffentlich als Gegner der Anarchisten erklären, denen sie
doch im Grunde außerordentlich nahe stehn, genau so ist die Scheidewand
zwischen der am meisten links stehenden freisinnigen Demokratie (zum Beispiel
Frankfurter Zeitung) und der Sozialdemokratie recht durchsichtig. Für alle
andern Parteien scheint uns aber eine Verständigung, zunächst zu Wahl¬
zwecken, im Bereiche der Möglichkeit zu liegen, wenn jede der in Frage
kommenden Parteien bereit ist, ihre Spezialforderungen nicht unbedingt auf¬
recht zu erhalten und demnach nicht immer eigne Kandidaten aufzustellen.
Agrarier, Bauernbündler, Antisemiten sollten sich in der Hauptsache immer
den von Konservativen, Zentrum oder Nationalliberalen aufgestellten Kandi¬
daten anschließen; für diese drei Hauptparteien müßte aber ein Modus der
Verständigung durch gegenseitiges Nachgeben geschaffen werden. Kann man
dann die Freisinnigen zum Beitritt gewinnen — um so besser.

Was nun den Vorwurf betrifft, den der Reichsbote den Regierungen
macht, daß sie untätig zusähen, „wie die nationalen Parteien mehr und mehr
unter die sozialen Räuber fallen", so müssen wir der Zeitung leider in ge¬
wisser Hinsicht und bis auf einen gewissen Punkt Recht geben. Wir sollten
nämlich denken, daß auch ohne Ausnahmegesetzgebung die Regierungen jetzt
schon genügende Machtvollkommenheiten hätten, energischer gegen die Agitation
der Sozialdemokratie vorzugehn. Man muß sich doch fragen, was werden soll,
wenn es so fortgeht, wenn nicht allein die sozialdemokratischen Stimmen bei


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/14>, abgerufen am 23.07.2024.