Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.Russische Briefe und Unwürdigen ihrer Rolle nicht bewußt geworden. Sie haben vielmehr immer Was die Rolle der Kadetten im allgemeinen betrifft, so möchte ich sie *) Über die Persönlichkeit des Grasen Witte findet sich ein ausführlicher Aufsatz im März¬
heft von 1906 der Deutschen Monatsschrift, herausgegeben von Professor Dr. Otto Hoetzsch, Russische Briefe und Unwürdigen ihrer Rolle nicht bewußt geworden. Sie haben vielmehr immer Was die Rolle der Kadetten im allgemeinen betrifft, so möchte ich sie *) Über die Persönlichkeit des Grasen Witte findet sich ein ausführlicher Aufsatz im März¬
heft von 1906 der Deutschen Monatsschrift, herausgegeben von Professor Dr. Otto Hoetzsch, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0136" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300635"/> <fw type="header" place="top"> Russische Briefe</fw><lb/> <p xml:id="ID_546" prev="#ID_545"> und Unwürdigen ihrer Rolle nicht bewußt geworden. Sie haben vielmehr immer<lb/> darauf hingewiesen, daß sie die Führung haben und nur zur Bildung eines<lb/> Ministeriums zugelassen zu werden brauchten, um das Land zu beruhigen. Und<lb/> dabei ging ihre Unterordnung unter die Revolutionäre so weit, daß sie es nicht<lb/> wagen durften, in der Dnma gegen den politischen Mord zu protestieren. Wie<lb/> falsch ihre Ansicht war, geht schon aus dem Verhalten der sozinldemokratischen<lb/> und sozialrevolutionären Presse hervor. Bis zum Oktober 1905 stand in den<lb/> im Auslande erscheinenden Blättern der Sozialisten, wie Jskra, Proletarii,<lb/> Jswjesti Bunda, Revolutionnaja Rossija, Sozialdemokrat zu lesen: „Genossen,<lb/> unterstützt die Bourgeois nur so lange, als sie revolutionär sind. Wenn sie einen<lb/> Schritt vorwärts streben, dann stoßt sie zehn voran. Laßt sie aber nicht glauben,<lb/> daß wir ihnen die Kastanien aus dem Feuer holen würden, um sie zur Macht<lb/> zu bringen. Die Sjemstwomünner streben nach dem Ministerportefeuille, wir<lb/> aber erstreben die föderative Republik!" Als dann nach dem neuen Preßregulativ<lb/> vom Februar 1906 die genannten Blätter unter andrer Bezeichnung nach Ru߬<lb/> land übersiedelten, wurden die Kadetten in ihnen genau ebenso mitgenommen<lb/> wie die Vertreter der hohen Bureaukratie. Hätten die Kadetten wirklich den<lb/> Versuch gemacht, Minister zu spielen, dann wären sie von ihren „Bundes¬<lb/> genossen" wahrscheinlich ebenso beiseite geschoben worden wie in der Duma,<lb/> oder aber sie hätten ebenso zur Waffe greifen müssen, wie nun endlich — elf<lb/> Monate zu spät — Stolypin es tut. Dann aber Hütten sie zugleich ihrer<lb/> ganzen revolutionären Vergangenheit entsagen müssen, und das halte ich schon<lb/> aus ganz menschlichen Gründen für ausgeschlossen. Die Weigerung Goremykins,<lb/> Kadetten in größerer Zahl zu Ministern zu machen, kann dem sonst wenig<lb/> befähigten Manne nicht hoch genug angerechnet werden — vor allen Dingen<lb/> von der Partei selbst.</p><lb/> <p xml:id="ID_547" next="#ID_548"> Was die Rolle der Kadetten im allgemeinen betrifft, so möchte ich sie<lb/> vergleichen mit der, die Graf Wildes spielte. Beide verheimlichten ihre wahre<lb/> Gesinnung. Sie wollten es mit der schließlich siegenden Richtung nicht ver¬<lb/> derben; die aber stand noch nicht fest. Bei Witte handelte es sich um Auto¬<lb/> kratie oder Konstitution — bei den Kadetten um Monarchie oder Republik.<lb/> Beide maskierten die revolutionäre Organisation, weil sie nicht den Mut hatten,<lb/> im gegebnen Augenblick durchzugreifen oder aber in der Erkenntnis ihrer eignen<lb/> Ohnmacht von der politischen Bühne abzutreten. Hinter Witte ordneten die<lb/> Reaktionäre ihre Reihen, hinter den Kadetten betrieb die Arbeitsgruppe den<lb/> Ausbruch der Revolution. Beide haben sie das Ausland durch dessen Presse<lb/> für sich eingenommen, und beide haben sie durch ihre einseitige Darstellung der<lb/> Verhältnisse dem Ausland eine ganz falsche Meinung von ihren politischen<lb/> Fähigkeiten beigebracht. Sehr schädlich hat in dieser Beziehung auch die in</p><lb/> <note xml:id="FID_10" place="foot"> *) Über die Persönlichkeit des Grasen Witte findet sich ein ausführlicher Aufsatz im März¬<lb/> heft von 1906 der Deutschen Monatsschrift, herausgegeben von Professor Dr. Otto Hoetzsch,</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0136]
Russische Briefe
und Unwürdigen ihrer Rolle nicht bewußt geworden. Sie haben vielmehr immer
darauf hingewiesen, daß sie die Führung haben und nur zur Bildung eines
Ministeriums zugelassen zu werden brauchten, um das Land zu beruhigen. Und
dabei ging ihre Unterordnung unter die Revolutionäre so weit, daß sie es nicht
wagen durften, in der Dnma gegen den politischen Mord zu protestieren. Wie
falsch ihre Ansicht war, geht schon aus dem Verhalten der sozinldemokratischen
und sozialrevolutionären Presse hervor. Bis zum Oktober 1905 stand in den
im Auslande erscheinenden Blättern der Sozialisten, wie Jskra, Proletarii,
Jswjesti Bunda, Revolutionnaja Rossija, Sozialdemokrat zu lesen: „Genossen,
unterstützt die Bourgeois nur so lange, als sie revolutionär sind. Wenn sie einen
Schritt vorwärts streben, dann stoßt sie zehn voran. Laßt sie aber nicht glauben,
daß wir ihnen die Kastanien aus dem Feuer holen würden, um sie zur Macht
zu bringen. Die Sjemstwomünner streben nach dem Ministerportefeuille, wir
aber erstreben die föderative Republik!" Als dann nach dem neuen Preßregulativ
vom Februar 1906 die genannten Blätter unter andrer Bezeichnung nach Ru߬
land übersiedelten, wurden die Kadetten in ihnen genau ebenso mitgenommen
wie die Vertreter der hohen Bureaukratie. Hätten die Kadetten wirklich den
Versuch gemacht, Minister zu spielen, dann wären sie von ihren „Bundes¬
genossen" wahrscheinlich ebenso beiseite geschoben worden wie in der Duma,
oder aber sie hätten ebenso zur Waffe greifen müssen, wie nun endlich — elf
Monate zu spät — Stolypin es tut. Dann aber Hütten sie zugleich ihrer
ganzen revolutionären Vergangenheit entsagen müssen, und das halte ich schon
aus ganz menschlichen Gründen für ausgeschlossen. Die Weigerung Goremykins,
Kadetten in größerer Zahl zu Ministern zu machen, kann dem sonst wenig
befähigten Manne nicht hoch genug angerechnet werden — vor allen Dingen
von der Partei selbst.
Was die Rolle der Kadetten im allgemeinen betrifft, so möchte ich sie
vergleichen mit der, die Graf Wildes spielte. Beide verheimlichten ihre wahre
Gesinnung. Sie wollten es mit der schließlich siegenden Richtung nicht ver¬
derben; die aber stand noch nicht fest. Bei Witte handelte es sich um Auto¬
kratie oder Konstitution — bei den Kadetten um Monarchie oder Republik.
Beide maskierten die revolutionäre Organisation, weil sie nicht den Mut hatten,
im gegebnen Augenblick durchzugreifen oder aber in der Erkenntnis ihrer eignen
Ohnmacht von der politischen Bühne abzutreten. Hinter Witte ordneten die
Reaktionäre ihre Reihen, hinter den Kadetten betrieb die Arbeitsgruppe den
Ausbruch der Revolution. Beide haben sie das Ausland durch dessen Presse
für sich eingenommen, und beide haben sie durch ihre einseitige Darstellung der
Verhältnisse dem Ausland eine ganz falsche Meinung von ihren politischen
Fähigkeiten beigebracht. Sehr schädlich hat in dieser Beziehung auch die in
*) Über die Persönlichkeit des Grasen Witte findet sich ein ausführlicher Aufsatz im März¬
heft von 1906 der Deutschen Monatsschrift, herausgegeben von Professor Dr. Otto Hoetzsch,
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |