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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Russische Briefe

Parteidisziplin der Sozialdemokraten feierte Triumphe. Wie schon gesagt,
das die weitesten Kreise befriedigende Gesetz wurde in wenig Stunden dis¬
kreditiert.

Trotz dieser Lage der Dinge wäre für das Bürgertum doch nicht alles
verloren gewesen, Hütte die Regierung in der Person des Ministerpräsidenten
Grafen Witte nicht von Anfang an den Kopf hängen lassen. Angesichts der straffen
Organisation des Vorgehens bei den Sozialisten mußte sich meines Erachtens
Graf Witte sofort an die bürgerlichen Parteien wenden und ihnen die Zuversicht
einflößen, daß die Regierung stark genug sei, sie vor dem Terror von links
und von rechts zu schützen. Andrerseits mußte er den roten und den weißen
Revolutionären mit Strang und Blei drohen, wenn sie sich unterstehn sollten,
die Ruhe im Staat zu stören- Statt dessen sagte er in seinem Jmmediatbericht
an den Zaren, "dem politischen Takt der russischen Gesellschaft muß Glauben
geschenkt werden". Die Folge dieser Weichherzigkeit war, daß zunächst drei
Tage lang revolutionäres Gesindel unter Anführung der Sozialdemokraten
sämtliche Städte Rußlands beherrschte, und daß alsdann die Reaktionäre an
dreiunddreißig Orten Blutbäder veranstalteten. Die Armee wurde gar nicht
oder zu spät in Anspruch genommen. Innerhalb des Offizierkorps bildeten sich
politische Organisationen zum Selbstschutz gegen die fortschrittliche Bewegung.
Das ist verständlich, denn an allen Orten wurden Offiziere beleidigt, gemi߬
handelt, ja getötet, und das Publikum auf der Straße nahm gegen sie Partei,
wenn sie -- ihrer Pflicht nachkommend -- Mannschaften wegen Nichtgrüßens
zur Rede stellten. Der zweite Eisenbahnstreik und ein Post- und Telegraphen¬
streik wurden in Szene gesetzt. In Moskau brach eine wirkliche Revolution
mit Straßen- und Barrikadenkämpfer aus. Dennoch erweiterte der Zar durch
das Gesetz vom 11. (24.) Dezember 1905, wie im Manifest versprochen worden
war, das Wahlrecht so, daß as lÄeto das allgemeine Wahlrecht gegeben war.
Leider wurde das aber nicht genügend unterstrichen, und die technische Notwendig¬
keit der Kurienwahl wurde nicht gehörig nachgewiesen. Inzwischen hatte Graf
Witte, der den Zaren in dem Glauben zu erhalten suchte, die Aufrechterhaltun
der Autokratie sei möglich, während er sich nach außen als Konstitutionalist
gebärdete, das Vertrauen aller eingebüßt. Mit Recht! Die bürgerlichen Par¬
teien schützte er nicht und trieb sie dadurch gerade in das Lager der Sozialisten.
Das Instrument der Staatsgewalt, die Armee, benutzte er nicht, gab sie un¬
gestraft dem Hohn der Revolutionäre preis und ließ sie demoralisieren. Dabei
hätte Graf Witte weit mehr wagen können, als es andern Staatsmännern
möglich war. Die auswärtigen Börsen bauten auf ihn Häuser; zwei Dutzend
Vertreter der größten Blätter der ganzen Welt standen zu seiner Verfügung
und warteten darauf, daß er eingriffe. Nichts dergleichen! "Meine Herren,
Sie verstehn den russischen Volkscharakter nicht! Ich aber weiß Bescheid."

Es kam, wie es kommen mußte. Graf Witte wurde trotz seiner zweifel¬
losen geistigen Fähigkeiten eine Null im politischen Rechenexempel und nur des


Russische Briefe

Parteidisziplin der Sozialdemokraten feierte Triumphe. Wie schon gesagt,
das die weitesten Kreise befriedigende Gesetz wurde in wenig Stunden dis¬
kreditiert.

Trotz dieser Lage der Dinge wäre für das Bürgertum doch nicht alles
verloren gewesen, Hütte die Regierung in der Person des Ministerpräsidenten
Grafen Witte nicht von Anfang an den Kopf hängen lassen. Angesichts der straffen
Organisation des Vorgehens bei den Sozialisten mußte sich meines Erachtens
Graf Witte sofort an die bürgerlichen Parteien wenden und ihnen die Zuversicht
einflößen, daß die Regierung stark genug sei, sie vor dem Terror von links
und von rechts zu schützen. Andrerseits mußte er den roten und den weißen
Revolutionären mit Strang und Blei drohen, wenn sie sich unterstehn sollten,
die Ruhe im Staat zu stören- Statt dessen sagte er in seinem Jmmediatbericht
an den Zaren, „dem politischen Takt der russischen Gesellschaft muß Glauben
geschenkt werden". Die Folge dieser Weichherzigkeit war, daß zunächst drei
Tage lang revolutionäres Gesindel unter Anführung der Sozialdemokraten
sämtliche Städte Rußlands beherrschte, und daß alsdann die Reaktionäre an
dreiunddreißig Orten Blutbäder veranstalteten. Die Armee wurde gar nicht
oder zu spät in Anspruch genommen. Innerhalb des Offizierkorps bildeten sich
politische Organisationen zum Selbstschutz gegen die fortschrittliche Bewegung.
Das ist verständlich, denn an allen Orten wurden Offiziere beleidigt, gemi߬
handelt, ja getötet, und das Publikum auf der Straße nahm gegen sie Partei,
wenn sie — ihrer Pflicht nachkommend — Mannschaften wegen Nichtgrüßens
zur Rede stellten. Der zweite Eisenbahnstreik und ein Post- und Telegraphen¬
streik wurden in Szene gesetzt. In Moskau brach eine wirkliche Revolution
mit Straßen- und Barrikadenkämpfer aus. Dennoch erweiterte der Zar durch
das Gesetz vom 11. (24.) Dezember 1905, wie im Manifest versprochen worden
war, das Wahlrecht so, daß as lÄeto das allgemeine Wahlrecht gegeben war.
Leider wurde das aber nicht genügend unterstrichen, und die technische Notwendig¬
keit der Kurienwahl wurde nicht gehörig nachgewiesen. Inzwischen hatte Graf
Witte, der den Zaren in dem Glauben zu erhalten suchte, die Aufrechterhaltun
der Autokratie sei möglich, während er sich nach außen als Konstitutionalist
gebärdete, das Vertrauen aller eingebüßt. Mit Recht! Die bürgerlichen Par¬
teien schützte er nicht und trieb sie dadurch gerade in das Lager der Sozialisten.
Das Instrument der Staatsgewalt, die Armee, benutzte er nicht, gab sie un¬
gestraft dem Hohn der Revolutionäre preis und ließ sie demoralisieren. Dabei
hätte Graf Witte weit mehr wagen können, als es andern Staatsmännern
möglich war. Die auswärtigen Börsen bauten auf ihn Häuser; zwei Dutzend
Vertreter der größten Blätter der ganzen Welt standen zu seiner Verfügung
und warteten darauf, daß er eingriffe. Nichts dergleichen! „Meine Herren,
Sie verstehn den russischen Volkscharakter nicht! Ich aber weiß Bescheid."

Es kam, wie es kommen mußte. Graf Witte wurde trotz seiner zweifel¬
losen geistigen Fähigkeiten eine Null im politischen Rechenexempel und nur des


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[0134] Russische Briefe Parteidisziplin der Sozialdemokraten feierte Triumphe. Wie schon gesagt, das die weitesten Kreise befriedigende Gesetz wurde in wenig Stunden dis¬ kreditiert. Trotz dieser Lage der Dinge wäre für das Bürgertum doch nicht alles verloren gewesen, Hütte die Regierung in der Person des Ministerpräsidenten Grafen Witte nicht von Anfang an den Kopf hängen lassen. Angesichts der straffen Organisation des Vorgehens bei den Sozialisten mußte sich meines Erachtens Graf Witte sofort an die bürgerlichen Parteien wenden und ihnen die Zuversicht einflößen, daß die Regierung stark genug sei, sie vor dem Terror von links und von rechts zu schützen. Andrerseits mußte er den roten und den weißen Revolutionären mit Strang und Blei drohen, wenn sie sich unterstehn sollten, die Ruhe im Staat zu stören- Statt dessen sagte er in seinem Jmmediatbericht an den Zaren, „dem politischen Takt der russischen Gesellschaft muß Glauben geschenkt werden". Die Folge dieser Weichherzigkeit war, daß zunächst drei Tage lang revolutionäres Gesindel unter Anführung der Sozialdemokraten sämtliche Städte Rußlands beherrschte, und daß alsdann die Reaktionäre an dreiunddreißig Orten Blutbäder veranstalteten. Die Armee wurde gar nicht oder zu spät in Anspruch genommen. Innerhalb des Offizierkorps bildeten sich politische Organisationen zum Selbstschutz gegen die fortschrittliche Bewegung. Das ist verständlich, denn an allen Orten wurden Offiziere beleidigt, gemi߬ handelt, ja getötet, und das Publikum auf der Straße nahm gegen sie Partei, wenn sie — ihrer Pflicht nachkommend — Mannschaften wegen Nichtgrüßens zur Rede stellten. Der zweite Eisenbahnstreik und ein Post- und Telegraphen¬ streik wurden in Szene gesetzt. In Moskau brach eine wirkliche Revolution mit Straßen- und Barrikadenkämpfer aus. Dennoch erweiterte der Zar durch das Gesetz vom 11. (24.) Dezember 1905, wie im Manifest versprochen worden war, das Wahlrecht so, daß as lÄeto das allgemeine Wahlrecht gegeben war. Leider wurde das aber nicht genügend unterstrichen, und die technische Notwendig¬ keit der Kurienwahl wurde nicht gehörig nachgewiesen. Inzwischen hatte Graf Witte, der den Zaren in dem Glauben zu erhalten suchte, die Aufrechterhaltun der Autokratie sei möglich, während er sich nach außen als Konstitutionalist gebärdete, das Vertrauen aller eingebüßt. Mit Recht! Die bürgerlichen Par¬ teien schützte er nicht und trieb sie dadurch gerade in das Lager der Sozialisten. Das Instrument der Staatsgewalt, die Armee, benutzte er nicht, gab sie un¬ gestraft dem Hohn der Revolutionäre preis und ließ sie demoralisieren. Dabei hätte Graf Witte weit mehr wagen können, als es andern Staatsmännern möglich war. Die auswärtigen Börsen bauten auf ihn Häuser; zwei Dutzend Vertreter der größten Blätter der ganzen Welt standen zu seiner Verfügung und warteten darauf, daß er eingriffe. Nichts dergleichen! „Meine Herren, Sie verstehn den russischen Volkscharakter nicht! Ich aber weiß Bescheid." Es kam, wie es kommen mußte. Graf Witte wurde trotz seiner zweifel¬ losen geistigen Fähigkeiten eine Null im politischen Rechenexempel und nur des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/134>, abgerufen am 23.07.2024.