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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Russische Briefe

Am 17. (30.) Oktober 1905 bewilligte der Zar dem russischen Volke die
Magna Charta. Ein Vergleich des entsprechenden Manifests mit den Artikeln
der 102 Sjemstwvmänner vom November 1904 zeigt, inwieweit der Zar den
Wünschen der Gesellschaft entgegenkam. Wir erkennen, daß der Zar durch den
Akt vom 17. (30.) Oktober in Verbindung mit dem Erlaß vom 17. (30.) April
1905 das gegeben hatte, was die bürgerlichen Führer der Befreiungsbewegung
seinerzeit gefordert hatten. In der Resolution der Sjemstwvmänner beginnen
die Forderungen wie folgt:

s 5. "Zur Beseitigung der Möglichkeit administrativer Willkür ist es not¬
wendig, das Prinzip der Unverletzlichkeit der Person und der privaten Woh¬
nungen einzuführen und folgerichtig ins Leben zu übertragen. Niemand darf
ohne Spruch einer richterlichen Gewalt verurteilt oder einer Beschränkung seiner
Rechte unterworfen werden." Es folgt dann die Forderung nach Verant¬
wortlichkeit der Beamten vor dem Zivil- und Strafrichter.

§ 6 fordert Glaubens- und Religionsfreiheit, Freiheit des Worts, der
Presse sowie auch das Verscimmlungs- und Vereinsrecht;

§ 7 Gleichstellung aller Bürger;

8 Aufhebung der besondern Gesetze für den Bauernstand sowie dessen
Unterstellung unter die ordentliche Gerichtsbarkeit;

Z 9 Änderung der Wahlen für die Sjemstwo- und die Städteversamm¬
lungen in demokratischen Sinne; Einrichtung kleinerer Provinzialverwaltungs-
einheiten; Ausdehnung der Sjemstwo auf alle Teile des Reichs; ^

Z 10 Bildung einer Volksvertretung "zur Ausübung der gesetzgeberischen
Gewalt, zur Aufstellung des Staatsbudgets für Einnahmen und Ausgaben und
zur Kontrolle der gesetzlichen Tätigkeit der Administration." (Diese letzte
Forderung wurde jedoch nur von 71 Delegierten aufrecht erhalten, während
27 Stimmen eine Detaillierung der Aufgaben ablehnten.)

Diesen Forderungen der sogenannten Sjemstwoorganisation wurde zunächst
Rechnung getragen durch die allerhöchsten Willensäußerungen vom 3. März
und das Manifest vom 17. (30.) April, das den christlichen Bekenntnissen
Glaubensfreiheit und Gleichberechtigung im Staat einräumte. Dann folgte das
im März versprochn? Wahlgesetz Bulygins vom 6. (19.) August und schließlich
das Manifest vom 17. (30.) Oktober, die Magna Charta. Das Manifest gipfelte
in folgenden Hauptsätzen:

1. Der Bevölkerung sind die unantastbaren Grundlagen bürgerlicher Frei¬
heit zu schenken, beruhend auf tatsächlicher Unantastbarkeit der Person, Glaubens¬
freiheit, Freiheit des Worts, der Versammlungen und der Vereine.

2. Erweiterung des Wahlrechts auf die Kreise, die uach den bestehenden
Gesetzen ausgeschlossen waren, und Anbahnung der Durchführung eines allge¬
meinen Wahlrechts.

3. Kein Gesetz soll Giltigkeit haben, das nicht von der Reichsduma ge¬
nehmigt wurde; die Volksvertreter sollen die Möglichkeit haben, die Gesetz¬
mäßigkeit der Tätigkeit der Beamten zu beaufsichtigen.


Russische Briefe

Am 17. (30.) Oktober 1905 bewilligte der Zar dem russischen Volke die
Magna Charta. Ein Vergleich des entsprechenden Manifests mit den Artikeln
der 102 Sjemstwvmänner vom November 1904 zeigt, inwieweit der Zar den
Wünschen der Gesellschaft entgegenkam. Wir erkennen, daß der Zar durch den
Akt vom 17. (30.) Oktober in Verbindung mit dem Erlaß vom 17. (30.) April
1905 das gegeben hatte, was die bürgerlichen Führer der Befreiungsbewegung
seinerzeit gefordert hatten. In der Resolution der Sjemstwvmänner beginnen
die Forderungen wie folgt:

s 5. „Zur Beseitigung der Möglichkeit administrativer Willkür ist es not¬
wendig, das Prinzip der Unverletzlichkeit der Person und der privaten Woh¬
nungen einzuführen und folgerichtig ins Leben zu übertragen. Niemand darf
ohne Spruch einer richterlichen Gewalt verurteilt oder einer Beschränkung seiner
Rechte unterworfen werden." Es folgt dann die Forderung nach Verant¬
wortlichkeit der Beamten vor dem Zivil- und Strafrichter.

§ 6 fordert Glaubens- und Religionsfreiheit, Freiheit des Worts, der
Presse sowie auch das Verscimmlungs- und Vereinsrecht;

§ 7 Gleichstellung aller Bürger;

8 Aufhebung der besondern Gesetze für den Bauernstand sowie dessen
Unterstellung unter die ordentliche Gerichtsbarkeit;

Z 9 Änderung der Wahlen für die Sjemstwo- und die Städteversamm¬
lungen in demokratischen Sinne; Einrichtung kleinerer Provinzialverwaltungs-
einheiten; Ausdehnung der Sjemstwo auf alle Teile des Reichs; ^

Z 10 Bildung einer Volksvertretung „zur Ausübung der gesetzgeberischen
Gewalt, zur Aufstellung des Staatsbudgets für Einnahmen und Ausgaben und
zur Kontrolle der gesetzlichen Tätigkeit der Administration." (Diese letzte
Forderung wurde jedoch nur von 71 Delegierten aufrecht erhalten, während
27 Stimmen eine Detaillierung der Aufgaben ablehnten.)

Diesen Forderungen der sogenannten Sjemstwoorganisation wurde zunächst
Rechnung getragen durch die allerhöchsten Willensäußerungen vom 3. März
und das Manifest vom 17. (30.) April, das den christlichen Bekenntnissen
Glaubensfreiheit und Gleichberechtigung im Staat einräumte. Dann folgte das
im März versprochn? Wahlgesetz Bulygins vom 6. (19.) August und schließlich
das Manifest vom 17. (30.) Oktober, die Magna Charta. Das Manifest gipfelte
in folgenden Hauptsätzen:

1. Der Bevölkerung sind die unantastbaren Grundlagen bürgerlicher Frei¬
heit zu schenken, beruhend auf tatsächlicher Unantastbarkeit der Person, Glaubens¬
freiheit, Freiheit des Worts, der Versammlungen und der Vereine.

2. Erweiterung des Wahlrechts auf die Kreise, die uach den bestehenden
Gesetzen ausgeschlossen waren, und Anbahnung der Durchführung eines allge¬
meinen Wahlrechts.

3. Kein Gesetz soll Giltigkeit haben, das nicht von der Reichsduma ge¬
nehmigt wurde; die Volksvertreter sollen die Möglichkeit haben, die Gesetz¬
mäßigkeit der Tätigkeit der Beamten zu beaufsichtigen.


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[0130] Russische Briefe Am 17. (30.) Oktober 1905 bewilligte der Zar dem russischen Volke die Magna Charta. Ein Vergleich des entsprechenden Manifests mit den Artikeln der 102 Sjemstwvmänner vom November 1904 zeigt, inwieweit der Zar den Wünschen der Gesellschaft entgegenkam. Wir erkennen, daß der Zar durch den Akt vom 17. (30.) Oktober in Verbindung mit dem Erlaß vom 17. (30.) April 1905 das gegeben hatte, was die bürgerlichen Führer der Befreiungsbewegung seinerzeit gefordert hatten. In der Resolution der Sjemstwvmänner beginnen die Forderungen wie folgt: s 5. „Zur Beseitigung der Möglichkeit administrativer Willkür ist es not¬ wendig, das Prinzip der Unverletzlichkeit der Person und der privaten Woh¬ nungen einzuführen und folgerichtig ins Leben zu übertragen. Niemand darf ohne Spruch einer richterlichen Gewalt verurteilt oder einer Beschränkung seiner Rechte unterworfen werden." Es folgt dann die Forderung nach Verant¬ wortlichkeit der Beamten vor dem Zivil- und Strafrichter. § 6 fordert Glaubens- und Religionsfreiheit, Freiheit des Worts, der Presse sowie auch das Verscimmlungs- und Vereinsrecht; § 7 Gleichstellung aller Bürger; 8 Aufhebung der besondern Gesetze für den Bauernstand sowie dessen Unterstellung unter die ordentliche Gerichtsbarkeit; Z 9 Änderung der Wahlen für die Sjemstwo- und die Städteversamm¬ lungen in demokratischen Sinne; Einrichtung kleinerer Provinzialverwaltungs- einheiten; Ausdehnung der Sjemstwo auf alle Teile des Reichs; ^ Z 10 Bildung einer Volksvertretung „zur Ausübung der gesetzgeberischen Gewalt, zur Aufstellung des Staatsbudgets für Einnahmen und Ausgaben und zur Kontrolle der gesetzlichen Tätigkeit der Administration." (Diese letzte Forderung wurde jedoch nur von 71 Delegierten aufrecht erhalten, während 27 Stimmen eine Detaillierung der Aufgaben ablehnten.) Diesen Forderungen der sogenannten Sjemstwoorganisation wurde zunächst Rechnung getragen durch die allerhöchsten Willensäußerungen vom 3. März und das Manifest vom 17. (30.) April, das den christlichen Bekenntnissen Glaubensfreiheit und Gleichberechtigung im Staat einräumte. Dann folgte das im März versprochn? Wahlgesetz Bulygins vom 6. (19.) August und schließlich das Manifest vom 17. (30.) Oktober, die Magna Charta. Das Manifest gipfelte in folgenden Hauptsätzen: 1. Der Bevölkerung sind die unantastbaren Grundlagen bürgerlicher Frei¬ heit zu schenken, beruhend auf tatsächlicher Unantastbarkeit der Person, Glaubens¬ freiheit, Freiheit des Worts, der Versammlungen und der Vereine. 2. Erweiterung des Wahlrechts auf die Kreise, die uach den bestehenden Gesetzen ausgeschlossen waren, und Anbahnung der Durchführung eines allge¬ meinen Wahlrechts. 3. Kein Gesetz soll Giltigkeit haben, das nicht von der Reichsduma ge¬ nehmigt wurde; die Volksvertreter sollen die Möglichkeit haben, die Gesetz¬ mäßigkeit der Tätigkeit der Beamten zu beaufsichtigen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/130>, abgerufen am 23.07.2024.