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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Rulturbilder aus den Balkanstaaten

lang zusammenhocken und sich unterhalten sehen, ohne daß ihnen die Beine
"einschlafen"; sie scheint ihnen ganz natürlich zu sein.

Zu den abstoßenden Seiten des Straßenbildes der Balkanstädte gehören
noch die zahlreichen Verstümmelten und Blinden, die an den Straßenecken
stehn und betteln, indem sie entweder unter tierischem Geheul den Vorüber¬
gehenden die verstümmelten Gliedmaßen entgegenstrecken oder durch typische,
gebetartige Formeln, den Zinnteller in der Hand, das Mitleid der "Christen"
zu erregen suchen. So erinnere ich mich eines Blinden, der beständig an einer
Straßenecke in Athen stand und immer dieselben klagenden Worte wiederholte:
"Erbarme Euch meiner, Herr, denn ich habe nicht meine Äuglein, ich Armer!"
<Msi8g,t6 ins, Kiris, asu Soto ta NiatiiKig. mu o Ica,ira6iio8!) Und als Dank
für die gereichte Gabe hört man gewöhnlich die merkwürdige Wendung: "Gott
habe deine Toten selig!"

Aber noch seltsamere Gewohnheiten und Gebräuche kann man im Straßen¬
leben beobachten, die nur beweisen, daß sich das Gros der Bewohner dieser
Städte ini Geiste noch auf dem Dorfe befindet und sich demgemäß benimmt,
zumal da es an strengen Polizeivorschriften oder doch an ihrer energischen
Durchführung fehlt, und oft sogar die Gesetzgebung selber an veralteten
Institutionen festhält. Hierher gehört es zum Beispiel, daß in Athen die
Insassen eines im Innern der Stadt liegenden Gefängnisses ruhig durch die
vergitterten Fenster hindurch mit dem Publikum verkehren und die Vorüber¬
gehenden, wie es mir passierte, um Tabak anbetteln, oder daß in Bukarest
vor Hausern säumiger Schuldner von der Gendarmerie ein Trommelständchen
aufgeführt wird, um sie an den Pranger zu stellen; offenbar ein Überrest alten
Gewohnheitsrechts, ähnlich dem bayrischen Haberfeldtreiben.

Als ein solches Gewohnheitsrecht betrachte ich es auch, daß die Athener
Varietetheater im Winter bei regnerischem Wetter die angesagten Vorstellungen
einstellen. Als ich mich eines Abends vor einem solchen Theater einfand,
war alles in Dunkel gehüllt, und als ich mich an einen zufällig anwesenden
Mann wandte, erwiderte er mit fast vorwurfsvoller Miene: "Aber es regnet
doch! Die Leute gehn nicht aus, Wenns regnet." Mir wollte das nicht ein¬
leuchten, denn ich fand gerade, daß ein prächtiges "Theaterwetter" war, aber
diesen Begriff schien man in Athen, wo man an die offnen Sommertheater
gewöhnt ist, nicht zu kennen. Erst jetzt, wo das neue königliche Theater
"funktioniert", dessen Hauptsaison in den Winter fällt, scheint man sich auch
hier an das Wintertheater zu gewöhnen. Als Entschuldigung für die genannte
Abneigung muß allerdings der furchtbare Schmutz gelten, der zur Regenzeit
in den nur makkadamisierten Straßen herrscht.

Hinzu kommt vielleicht noch, daß der Orientale überhaupt weniger
vergnügungssüchtig ist, sich jedenfalls des Vergnügens wegen keine Be¬
schwerden auferlegt und sich nicht leicht aus seiner Ruhe bringen läßt. Das
gilt besonders von dem Griechen, der sogar eine Abneigung gegen lärmende,


Rulturbilder aus den Balkanstaaten

lang zusammenhocken und sich unterhalten sehen, ohne daß ihnen die Beine
„einschlafen"; sie scheint ihnen ganz natürlich zu sein.

Zu den abstoßenden Seiten des Straßenbildes der Balkanstädte gehören
noch die zahlreichen Verstümmelten und Blinden, die an den Straßenecken
stehn und betteln, indem sie entweder unter tierischem Geheul den Vorüber¬
gehenden die verstümmelten Gliedmaßen entgegenstrecken oder durch typische,
gebetartige Formeln, den Zinnteller in der Hand, das Mitleid der „Christen"
zu erregen suchen. So erinnere ich mich eines Blinden, der beständig an einer
Straßenecke in Athen stand und immer dieselben klagenden Worte wiederholte:
„Erbarme Euch meiner, Herr, denn ich habe nicht meine Äuglein, ich Armer!"
<Msi8g,t6 ins, Kiris, asu Soto ta NiatiiKig. mu o Ica,ira6iio8!) Und als Dank
für die gereichte Gabe hört man gewöhnlich die merkwürdige Wendung: „Gott
habe deine Toten selig!"

Aber noch seltsamere Gewohnheiten und Gebräuche kann man im Straßen¬
leben beobachten, die nur beweisen, daß sich das Gros der Bewohner dieser
Städte ini Geiste noch auf dem Dorfe befindet und sich demgemäß benimmt,
zumal da es an strengen Polizeivorschriften oder doch an ihrer energischen
Durchführung fehlt, und oft sogar die Gesetzgebung selber an veralteten
Institutionen festhält. Hierher gehört es zum Beispiel, daß in Athen die
Insassen eines im Innern der Stadt liegenden Gefängnisses ruhig durch die
vergitterten Fenster hindurch mit dem Publikum verkehren und die Vorüber¬
gehenden, wie es mir passierte, um Tabak anbetteln, oder daß in Bukarest
vor Hausern säumiger Schuldner von der Gendarmerie ein Trommelständchen
aufgeführt wird, um sie an den Pranger zu stellen; offenbar ein Überrest alten
Gewohnheitsrechts, ähnlich dem bayrischen Haberfeldtreiben.

Als ein solches Gewohnheitsrecht betrachte ich es auch, daß die Athener
Varietetheater im Winter bei regnerischem Wetter die angesagten Vorstellungen
einstellen. Als ich mich eines Abends vor einem solchen Theater einfand,
war alles in Dunkel gehüllt, und als ich mich an einen zufällig anwesenden
Mann wandte, erwiderte er mit fast vorwurfsvoller Miene: „Aber es regnet
doch! Die Leute gehn nicht aus, Wenns regnet." Mir wollte das nicht ein¬
leuchten, denn ich fand gerade, daß ein prächtiges „Theaterwetter" war, aber
diesen Begriff schien man in Athen, wo man an die offnen Sommertheater
gewöhnt ist, nicht zu kennen. Erst jetzt, wo das neue königliche Theater
„funktioniert", dessen Hauptsaison in den Winter fällt, scheint man sich auch
hier an das Wintertheater zu gewöhnen. Als Entschuldigung für die genannte
Abneigung muß allerdings der furchtbare Schmutz gelten, der zur Regenzeit
in den nur makkadamisierten Straßen herrscht.

Hinzu kommt vielleicht noch, daß der Orientale überhaupt weniger
vergnügungssüchtig ist, sich jedenfalls des Vergnügens wegen keine Be¬
schwerden auferlegt und sich nicht leicht aus seiner Ruhe bringen läßt. Das
gilt besonders von dem Griechen, der sogar eine Abneigung gegen lärmende,


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[0104] Rulturbilder aus den Balkanstaaten lang zusammenhocken und sich unterhalten sehen, ohne daß ihnen die Beine „einschlafen"; sie scheint ihnen ganz natürlich zu sein. Zu den abstoßenden Seiten des Straßenbildes der Balkanstädte gehören noch die zahlreichen Verstümmelten und Blinden, die an den Straßenecken stehn und betteln, indem sie entweder unter tierischem Geheul den Vorüber¬ gehenden die verstümmelten Gliedmaßen entgegenstrecken oder durch typische, gebetartige Formeln, den Zinnteller in der Hand, das Mitleid der „Christen" zu erregen suchen. So erinnere ich mich eines Blinden, der beständig an einer Straßenecke in Athen stand und immer dieselben klagenden Worte wiederholte: „Erbarme Euch meiner, Herr, denn ich habe nicht meine Äuglein, ich Armer!" <Msi8g,t6 ins, Kiris, asu Soto ta NiatiiKig. mu o Ica,ira6iio8!) Und als Dank für die gereichte Gabe hört man gewöhnlich die merkwürdige Wendung: „Gott habe deine Toten selig!" Aber noch seltsamere Gewohnheiten und Gebräuche kann man im Straßen¬ leben beobachten, die nur beweisen, daß sich das Gros der Bewohner dieser Städte ini Geiste noch auf dem Dorfe befindet und sich demgemäß benimmt, zumal da es an strengen Polizeivorschriften oder doch an ihrer energischen Durchführung fehlt, und oft sogar die Gesetzgebung selber an veralteten Institutionen festhält. Hierher gehört es zum Beispiel, daß in Athen die Insassen eines im Innern der Stadt liegenden Gefängnisses ruhig durch die vergitterten Fenster hindurch mit dem Publikum verkehren und die Vorüber¬ gehenden, wie es mir passierte, um Tabak anbetteln, oder daß in Bukarest vor Hausern säumiger Schuldner von der Gendarmerie ein Trommelständchen aufgeführt wird, um sie an den Pranger zu stellen; offenbar ein Überrest alten Gewohnheitsrechts, ähnlich dem bayrischen Haberfeldtreiben. Als ein solches Gewohnheitsrecht betrachte ich es auch, daß die Athener Varietetheater im Winter bei regnerischem Wetter die angesagten Vorstellungen einstellen. Als ich mich eines Abends vor einem solchen Theater einfand, war alles in Dunkel gehüllt, und als ich mich an einen zufällig anwesenden Mann wandte, erwiderte er mit fast vorwurfsvoller Miene: „Aber es regnet doch! Die Leute gehn nicht aus, Wenns regnet." Mir wollte das nicht ein¬ leuchten, denn ich fand gerade, daß ein prächtiges „Theaterwetter" war, aber diesen Begriff schien man in Athen, wo man an die offnen Sommertheater gewöhnt ist, nicht zu kennen. Erst jetzt, wo das neue königliche Theater „funktioniert", dessen Hauptsaison in den Winter fällt, scheint man sich auch hier an das Wintertheater zu gewöhnen. Als Entschuldigung für die genannte Abneigung muß allerdings der furchtbare Schmutz gelten, der zur Regenzeit in den nur makkadamisierten Straßen herrscht. Hinzu kommt vielleicht noch, daß der Orientale überhaupt weniger vergnügungssüchtig ist, sich jedenfalls des Vergnügens wegen keine Be¬ schwerden auferlegt und sich nicht leicht aus seiner Ruhe bringen läßt. Das gilt besonders von dem Griechen, der sogar eine Abneigung gegen lärmende,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/104>, abgerufen am 23.07.2024.