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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Über den Brenner

Lage im feuchten Talgrunde inmitten schöngeschwungner Waldberge treffend
bezeichnend. Noch bewegt sich auf dieser ganzen Linie ein ansehnlicher Post¬
Verkehr, dessen alte Bedeutung auch in dem stattlichen alten PostHause zutage
tritt und seit langer Zeit in den Händen der Familie Sterzinger liegt. Gädeke
sich doch hier die Straße nach dem Inntal, östlich nach Telfs, westlich nach Imst.
Dorthin zieht sie an der Westseite des breiten Tales zwischen hochaufsteigenden
Gebirgshängen. Imst selbst (763 Humiste, vom Personennamen Humizo), ein
stattlicher Ort am Bergabhange, gehört zu den ältesten deutschen Siedlungen
Tirols. Auf der alten steilen Straße, die nach dem Jnntale führt, verunglückte
am 9. August 1854 König Friedrich August der Zweite von Sachsen; eine
kleine Kapelle mit blaugrünen Dach bezeichnet die Unglücksstätte. Doch ver¬
schied der König, beim Abspringen ans dem schwankenden Wagen vom Huf¬
schlag des unruhigen Handpferdes tödlich am Hinterkopf getroffen, nicht hier,
sondern in dem Gasthause des Joseph Mayr in Brennbichl etwa eine Viertel¬
stunde davon; dort zweigt jetzt der Weg nach dem Bahnhofe Imst ab, für den
der Bauplatz dem Bette des Inns durch Felssprengungen hat abgewonnen
werden müssen. Von Imst aus setzten die Augsburger ihren Weg oft nicht
nach dem Brenner, sondern über Landeck nach der Reschen Scheidegg und dem
Vintschgau fort, sodaß sie die Brennerstraße erst bei Vozen erreichten; wer nach
dem Brenner wollte, bog gleich bei Nassereit nach Telfs ab.

Älter und wohl auch belebter als der Weg über den Fernpaß war die
etwas kürzere, nicht höher aufsteigende, aber in mancher Beziehung beschwerlichere
Straße über die Scharnitz. Am östlichen Ufer des Ammcrsees vorüber zieht
noch heute die alte verlassene Nömerstraße auf dem Kamm der Uferhöhe an
dem uralten Kloster Andechs, das sich burgähnlich am Abhang erhebt, vor¬
über durch reichbebautes Land nach dem lieblichen Staffelsee und steigt dann
angesichts der hier prachtvoll sich entfaltenden Kette der Kalkalpen der Loisach
entgegen nach dem weiten sonnigen Wiesentale von Partenkirchen und Garmisch
hinauf, auf das vom Südosten die zerrissenen Felsen der Zugspitze, von Süden
die Wände des Wettersteingebirges herniederschauen, heute eine Fremdenkolonie
ersten Ranges, in alten Zeiten der Hauptort der Freisingischen Grafschaft
Werdenfels und eine bequeme Raststelle für Fuhrwerke, Saumtiere und reisige
Geschwader, die hier reichliches Futter fanden. Deshalb vereinigte sich hier
mit der von Murnau heraufkommenden Straße eine zweite, die von der west¬
lichen Straße über Füssen etwa bei Schongau abzweigte, hier den Lech über¬
schritt und über Oberammergau und Kloster Ettal heraufkam. Diese zog Kaiser
Friedrich der Erste auf der Rückkehr aus Italien, auf der er am 20. Sep¬
tember 1155 eine Urkunde ausstellte, der Kardinal Ludwig von Aragon im
Mai 1517 (über Rottenbuch nach Schongau) und Winckelmann im Oktober 1755.
Noch bezeugt der Name Partenkirchen und der der Partnachklamm die Existenz
der römischen Station Partenna, die auch durch einen Meilenstein verbürgt ist;
weiterhin an der östlichen Fortsetzung der Straße, die früher etwas weiter


Über den Brenner

Lage im feuchten Talgrunde inmitten schöngeschwungner Waldberge treffend
bezeichnend. Noch bewegt sich auf dieser ganzen Linie ein ansehnlicher Post¬
Verkehr, dessen alte Bedeutung auch in dem stattlichen alten PostHause zutage
tritt und seit langer Zeit in den Händen der Familie Sterzinger liegt. Gädeke
sich doch hier die Straße nach dem Inntal, östlich nach Telfs, westlich nach Imst.
Dorthin zieht sie an der Westseite des breiten Tales zwischen hochaufsteigenden
Gebirgshängen. Imst selbst (763 Humiste, vom Personennamen Humizo), ein
stattlicher Ort am Bergabhange, gehört zu den ältesten deutschen Siedlungen
Tirols. Auf der alten steilen Straße, die nach dem Jnntale führt, verunglückte
am 9. August 1854 König Friedrich August der Zweite von Sachsen; eine
kleine Kapelle mit blaugrünen Dach bezeichnet die Unglücksstätte. Doch ver¬
schied der König, beim Abspringen ans dem schwankenden Wagen vom Huf¬
schlag des unruhigen Handpferdes tödlich am Hinterkopf getroffen, nicht hier,
sondern in dem Gasthause des Joseph Mayr in Brennbichl etwa eine Viertel¬
stunde davon; dort zweigt jetzt der Weg nach dem Bahnhofe Imst ab, für den
der Bauplatz dem Bette des Inns durch Felssprengungen hat abgewonnen
werden müssen. Von Imst aus setzten die Augsburger ihren Weg oft nicht
nach dem Brenner, sondern über Landeck nach der Reschen Scheidegg und dem
Vintschgau fort, sodaß sie die Brennerstraße erst bei Vozen erreichten; wer nach
dem Brenner wollte, bog gleich bei Nassereit nach Telfs ab.

Älter und wohl auch belebter als der Weg über den Fernpaß war die
etwas kürzere, nicht höher aufsteigende, aber in mancher Beziehung beschwerlichere
Straße über die Scharnitz. Am östlichen Ufer des Ammcrsees vorüber zieht
noch heute die alte verlassene Nömerstraße auf dem Kamm der Uferhöhe an
dem uralten Kloster Andechs, das sich burgähnlich am Abhang erhebt, vor¬
über durch reichbebautes Land nach dem lieblichen Staffelsee und steigt dann
angesichts der hier prachtvoll sich entfaltenden Kette der Kalkalpen der Loisach
entgegen nach dem weiten sonnigen Wiesentale von Partenkirchen und Garmisch
hinauf, auf das vom Südosten die zerrissenen Felsen der Zugspitze, von Süden
die Wände des Wettersteingebirges herniederschauen, heute eine Fremdenkolonie
ersten Ranges, in alten Zeiten der Hauptort der Freisingischen Grafschaft
Werdenfels und eine bequeme Raststelle für Fuhrwerke, Saumtiere und reisige
Geschwader, die hier reichliches Futter fanden. Deshalb vereinigte sich hier
mit der von Murnau heraufkommenden Straße eine zweite, die von der west¬
lichen Straße über Füssen etwa bei Schongau abzweigte, hier den Lech über¬
schritt und über Oberammergau und Kloster Ettal heraufkam. Diese zog Kaiser
Friedrich der Erste auf der Rückkehr aus Italien, auf der er am 20. Sep¬
tember 1155 eine Urkunde ausstellte, der Kardinal Ludwig von Aragon im
Mai 1517 (über Rottenbuch nach Schongau) und Winckelmann im Oktober 1755.
Noch bezeugt der Name Partenkirchen und der der Partnachklamm die Existenz
der römischen Station Partenna, die auch durch einen Meilenstein verbürgt ist;
weiterhin an der östlichen Fortsetzung der Straße, die früher etwas weiter


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[0078] Über den Brenner Lage im feuchten Talgrunde inmitten schöngeschwungner Waldberge treffend bezeichnend. Noch bewegt sich auf dieser ganzen Linie ein ansehnlicher Post¬ Verkehr, dessen alte Bedeutung auch in dem stattlichen alten PostHause zutage tritt und seit langer Zeit in den Händen der Familie Sterzinger liegt. Gädeke sich doch hier die Straße nach dem Inntal, östlich nach Telfs, westlich nach Imst. Dorthin zieht sie an der Westseite des breiten Tales zwischen hochaufsteigenden Gebirgshängen. Imst selbst (763 Humiste, vom Personennamen Humizo), ein stattlicher Ort am Bergabhange, gehört zu den ältesten deutschen Siedlungen Tirols. Auf der alten steilen Straße, die nach dem Jnntale führt, verunglückte am 9. August 1854 König Friedrich August der Zweite von Sachsen; eine kleine Kapelle mit blaugrünen Dach bezeichnet die Unglücksstätte. Doch ver¬ schied der König, beim Abspringen ans dem schwankenden Wagen vom Huf¬ schlag des unruhigen Handpferdes tödlich am Hinterkopf getroffen, nicht hier, sondern in dem Gasthause des Joseph Mayr in Brennbichl etwa eine Viertel¬ stunde davon; dort zweigt jetzt der Weg nach dem Bahnhofe Imst ab, für den der Bauplatz dem Bette des Inns durch Felssprengungen hat abgewonnen werden müssen. Von Imst aus setzten die Augsburger ihren Weg oft nicht nach dem Brenner, sondern über Landeck nach der Reschen Scheidegg und dem Vintschgau fort, sodaß sie die Brennerstraße erst bei Vozen erreichten; wer nach dem Brenner wollte, bog gleich bei Nassereit nach Telfs ab. Älter und wohl auch belebter als der Weg über den Fernpaß war die etwas kürzere, nicht höher aufsteigende, aber in mancher Beziehung beschwerlichere Straße über die Scharnitz. Am östlichen Ufer des Ammcrsees vorüber zieht noch heute die alte verlassene Nömerstraße auf dem Kamm der Uferhöhe an dem uralten Kloster Andechs, das sich burgähnlich am Abhang erhebt, vor¬ über durch reichbebautes Land nach dem lieblichen Staffelsee und steigt dann angesichts der hier prachtvoll sich entfaltenden Kette der Kalkalpen der Loisach entgegen nach dem weiten sonnigen Wiesentale von Partenkirchen und Garmisch hinauf, auf das vom Südosten die zerrissenen Felsen der Zugspitze, von Süden die Wände des Wettersteingebirges herniederschauen, heute eine Fremdenkolonie ersten Ranges, in alten Zeiten der Hauptort der Freisingischen Grafschaft Werdenfels und eine bequeme Raststelle für Fuhrwerke, Saumtiere und reisige Geschwader, die hier reichliches Futter fanden. Deshalb vereinigte sich hier mit der von Murnau heraufkommenden Straße eine zweite, die von der west¬ lichen Straße über Füssen etwa bei Schongau abzweigte, hier den Lech über¬ schritt und über Oberammergau und Kloster Ettal heraufkam. Diese zog Kaiser Friedrich der Erste auf der Rückkehr aus Italien, auf der er am 20. Sep¬ tember 1155 eine Urkunde ausstellte, der Kardinal Ludwig von Aragon im Mai 1517 (über Rottenbuch nach Schongau) und Winckelmann im Oktober 1755. Noch bezeugt der Name Partenkirchen und der der Partnachklamm die Existenz der römischen Station Partenna, die auch durch einen Meilenstein verbürgt ist; weiterhin an der östlichen Fortsetzung der Straße, die früher etwas weiter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/78>, abgerufen am 25.08.2024.