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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Zeitungsberichte und Gerichtsverhandlungen

nur immer die eine Recht behalten! Die Darstellungen des im Zivilprozesse
Unterlegnen oder im Strafverfahren Verurteilten sind, weil niemals objektiv,
mit der größten Vorsicht aufzunehmen. Es ist ja menschlich erklärlich, daß diese
Personen mehr oder weniger absichtlich färben, um ihr Tun vor den Leuten
zu entschuldigen oder ihre vom Gericht für ungerechtfertigt erklärten Ansprüche
als dennoch begründet hinzustellen. Die oft unter Aufgebot eines starken
Redeschwalls leidenschaftlich vorgetragnen Darstellungen der Betroffnen sind auch
nicht immer gleich richtig zu erfassen; kommen solche Irrtümer in der Auf¬
fassung vor, und wird die Angelegenheit dann womöglich noch lückenhaft weiter
erzählt, so ist es nicht verwunderlich, wenn aus dem Zeitungsbericht mancher
Leser unverständliches Handeln, ungerechtes Entscheiden und himmelschreiende
Härte der Richter herausliest.

Nur wer, wie z. B. Richter und Rechtsanwalt, mitten in der Rechtspflege
und im Rechtsleben steht, vermag voll zu erkennen, eine wie unzuverlässige
Grundlage die üblichen Preßberichte für die Beurteilung der besprochnen Rechts¬
fälle sind. Ein guter Bericht über Gerichtsverhandlungen und namentlich über
richterliche Urteilsbegründungen setzt neben einem hohen Maße von allgemeiner
Bildung auch tiefgründige Rechtskenntnisse voraus; so qualifizierte Bericht¬
erstatter sind aber sehr, sehr selten. Und auch der treueste und vorzüglichste
Bericht muß in wichtigen Punkten, die für die Entscheidung des Gerichts mit¬
bestimmend waren, im Stiche lassen: er kann nicht den Eindruck vermitteln,
der im unmittelbaren Verkehr mit den Prozeßparteien, den Zeugen, dem An¬
geklagten aus Blick und Sprache, überhaupt aus dem ganzen Auftreten dieser
Personen für den Richter gewonnen worden ist, er kann nicht die tausend
kleinen Nebenvorkommnisse, das Milieu der Verhandlung mit allen ihren
psychologisch und juristisch wichtigen Eindrücken, z. V. die Beeinflussungen von
Zeugen, das Verhalten des Angeklagten bei Gegenüberstellung mit den Zeugen,
die Änderungen seiner Verteidigungsweise je nach dem Ergebnis der Beweis¬
aufnahme, seine Erklärungen über vorgelegte Urkunden und dergleichen mehr
richtig und anschaulich wiedergeben. Wie ein Mosaikbild aus zahllosen kleinen
Steinchen gebildet wird, so setzt sich auch in vielen Rechtsfällen, besonders in
Strafsachen, die Überzeugung des Richters vom Recht oder Unrecht aus den
mannigfaltigsten, an sich nicht bedeutungsvollen kleinen Einzelheiten zusammen;
werden diese bei der Wiedergabe der Urteilsbegründung mit Stillschweigen
übergangen und nur die Zeugenaussagen als Beweismaterial genannt, so mag
sich mancher über einen solchen Richterspruch wundern und ihn unbegreiflich
schelten. Darum ist die Bitte und die Warnung wohl am Platze, mit einer
Kritik gerichtlicher Entscheidungen vorsichtig zu sein und den Zeitungsberichten
nicht immer gleich blindlings zu trauen und zu folgen. Es liegt darin eine
schwere Kränkung des deutschen Nichterstandes, dessen Mitglieder -- was wohl
ernstlich nicht bezweifelt werden kann -- der Beeinflussung unzugänglich und
in der Lage sind, die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse objektiver und


Zeitungsberichte und Gerichtsverhandlungen

nur immer die eine Recht behalten! Die Darstellungen des im Zivilprozesse
Unterlegnen oder im Strafverfahren Verurteilten sind, weil niemals objektiv,
mit der größten Vorsicht aufzunehmen. Es ist ja menschlich erklärlich, daß diese
Personen mehr oder weniger absichtlich färben, um ihr Tun vor den Leuten
zu entschuldigen oder ihre vom Gericht für ungerechtfertigt erklärten Ansprüche
als dennoch begründet hinzustellen. Die oft unter Aufgebot eines starken
Redeschwalls leidenschaftlich vorgetragnen Darstellungen der Betroffnen sind auch
nicht immer gleich richtig zu erfassen; kommen solche Irrtümer in der Auf¬
fassung vor, und wird die Angelegenheit dann womöglich noch lückenhaft weiter
erzählt, so ist es nicht verwunderlich, wenn aus dem Zeitungsbericht mancher
Leser unverständliches Handeln, ungerechtes Entscheiden und himmelschreiende
Härte der Richter herausliest.

Nur wer, wie z. B. Richter und Rechtsanwalt, mitten in der Rechtspflege
und im Rechtsleben steht, vermag voll zu erkennen, eine wie unzuverlässige
Grundlage die üblichen Preßberichte für die Beurteilung der besprochnen Rechts¬
fälle sind. Ein guter Bericht über Gerichtsverhandlungen und namentlich über
richterliche Urteilsbegründungen setzt neben einem hohen Maße von allgemeiner
Bildung auch tiefgründige Rechtskenntnisse voraus; so qualifizierte Bericht¬
erstatter sind aber sehr, sehr selten. Und auch der treueste und vorzüglichste
Bericht muß in wichtigen Punkten, die für die Entscheidung des Gerichts mit¬
bestimmend waren, im Stiche lassen: er kann nicht den Eindruck vermitteln,
der im unmittelbaren Verkehr mit den Prozeßparteien, den Zeugen, dem An¬
geklagten aus Blick und Sprache, überhaupt aus dem ganzen Auftreten dieser
Personen für den Richter gewonnen worden ist, er kann nicht die tausend
kleinen Nebenvorkommnisse, das Milieu der Verhandlung mit allen ihren
psychologisch und juristisch wichtigen Eindrücken, z. V. die Beeinflussungen von
Zeugen, das Verhalten des Angeklagten bei Gegenüberstellung mit den Zeugen,
die Änderungen seiner Verteidigungsweise je nach dem Ergebnis der Beweis¬
aufnahme, seine Erklärungen über vorgelegte Urkunden und dergleichen mehr
richtig und anschaulich wiedergeben. Wie ein Mosaikbild aus zahllosen kleinen
Steinchen gebildet wird, so setzt sich auch in vielen Rechtsfällen, besonders in
Strafsachen, die Überzeugung des Richters vom Recht oder Unrecht aus den
mannigfaltigsten, an sich nicht bedeutungsvollen kleinen Einzelheiten zusammen;
werden diese bei der Wiedergabe der Urteilsbegründung mit Stillschweigen
übergangen und nur die Zeugenaussagen als Beweismaterial genannt, so mag
sich mancher über einen solchen Richterspruch wundern und ihn unbegreiflich
schelten. Darum ist die Bitte und die Warnung wohl am Platze, mit einer
Kritik gerichtlicher Entscheidungen vorsichtig zu sein und den Zeitungsberichten
nicht immer gleich blindlings zu trauen und zu folgen. Es liegt darin eine
schwere Kränkung des deutschen Nichterstandes, dessen Mitglieder — was wohl
ernstlich nicht bezweifelt werden kann — der Beeinflussung unzugänglich und
in der Lage sind, die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse objektiver und


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[0075] Zeitungsberichte und Gerichtsverhandlungen nur immer die eine Recht behalten! Die Darstellungen des im Zivilprozesse Unterlegnen oder im Strafverfahren Verurteilten sind, weil niemals objektiv, mit der größten Vorsicht aufzunehmen. Es ist ja menschlich erklärlich, daß diese Personen mehr oder weniger absichtlich färben, um ihr Tun vor den Leuten zu entschuldigen oder ihre vom Gericht für ungerechtfertigt erklärten Ansprüche als dennoch begründet hinzustellen. Die oft unter Aufgebot eines starken Redeschwalls leidenschaftlich vorgetragnen Darstellungen der Betroffnen sind auch nicht immer gleich richtig zu erfassen; kommen solche Irrtümer in der Auf¬ fassung vor, und wird die Angelegenheit dann womöglich noch lückenhaft weiter erzählt, so ist es nicht verwunderlich, wenn aus dem Zeitungsbericht mancher Leser unverständliches Handeln, ungerechtes Entscheiden und himmelschreiende Härte der Richter herausliest. Nur wer, wie z. B. Richter und Rechtsanwalt, mitten in der Rechtspflege und im Rechtsleben steht, vermag voll zu erkennen, eine wie unzuverlässige Grundlage die üblichen Preßberichte für die Beurteilung der besprochnen Rechts¬ fälle sind. Ein guter Bericht über Gerichtsverhandlungen und namentlich über richterliche Urteilsbegründungen setzt neben einem hohen Maße von allgemeiner Bildung auch tiefgründige Rechtskenntnisse voraus; so qualifizierte Bericht¬ erstatter sind aber sehr, sehr selten. Und auch der treueste und vorzüglichste Bericht muß in wichtigen Punkten, die für die Entscheidung des Gerichts mit¬ bestimmend waren, im Stiche lassen: er kann nicht den Eindruck vermitteln, der im unmittelbaren Verkehr mit den Prozeßparteien, den Zeugen, dem An¬ geklagten aus Blick und Sprache, überhaupt aus dem ganzen Auftreten dieser Personen für den Richter gewonnen worden ist, er kann nicht die tausend kleinen Nebenvorkommnisse, das Milieu der Verhandlung mit allen ihren psychologisch und juristisch wichtigen Eindrücken, z. V. die Beeinflussungen von Zeugen, das Verhalten des Angeklagten bei Gegenüberstellung mit den Zeugen, die Änderungen seiner Verteidigungsweise je nach dem Ergebnis der Beweis¬ aufnahme, seine Erklärungen über vorgelegte Urkunden und dergleichen mehr richtig und anschaulich wiedergeben. Wie ein Mosaikbild aus zahllosen kleinen Steinchen gebildet wird, so setzt sich auch in vielen Rechtsfällen, besonders in Strafsachen, die Überzeugung des Richters vom Recht oder Unrecht aus den mannigfaltigsten, an sich nicht bedeutungsvollen kleinen Einzelheiten zusammen; werden diese bei der Wiedergabe der Urteilsbegründung mit Stillschweigen übergangen und nur die Zeugenaussagen als Beweismaterial genannt, so mag sich mancher über einen solchen Richterspruch wundern und ihn unbegreiflich schelten. Darum ist die Bitte und die Warnung wohl am Platze, mit einer Kritik gerichtlicher Entscheidungen vorsichtig zu sein und den Zeitungsberichten nicht immer gleich blindlings zu trauen und zu folgen. Es liegt darin eine schwere Kränkung des deutschen Nichterstandes, dessen Mitglieder — was wohl ernstlich nicht bezweifelt werden kann — der Beeinflussung unzugänglich und in der Lage sind, die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse objektiver und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/75>, abgerufen am 23.07.2024.