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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Zeitungsberichte und Gerichtsverhandlungen

recht verwickelten Tatbestände oft viel Scharfsinn und Gesetzeskenntnis er¬
heischt. Mit dem materiellen Strafrecht, für das im Publikum eine oft un¬
begreifliche Begeisterung herrscht, der auch anständige Blätter leider Rechnung
tragen zu müssen glauben, mag es immerhin noch gehn; die prozeßrechtlichen
Vorschriften und Vorgänge, z. B. Haft, Auslieferung, Stellung des Vorsitzenden
zu Verteidiger und Staatsanwalt, Nechtsmittelzug und dergleichen, bleiben den
Reportern aber, wie ihre Berichte zeigen, vielfach durchaus dunkel. Und nun
gar die Berichte über Zivilurteile! Den Verhandlungen in Zivilsachen pflegt
ja nur äußerst selten ein Preßberichterstatter beizuwohnen; die Berichte kommen
regelmüßig nur auf Grund des Urteils in die Zeitung. Da werden Auszüge
gebracht, die, losgerissen aus dem Zusammenhange des Ganzen, nicht wohl
verstanden werden können, durch ungenaue und abgekürzte Wiedergabe einzelner
Sätze wird der Anschein von Widersprüchen erweckt, und kommt schließlich noch
der Druckfehlerteufel hinzu, so ist der Unsinn fertig, und der Leser schimpft
über das "haarsträubende" Urteil, über die "Klassenjustiz", über den "Schlag
ins Gesicht" für das "Volksempfinden".

Nun, was unter der Flagge des "Rechtsbewußtseins des Volkes" segelt,
ist wahrlich oft genug nichts andres als einseitige Parteiauffassung, engherziger
Konfessionalismus, unzureichende geistige und moralische Bildung, keineswegs
aber der Ausdruck eines mit der Verkehrs- und Kulturentwicklung fortgeschrittenen
verfeinerten sittlichen Empfindens und praktischen Willens. Und mit dem so¬
genannten "gesunden Menschenverstande" ist gar nichts zu machen; den hat
jeder Einzelne in seiner besondern Art und Güte!

Unsre heutige Gesetzgebung zieht ja so viel wie irgend möglich in ihren
Bereich; jedes Jahr flattern einige Dutzend aus den Parlamenten und einige
hundert Erlasse und Verordnungen aus den Ministerien heraus, und das Be¬
vormundung^ und Beaufsichtigungsrecht des Staates geht manchem guten
Untertanen wohl schon zu weit. Aber auch die vollkommenste Gesetzgebung
vermag nicht alles zu leisten, sie muß gar vieles der in die tausend Einzel¬
heiten der Fälle eindringenden gewissenhaften Arbeit des Richters überlassen.
Alltäglich zeigt die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit des wirklichen Lebens, daß
der Gesetzgeber nicht alles, was da vor sich geht, voraussehen, im voraus über¬
denken und in bestimmte Regeln zwingen kann. Und wäre seine Erfahrung
noch so reich, sein Wissen noch so groß, sein Blick in die Zukunft noch so stark,
er wäre doch nicht imstande, dem bunten Spiel gerecht zu werden, das der
frei sich betätigende Wille der Menschen, ihr erfindungsreicher Egoismus, ihre
verbrecherische List und das Walten des blinden Zufalls Tag für Tag treiben.
Da muß der Richter aus seinem Wissen und seinem gelüuterteu Rechtsgefühl
heraus in jedem Einzelfalle, wo solche Lücke klafft, rechtschaffend eingreifen.

Das Richteramt bekleiden unabhängige, nur dem Gesetz unterworfne
Richter. Es ist ebensosehr Unkenntnis wie Bosheit und Verleumdung, wenn
von erfolgreichen Eingriffen des Justizministers oder andrer Persönlichkeiten


Grenzboten III 1906 9
Zeitungsberichte und Gerichtsverhandlungen

recht verwickelten Tatbestände oft viel Scharfsinn und Gesetzeskenntnis er¬
heischt. Mit dem materiellen Strafrecht, für das im Publikum eine oft un¬
begreifliche Begeisterung herrscht, der auch anständige Blätter leider Rechnung
tragen zu müssen glauben, mag es immerhin noch gehn; die prozeßrechtlichen
Vorschriften und Vorgänge, z. B. Haft, Auslieferung, Stellung des Vorsitzenden
zu Verteidiger und Staatsanwalt, Nechtsmittelzug und dergleichen, bleiben den
Reportern aber, wie ihre Berichte zeigen, vielfach durchaus dunkel. Und nun
gar die Berichte über Zivilurteile! Den Verhandlungen in Zivilsachen pflegt
ja nur äußerst selten ein Preßberichterstatter beizuwohnen; die Berichte kommen
regelmüßig nur auf Grund des Urteils in die Zeitung. Da werden Auszüge
gebracht, die, losgerissen aus dem Zusammenhange des Ganzen, nicht wohl
verstanden werden können, durch ungenaue und abgekürzte Wiedergabe einzelner
Sätze wird der Anschein von Widersprüchen erweckt, und kommt schließlich noch
der Druckfehlerteufel hinzu, so ist der Unsinn fertig, und der Leser schimpft
über das „haarsträubende" Urteil, über die „Klassenjustiz", über den „Schlag
ins Gesicht" für das „Volksempfinden".

Nun, was unter der Flagge des „Rechtsbewußtseins des Volkes" segelt,
ist wahrlich oft genug nichts andres als einseitige Parteiauffassung, engherziger
Konfessionalismus, unzureichende geistige und moralische Bildung, keineswegs
aber der Ausdruck eines mit der Verkehrs- und Kulturentwicklung fortgeschrittenen
verfeinerten sittlichen Empfindens und praktischen Willens. Und mit dem so¬
genannten „gesunden Menschenverstande" ist gar nichts zu machen; den hat
jeder Einzelne in seiner besondern Art und Güte!

Unsre heutige Gesetzgebung zieht ja so viel wie irgend möglich in ihren
Bereich; jedes Jahr flattern einige Dutzend aus den Parlamenten und einige
hundert Erlasse und Verordnungen aus den Ministerien heraus, und das Be¬
vormundung^ und Beaufsichtigungsrecht des Staates geht manchem guten
Untertanen wohl schon zu weit. Aber auch die vollkommenste Gesetzgebung
vermag nicht alles zu leisten, sie muß gar vieles der in die tausend Einzel¬
heiten der Fälle eindringenden gewissenhaften Arbeit des Richters überlassen.
Alltäglich zeigt die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit des wirklichen Lebens, daß
der Gesetzgeber nicht alles, was da vor sich geht, voraussehen, im voraus über¬
denken und in bestimmte Regeln zwingen kann. Und wäre seine Erfahrung
noch so reich, sein Wissen noch so groß, sein Blick in die Zukunft noch so stark,
er wäre doch nicht imstande, dem bunten Spiel gerecht zu werden, das der
frei sich betätigende Wille der Menschen, ihr erfindungsreicher Egoismus, ihre
verbrecherische List und das Walten des blinden Zufalls Tag für Tag treiben.
Da muß der Richter aus seinem Wissen und seinem gelüuterteu Rechtsgefühl
heraus in jedem Einzelfalle, wo solche Lücke klafft, rechtschaffend eingreifen.

Das Richteramt bekleiden unabhängige, nur dem Gesetz unterworfne
Richter. Es ist ebensosehr Unkenntnis wie Bosheit und Verleumdung, wenn
von erfolgreichen Eingriffen des Justizministers oder andrer Persönlichkeiten


Grenzboten III 1906 9
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[0073] Zeitungsberichte und Gerichtsverhandlungen recht verwickelten Tatbestände oft viel Scharfsinn und Gesetzeskenntnis er¬ heischt. Mit dem materiellen Strafrecht, für das im Publikum eine oft un¬ begreifliche Begeisterung herrscht, der auch anständige Blätter leider Rechnung tragen zu müssen glauben, mag es immerhin noch gehn; die prozeßrechtlichen Vorschriften und Vorgänge, z. B. Haft, Auslieferung, Stellung des Vorsitzenden zu Verteidiger und Staatsanwalt, Nechtsmittelzug und dergleichen, bleiben den Reportern aber, wie ihre Berichte zeigen, vielfach durchaus dunkel. Und nun gar die Berichte über Zivilurteile! Den Verhandlungen in Zivilsachen pflegt ja nur äußerst selten ein Preßberichterstatter beizuwohnen; die Berichte kommen regelmüßig nur auf Grund des Urteils in die Zeitung. Da werden Auszüge gebracht, die, losgerissen aus dem Zusammenhange des Ganzen, nicht wohl verstanden werden können, durch ungenaue und abgekürzte Wiedergabe einzelner Sätze wird der Anschein von Widersprüchen erweckt, und kommt schließlich noch der Druckfehlerteufel hinzu, so ist der Unsinn fertig, und der Leser schimpft über das „haarsträubende" Urteil, über die „Klassenjustiz", über den „Schlag ins Gesicht" für das „Volksempfinden". Nun, was unter der Flagge des „Rechtsbewußtseins des Volkes" segelt, ist wahrlich oft genug nichts andres als einseitige Parteiauffassung, engherziger Konfessionalismus, unzureichende geistige und moralische Bildung, keineswegs aber der Ausdruck eines mit der Verkehrs- und Kulturentwicklung fortgeschrittenen verfeinerten sittlichen Empfindens und praktischen Willens. Und mit dem so¬ genannten „gesunden Menschenverstande" ist gar nichts zu machen; den hat jeder Einzelne in seiner besondern Art und Güte! Unsre heutige Gesetzgebung zieht ja so viel wie irgend möglich in ihren Bereich; jedes Jahr flattern einige Dutzend aus den Parlamenten und einige hundert Erlasse und Verordnungen aus den Ministerien heraus, und das Be¬ vormundung^ und Beaufsichtigungsrecht des Staates geht manchem guten Untertanen wohl schon zu weit. Aber auch die vollkommenste Gesetzgebung vermag nicht alles zu leisten, sie muß gar vieles der in die tausend Einzel¬ heiten der Fälle eindringenden gewissenhaften Arbeit des Richters überlassen. Alltäglich zeigt die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit des wirklichen Lebens, daß der Gesetzgeber nicht alles, was da vor sich geht, voraussehen, im voraus über¬ denken und in bestimmte Regeln zwingen kann. Und wäre seine Erfahrung noch so reich, sein Wissen noch so groß, sein Blick in die Zukunft noch so stark, er wäre doch nicht imstande, dem bunten Spiel gerecht zu werden, das der frei sich betätigende Wille der Menschen, ihr erfindungsreicher Egoismus, ihre verbrecherische List und das Walten des blinden Zufalls Tag für Tag treiben. Da muß der Richter aus seinem Wissen und seinem gelüuterteu Rechtsgefühl heraus in jedem Einzelfalle, wo solche Lücke klafft, rechtschaffend eingreifen. Das Richteramt bekleiden unabhängige, nur dem Gesetz unterworfne Richter. Es ist ebensosehr Unkenntnis wie Bosheit und Verleumdung, wenn von erfolgreichen Eingriffen des Justizministers oder andrer Persönlichkeiten Grenzboten III 1906 9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/73>, abgerufen am 27.12.2024.