Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Polen und die Polen im heutigen Europa

leiten schafft. Wir sind zu sehr Realpolitiker, als daß wir uns darauf irgend¬
welche Hoffnungen machen könnten, und darum wird der Gegensatz zwischen
deutsch und polnisch wohl bleiben. Es ist auch sehr fraglich, ob einer solchen
Wendung im Verhalten der Deutsch-Polen irgendein Einfluß aus unsre Be-
zierungen zu Rußland eingeräumt werden dürfte. Nur vom Standpunkte der
Polen läßt sich theoretisch sagen: wenn sie auf Losreißung Russisch-Polens
rechnen, muß die erste Bedingung sein, den Gegensatz zu Deutschland aufzu¬
heben und mit ihm ins reine zu kommen -- cUviäö se iinxera. Ist das
den Polen die Aufopferung der drei oder vier deutschen Regierungsbezirke
nicht wert, so wird ihre Sache um so schlechter stehn. Und wir nehmen es
als sicher an, daß die Polen, die so große Jllusionspolitiker sind, nicht an ein
solches Opfer denken werden.

Daß an sich die Existenz eines Pufferstaats zwischen Deutschland und
Rußland für unser Vaterland verderblich sein würde, läßt sich natürlich nicht
behaupten. Im Gegenteil, es könnte manches angenehme haben. Zumal
wenn die Polen in den mehr als hundert Jahren ihrer Unselbständigkeit ge¬
lernt haben sollten, wie Staaten regiert werden müssen. Die fürchterlichen
Zustände, die den Untergang des alten Reiches bewirkt haben, dürften nicht
wiederkehren, wenn nicht alsbald ein zweiter Zusammenbruch eintreten sollte.
Die fanatische kirchliche Intoleranz ebensowenig. Der polnische Bauer und
Bürger würden sich ihr Recht am Staat nicht vorenthalten lassen. Mit der
ausschließlichen Adelsherrschaft wäre es vorbei. Die Fremden und die Nicht¬
Polen würden ganz andre Nechtsbürgschaften erhalten müssen.

Was man gewöhnlich unter Russisch-Polen versteht, und was auch
staatsrechtlich so behandelt wird, sind zehn Gouvernements von zusammen
127319 Quadratkilometern und nach der Zählung von 1897 9,4 Millionen
Einwohnern. Überwiegend polnisch sind noch drei Kreise des Gouvernements
Grodno, doch sollen diese hier außer acht bleiben. Ebenso Litauen und die
ehemals dem Königreich Polen nur unterworfnen stammfremden Landesteile
(Wolhhnien, Podolien usw.). Auch dieses sogenannte Russisch-Polen ist noch
keineswegs vollständig im Besitz der polnischen Nasse. Reichlich ein Viertel
ist anderssprachig, namentlich ruthenisch, litauisch und deutsch. In dem süd¬
östlichen Gouvernement Ludim, das 1200000 Einwohner zählt, gehören nur
62,5 vom Hundert zur römisch-katholischen Kirche; 21,8 vom Hundert sind
griechisch-orthodox und uniert, 7,4 vom Hundert protestantisch und 13,3 vom
Hundert jüdisch. Die Juden kann man freilich nicht in Gegensatz zum
Polentum stellen, denn sie würden sich mit einer polnischen Herrschaft wohl
noch besser abfinden als mit der russischen. Ein aus Russisch-Polen gebildeter
Staat mit 9^ Millionen Einwohnern würde bei 7 Millionen wirklicher Polen
überwiegend polnisch sei. Denkt man sich dieses mit Galizien vereinigt, wobei
wir Galizien nicht als den annektierten sondern den annektierenden Teil an¬
sehen, so kämen 78500 Quadratkilometer mit 7,3 Millionen Einwohnern


Polen und die Polen im heutigen Europa

leiten schafft. Wir sind zu sehr Realpolitiker, als daß wir uns darauf irgend¬
welche Hoffnungen machen könnten, und darum wird der Gegensatz zwischen
deutsch und polnisch wohl bleiben. Es ist auch sehr fraglich, ob einer solchen
Wendung im Verhalten der Deutsch-Polen irgendein Einfluß aus unsre Be-
zierungen zu Rußland eingeräumt werden dürfte. Nur vom Standpunkte der
Polen läßt sich theoretisch sagen: wenn sie auf Losreißung Russisch-Polens
rechnen, muß die erste Bedingung sein, den Gegensatz zu Deutschland aufzu¬
heben und mit ihm ins reine zu kommen — cUviäö se iinxera. Ist das
den Polen die Aufopferung der drei oder vier deutschen Regierungsbezirke
nicht wert, so wird ihre Sache um so schlechter stehn. Und wir nehmen es
als sicher an, daß die Polen, die so große Jllusionspolitiker sind, nicht an ein
solches Opfer denken werden.

Daß an sich die Existenz eines Pufferstaats zwischen Deutschland und
Rußland für unser Vaterland verderblich sein würde, läßt sich natürlich nicht
behaupten. Im Gegenteil, es könnte manches angenehme haben. Zumal
wenn die Polen in den mehr als hundert Jahren ihrer Unselbständigkeit ge¬
lernt haben sollten, wie Staaten regiert werden müssen. Die fürchterlichen
Zustände, die den Untergang des alten Reiches bewirkt haben, dürften nicht
wiederkehren, wenn nicht alsbald ein zweiter Zusammenbruch eintreten sollte.
Die fanatische kirchliche Intoleranz ebensowenig. Der polnische Bauer und
Bürger würden sich ihr Recht am Staat nicht vorenthalten lassen. Mit der
ausschließlichen Adelsherrschaft wäre es vorbei. Die Fremden und die Nicht¬
Polen würden ganz andre Nechtsbürgschaften erhalten müssen.

Was man gewöhnlich unter Russisch-Polen versteht, und was auch
staatsrechtlich so behandelt wird, sind zehn Gouvernements von zusammen
127319 Quadratkilometern und nach der Zählung von 1897 9,4 Millionen
Einwohnern. Überwiegend polnisch sind noch drei Kreise des Gouvernements
Grodno, doch sollen diese hier außer acht bleiben. Ebenso Litauen und die
ehemals dem Königreich Polen nur unterworfnen stammfremden Landesteile
(Wolhhnien, Podolien usw.). Auch dieses sogenannte Russisch-Polen ist noch
keineswegs vollständig im Besitz der polnischen Nasse. Reichlich ein Viertel
ist anderssprachig, namentlich ruthenisch, litauisch und deutsch. In dem süd¬
östlichen Gouvernement Ludim, das 1200000 Einwohner zählt, gehören nur
62,5 vom Hundert zur römisch-katholischen Kirche; 21,8 vom Hundert sind
griechisch-orthodox und uniert, 7,4 vom Hundert protestantisch und 13,3 vom
Hundert jüdisch. Die Juden kann man freilich nicht in Gegensatz zum
Polentum stellen, denn sie würden sich mit einer polnischen Herrschaft wohl
noch besser abfinden als mit der russischen. Ein aus Russisch-Polen gebildeter
Staat mit 9^ Millionen Einwohnern würde bei 7 Millionen wirklicher Polen
überwiegend polnisch sei. Denkt man sich dieses mit Galizien vereinigt, wobei
wir Galizien nicht als den annektierten sondern den annektierenden Teil an¬
sehen, so kämen 78500 Quadratkilometer mit 7,3 Millionen Einwohnern


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0071" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299858"/>
          <fw type="header" place="top"> Polen und die Polen im heutigen Europa</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_223" prev="#ID_222"> leiten schafft. Wir sind zu sehr Realpolitiker, als daß wir uns darauf irgend¬<lb/>
welche Hoffnungen machen könnten, und darum wird der Gegensatz zwischen<lb/>
deutsch und polnisch wohl bleiben. Es ist auch sehr fraglich, ob einer solchen<lb/>
Wendung im Verhalten der Deutsch-Polen irgendein Einfluß aus unsre Be-<lb/>
zierungen zu Rußland eingeräumt werden dürfte. Nur vom Standpunkte der<lb/>
Polen läßt sich theoretisch sagen: wenn sie auf Losreißung Russisch-Polens<lb/>
rechnen, muß die erste Bedingung sein, den Gegensatz zu Deutschland aufzu¬<lb/>
heben und mit ihm ins reine zu kommen &#x2014; cUviäö se iinxera. Ist das<lb/>
den Polen die Aufopferung der drei oder vier deutschen Regierungsbezirke<lb/>
nicht wert, so wird ihre Sache um so schlechter stehn. Und wir nehmen es<lb/>
als sicher an, daß die Polen, die so große Jllusionspolitiker sind, nicht an ein<lb/>
solches Opfer denken werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_224"> Daß an sich die Existenz eines Pufferstaats zwischen Deutschland und<lb/>
Rußland für unser Vaterland verderblich sein würde, läßt sich natürlich nicht<lb/>
behaupten. Im Gegenteil, es könnte manches angenehme haben. Zumal<lb/>
wenn die Polen in den mehr als hundert Jahren ihrer Unselbständigkeit ge¬<lb/>
lernt haben sollten, wie Staaten regiert werden müssen. Die fürchterlichen<lb/>
Zustände, die den Untergang des alten Reiches bewirkt haben, dürften nicht<lb/>
wiederkehren, wenn nicht alsbald ein zweiter Zusammenbruch eintreten sollte.<lb/>
Die fanatische kirchliche Intoleranz ebensowenig. Der polnische Bauer und<lb/>
Bürger würden sich ihr Recht am Staat nicht vorenthalten lassen. Mit der<lb/>
ausschließlichen Adelsherrschaft wäre es vorbei. Die Fremden und die Nicht¬<lb/>
Polen würden ganz andre Nechtsbürgschaften erhalten müssen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_225" next="#ID_226"> Was man gewöhnlich unter Russisch-Polen versteht, und was auch<lb/>
staatsrechtlich so behandelt wird, sind zehn Gouvernements von zusammen<lb/>
127319 Quadratkilometern und nach der Zählung von 1897 9,4 Millionen<lb/>
Einwohnern. Überwiegend polnisch sind noch drei Kreise des Gouvernements<lb/>
Grodno, doch sollen diese hier außer acht bleiben. Ebenso Litauen und die<lb/>
ehemals dem Königreich Polen nur unterworfnen stammfremden Landesteile<lb/>
(Wolhhnien, Podolien usw.). Auch dieses sogenannte Russisch-Polen ist noch<lb/>
keineswegs vollständig im Besitz der polnischen Nasse. Reichlich ein Viertel<lb/>
ist anderssprachig, namentlich ruthenisch, litauisch und deutsch. In dem süd¬<lb/>
östlichen Gouvernement Ludim, das 1200000 Einwohner zählt, gehören nur<lb/>
62,5 vom Hundert zur römisch-katholischen Kirche; 21,8 vom Hundert sind<lb/>
griechisch-orthodox und uniert, 7,4 vom Hundert protestantisch und 13,3 vom<lb/>
Hundert jüdisch. Die Juden kann man freilich nicht in Gegensatz zum<lb/>
Polentum stellen, denn sie würden sich mit einer polnischen Herrschaft wohl<lb/>
noch besser abfinden als mit der russischen. Ein aus Russisch-Polen gebildeter<lb/>
Staat mit 9^ Millionen Einwohnern würde bei 7 Millionen wirklicher Polen<lb/>
überwiegend polnisch sei. Denkt man sich dieses mit Galizien vereinigt, wobei<lb/>
wir Galizien nicht als den annektierten sondern den annektierenden Teil an¬<lb/>
sehen, so kämen 78500 Quadratkilometer mit 7,3 Millionen Einwohnern</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0071] Polen und die Polen im heutigen Europa leiten schafft. Wir sind zu sehr Realpolitiker, als daß wir uns darauf irgend¬ welche Hoffnungen machen könnten, und darum wird der Gegensatz zwischen deutsch und polnisch wohl bleiben. Es ist auch sehr fraglich, ob einer solchen Wendung im Verhalten der Deutsch-Polen irgendein Einfluß aus unsre Be- zierungen zu Rußland eingeräumt werden dürfte. Nur vom Standpunkte der Polen läßt sich theoretisch sagen: wenn sie auf Losreißung Russisch-Polens rechnen, muß die erste Bedingung sein, den Gegensatz zu Deutschland aufzu¬ heben und mit ihm ins reine zu kommen — cUviäö se iinxera. Ist das den Polen die Aufopferung der drei oder vier deutschen Regierungsbezirke nicht wert, so wird ihre Sache um so schlechter stehn. Und wir nehmen es als sicher an, daß die Polen, die so große Jllusionspolitiker sind, nicht an ein solches Opfer denken werden. Daß an sich die Existenz eines Pufferstaats zwischen Deutschland und Rußland für unser Vaterland verderblich sein würde, läßt sich natürlich nicht behaupten. Im Gegenteil, es könnte manches angenehme haben. Zumal wenn die Polen in den mehr als hundert Jahren ihrer Unselbständigkeit ge¬ lernt haben sollten, wie Staaten regiert werden müssen. Die fürchterlichen Zustände, die den Untergang des alten Reiches bewirkt haben, dürften nicht wiederkehren, wenn nicht alsbald ein zweiter Zusammenbruch eintreten sollte. Die fanatische kirchliche Intoleranz ebensowenig. Der polnische Bauer und Bürger würden sich ihr Recht am Staat nicht vorenthalten lassen. Mit der ausschließlichen Adelsherrschaft wäre es vorbei. Die Fremden und die Nicht¬ Polen würden ganz andre Nechtsbürgschaften erhalten müssen. Was man gewöhnlich unter Russisch-Polen versteht, und was auch staatsrechtlich so behandelt wird, sind zehn Gouvernements von zusammen 127319 Quadratkilometern und nach der Zählung von 1897 9,4 Millionen Einwohnern. Überwiegend polnisch sind noch drei Kreise des Gouvernements Grodno, doch sollen diese hier außer acht bleiben. Ebenso Litauen und die ehemals dem Königreich Polen nur unterworfnen stammfremden Landesteile (Wolhhnien, Podolien usw.). Auch dieses sogenannte Russisch-Polen ist noch keineswegs vollständig im Besitz der polnischen Nasse. Reichlich ein Viertel ist anderssprachig, namentlich ruthenisch, litauisch und deutsch. In dem süd¬ östlichen Gouvernement Ludim, das 1200000 Einwohner zählt, gehören nur 62,5 vom Hundert zur römisch-katholischen Kirche; 21,8 vom Hundert sind griechisch-orthodox und uniert, 7,4 vom Hundert protestantisch und 13,3 vom Hundert jüdisch. Die Juden kann man freilich nicht in Gegensatz zum Polentum stellen, denn sie würden sich mit einer polnischen Herrschaft wohl noch besser abfinden als mit der russischen. Ein aus Russisch-Polen gebildeter Staat mit 9^ Millionen Einwohnern würde bei 7 Millionen wirklicher Polen überwiegend polnisch sei. Denkt man sich dieses mit Galizien vereinigt, wobei wir Galizien nicht als den annektierten sondern den annektierenden Teil an¬ sehen, so kämen 78500 Quadratkilometer mit 7,3 Millionen Einwohnern

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/71
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/71>, abgerufen am 25.08.2024.