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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Polen und die Polen im heutigen Europa

Beziehung gilt das t8lix xosssssor. Wir sind der stärkere Teil und können
nicht dem Geheiß des schwächern weichen. Wir sind auch das, was die Kultur
anlangt, höher stehende Volk und müssen unsre Kultur dort verteidigen, wo sie
Boden gefaßt hat. Wir haben auch zu unsrer ganzen nationalen Stellung,
zur Sicherung unsers Reichs alles nötig, was in unserm Besitz ist, wir können
nichts davon hergeben, etwa aus schwächlichen Gefühlsanwandlungen. Erst
wenn die Macht unsers Reichs zerschmettert am Boden läge, würde ein Feind
es wagen können, aus unserm blutenden Leibe ein Stück herauszureißen.

Diese scharf verneinende Antwort ist nicht im geringsten von Polenfeind¬
schaft diktiert. Sie ist folgerichtige Logik, die man auf polnischer Seite füg¬
lich selbst nicht bestreiten kann. Die Liebe zur Nationalität, zur Muttersprache,
zur angestammten Kirche ist an sich nicht tadelnswert. Auch kann den Polen
die Hoffnung, wieder zu einem unabhängigen Staatsgebilde zu kommen,
menschlich nicht zum Vorwurf gemacht werden. Auch das Gesetz bestraft keine
Hoffnungen, sondern nur Handlungen. Handlungen, die sich gegen die drei
Staaten richten, die heute den Boden der ehemaligen polnischen Republik
beherrschen, werden allerdings als Hochverrat bestraft. Die Polen als Nation,
von einzelnen Eiferern abgesehen, hüten sich wohl, sogar in der schweren
Krisis, in der sich Rußland augenblicklich befindet, zu verbrecherischen Hand¬
lungen überzugehn. Deutschland ist im Vollbesitz seiner Macht und wird sich
solcher noch ganz anders zu erwehren wissen als Rußland.

Mit dem Gedanken an die Wiederherstellung ihres unabhängigen Reiches
kommen die Polen auf den Boden der praktischen oder vielmehr praktisch sein
sollenden Politik, und da handelt es sich um andre Dinge als um Hoffnungen.
Da müssen sie die entgegenstehenden Umstände berücksichtigen, also den
Willen und die Macht der drei Großmächte. Was Österreich-Ungarn anlangt,
so ließe sich wohl eine Melodie finden, die den Ohren dieses Staates nicht
mißsiele. Es ist kaum denkbar, daß die Polen nicht versuchen sollten,
wenigstens diese eine Macht für ihr Vorhaben zu gewinnen. Kann doch
Galizien schon jetzt geradezu als Exerzierplatz für die Herstellungsidee, als
Vorstufe für den künftigen polnischen Staat gelten. An Österreich-Ungarn,
das Polyglotte Imperium, die katholische, stark dem Klerikalismus ergebne
Macht muß sich der neue Staat anlehnen. Ob dafür nun die Form der
Personalunion, des Eintritts in die Monarchie etwa nach dem Muster Ungarns
oder die der Sekundogenitur oder noch eine andre Form gesucht werden soll,
ist verhältnismäßig eine Nebensache. Der ganze Schwerpunkt liegt in den
Beziehungen zu Rußland. Die Krakauer Fragestellung nimmt in Aussicht
erstens die Unabhängigkeit, zweitens die Umwandlung Russisch-Polens in ein
autonomes, dem russischen Reiche föderativ angeschlossenes Gebiet mit eignem
Landtag, eigner Landesregierung und eignem Wehrwesen. Die zweite Even¬
tualität entrückt die polnischen Teile Österreichs und Preußens der Betrachtung,
doch ist schwer anzunehmen, daß es die Polen dabei bewenden lassen werden.


Polen und die Polen im heutigen Europa

Beziehung gilt das t8lix xosssssor. Wir sind der stärkere Teil und können
nicht dem Geheiß des schwächern weichen. Wir sind auch das, was die Kultur
anlangt, höher stehende Volk und müssen unsre Kultur dort verteidigen, wo sie
Boden gefaßt hat. Wir haben auch zu unsrer ganzen nationalen Stellung,
zur Sicherung unsers Reichs alles nötig, was in unserm Besitz ist, wir können
nichts davon hergeben, etwa aus schwächlichen Gefühlsanwandlungen. Erst
wenn die Macht unsers Reichs zerschmettert am Boden läge, würde ein Feind
es wagen können, aus unserm blutenden Leibe ein Stück herauszureißen.

Diese scharf verneinende Antwort ist nicht im geringsten von Polenfeind¬
schaft diktiert. Sie ist folgerichtige Logik, die man auf polnischer Seite füg¬
lich selbst nicht bestreiten kann. Die Liebe zur Nationalität, zur Muttersprache,
zur angestammten Kirche ist an sich nicht tadelnswert. Auch kann den Polen
die Hoffnung, wieder zu einem unabhängigen Staatsgebilde zu kommen,
menschlich nicht zum Vorwurf gemacht werden. Auch das Gesetz bestraft keine
Hoffnungen, sondern nur Handlungen. Handlungen, die sich gegen die drei
Staaten richten, die heute den Boden der ehemaligen polnischen Republik
beherrschen, werden allerdings als Hochverrat bestraft. Die Polen als Nation,
von einzelnen Eiferern abgesehen, hüten sich wohl, sogar in der schweren
Krisis, in der sich Rußland augenblicklich befindet, zu verbrecherischen Hand¬
lungen überzugehn. Deutschland ist im Vollbesitz seiner Macht und wird sich
solcher noch ganz anders zu erwehren wissen als Rußland.

Mit dem Gedanken an die Wiederherstellung ihres unabhängigen Reiches
kommen die Polen auf den Boden der praktischen oder vielmehr praktisch sein
sollenden Politik, und da handelt es sich um andre Dinge als um Hoffnungen.
Da müssen sie die entgegenstehenden Umstände berücksichtigen, also den
Willen und die Macht der drei Großmächte. Was Österreich-Ungarn anlangt,
so ließe sich wohl eine Melodie finden, die den Ohren dieses Staates nicht
mißsiele. Es ist kaum denkbar, daß die Polen nicht versuchen sollten,
wenigstens diese eine Macht für ihr Vorhaben zu gewinnen. Kann doch
Galizien schon jetzt geradezu als Exerzierplatz für die Herstellungsidee, als
Vorstufe für den künftigen polnischen Staat gelten. An Österreich-Ungarn,
das Polyglotte Imperium, die katholische, stark dem Klerikalismus ergebne
Macht muß sich der neue Staat anlehnen. Ob dafür nun die Form der
Personalunion, des Eintritts in die Monarchie etwa nach dem Muster Ungarns
oder die der Sekundogenitur oder noch eine andre Form gesucht werden soll,
ist verhältnismäßig eine Nebensache. Der ganze Schwerpunkt liegt in den
Beziehungen zu Rußland. Die Krakauer Fragestellung nimmt in Aussicht
erstens die Unabhängigkeit, zweitens die Umwandlung Russisch-Polens in ein
autonomes, dem russischen Reiche föderativ angeschlossenes Gebiet mit eignem
Landtag, eigner Landesregierung und eignem Wehrwesen. Die zweite Even¬
tualität entrückt die polnischen Teile Österreichs und Preußens der Betrachtung,
doch ist schwer anzunehmen, daß es die Polen dabei bewenden lassen werden.


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[0069] Polen und die Polen im heutigen Europa Beziehung gilt das t8lix xosssssor. Wir sind der stärkere Teil und können nicht dem Geheiß des schwächern weichen. Wir sind auch das, was die Kultur anlangt, höher stehende Volk und müssen unsre Kultur dort verteidigen, wo sie Boden gefaßt hat. Wir haben auch zu unsrer ganzen nationalen Stellung, zur Sicherung unsers Reichs alles nötig, was in unserm Besitz ist, wir können nichts davon hergeben, etwa aus schwächlichen Gefühlsanwandlungen. Erst wenn die Macht unsers Reichs zerschmettert am Boden läge, würde ein Feind es wagen können, aus unserm blutenden Leibe ein Stück herauszureißen. Diese scharf verneinende Antwort ist nicht im geringsten von Polenfeind¬ schaft diktiert. Sie ist folgerichtige Logik, die man auf polnischer Seite füg¬ lich selbst nicht bestreiten kann. Die Liebe zur Nationalität, zur Muttersprache, zur angestammten Kirche ist an sich nicht tadelnswert. Auch kann den Polen die Hoffnung, wieder zu einem unabhängigen Staatsgebilde zu kommen, menschlich nicht zum Vorwurf gemacht werden. Auch das Gesetz bestraft keine Hoffnungen, sondern nur Handlungen. Handlungen, die sich gegen die drei Staaten richten, die heute den Boden der ehemaligen polnischen Republik beherrschen, werden allerdings als Hochverrat bestraft. Die Polen als Nation, von einzelnen Eiferern abgesehen, hüten sich wohl, sogar in der schweren Krisis, in der sich Rußland augenblicklich befindet, zu verbrecherischen Hand¬ lungen überzugehn. Deutschland ist im Vollbesitz seiner Macht und wird sich solcher noch ganz anders zu erwehren wissen als Rußland. Mit dem Gedanken an die Wiederherstellung ihres unabhängigen Reiches kommen die Polen auf den Boden der praktischen oder vielmehr praktisch sein sollenden Politik, und da handelt es sich um andre Dinge als um Hoffnungen. Da müssen sie die entgegenstehenden Umstände berücksichtigen, also den Willen und die Macht der drei Großmächte. Was Österreich-Ungarn anlangt, so ließe sich wohl eine Melodie finden, die den Ohren dieses Staates nicht mißsiele. Es ist kaum denkbar, daß die Polen nicht versuchen sollten, wenigstens diese eine Macht für ihr Vorhaben zu gewinnen. Kann doch Galizien schon jetzt geradezu als Exerzierplatz für die Herstellungsidee, als Vorstufe für den künftigen polnischen Staat gelten. An Österreich-Ungarn, das Polyglotte Imperium, die katholische, stark dem Klerikalismus ergebne Macht muß sich der neue Staat anlehnen. Ob dafür nun die Form der Personalunion, des Eintritts in die Monarchie etwa nach dem Muster Ungarns oder die der Sekundogenitur oder noch eine andre Form gesucht werden soll, ist verhältnismäßig eine Nebensache. Der ganze Schwerpunkt liegt in den Beziehungen zu Rußland. Die Krakauer Fragestellung nimmt in Aussicht erstens die Unabhängigkeit, zweitens die Umwandlung Russisch-Polens in ein autonomes, dem russischen Reiche föderativ angeschlossenes Gebiet mit eignem Landtag, eigner Landesregierung und eignem Wehrwesen. Die zweite Even¬ tualität entrückt die polnischen Teile Österreichs und Preußens der Betrachtung, doch ist schwer anzunehmen, daß es die Polen dabei bewenden lassen werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/69>, abgerufen am 23.07.2024.