Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.Volkskunde und Volksleben die seinem Gefühl so fremd sind wie ein chinesischer Tempel. Ihm ist der alt¬ Wenn man die Aufgabe der Volkskunde so auffaßt, wie kleinlich und Volkskunde und Volksleben die seinem Gefühl so fremd sind wie ein chinesischer Tempel. Ihm ist der alt¬ Wenn man die Aufgabe der Volkskunde so auffaßt, wie kleinlich und <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0684" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300471"/> <fw type="header" place="top"> Volkskunde und Volksleben</fw><lb/> <p xml:id="ID_2688" prev="#ID_2687"> die seinem Gefühl so fremd sind wie ein chinesischer Tempel. Ihm ist der alt¬<lb/> gewohnte Boden unter den Füßen weggezogen worden; er findet sich in der<lb/> neuen Welt, die so plötzlich um ihn her emporschoß, noch nicht zurecht und<lb/> läßt alles willenlos mit sich geschehen. Die aber die ganze Bedeutung dieser<lb/> Lage übersehen, dürfen nicht müßig bleiben. Sie kommen und halten dem<lb/> Volke den Geist seiner eignen Vergangenheit vor: Sieh, wie selbstbewußt und<lb/> charaktervoll, wie stolz und sicher du früher warst; wie du dir die Lebens¬<lb/> formen selber Schusse und dir zu gut warst, andern nachzuäffen. Finde dich<lb/> selbst wieder! Laß den Geist charaktervoller Art und bodenständigen Heimat¬<lb/> gefühls wieder lebendig werden; lerne den verachten, der sein eignes Wesen<lb/> aufgibt, dann wirst du auch in dir die Kraft wiederfinden, dir selbst dein Leben<lb/> zu bauen und Formen zu schaffen, die deinem Wesen entsprechen als ein Aus¬<lb/> druck deiner selbst. Brauchst du Anleitung und Vorbild, so suche sie nirgend<lb/> anders als in deiner eignen Vergangenheit. Denn da allein findest dn dein<lb/> eignes Wesen wieder, aber nicht in dein, was andre dir als Fertiges auf¬<lb/> drängen wollen!</p><lb/> <p xml:id="ID_2689" next="#ID_2690"> Wenn man die Aufgabe der Volkskunde so auffaßt, wie kleinlich und<lb/> töricht, oft geradezu albern erscheinen dann die Versuche, die das Übel meinen<lb/> heilen zu können, wenn sie wahllos irgendeinen Zipfel erfassen und rufen: Das<lb/> müssen wir festhalten! Nur in diesem großen Zusammenhang sind Einzel¬<lb/> bestrebungen, wie etwa die zur Erhaltung der Volkstracht u. a. in., berechtigt.<lb/> Erheben sie den Anspruch, an sich etwas wertvolles erreichen zu können, losen<lb/> sie sich aus dem großen Zusammenhang los, verlieren sie die leitende Perspektive<lb/> auf eine Erneuerung volkstümlichen Wesens von Grund aus aus den Augen,<lb/> dann sind sie nicht nur zur Erfolglosigkeit verurteilt; sie wirken direkt schädlich,<lb/> weil sie mit ihrer oberflächlichen Auffassung jeden tiefer schauenden Menschen<lb/> abstoßen und die Aufmerksamkeit auf Nebendinge ablenken, während der Schaden<lb/> am Mark weiterfrißt. Solche Einzelbestrebungen dürfen nie Selbstzweck werden,<lb/> ebensowenig wie die Volkskunde überhaupt, wenn man von ihrer wissenschaft¬<lb/> lichen Bedeutung für die Aufhellung vergangner Zustände absieht, Selbstzweck<lb/> ist. Sie ist ein Lebendigmacher der Vergangenheit, ein farbenreiches Gemälde,<lb/> das den Geist volkstümlichen Wesens, der in der Vergangenheit so Wunder¬<lb/> bares schuf, zu neuer Tätigkeit antreiben möchte. Als Führerin, Beraterin<lb/> bietet sie ihre Dienste an. Wehe ihr, wenn sie zum Schulmeister würde oder<lb/> zum engherzigen Pedanten, der einfach dekretieren wollte: Das muß so bleiben.<lb/> Das Volksleben würde ihr dann bald völlig entgleiten. Weist sie aber aus<lb/> der Vergangenheit nach, wie sich ein lebendiges Volkstum beendigte, sucht sie<lb/> das Volk wieder stolz zu machen auf seine Art und den Geist des Selbst¬<lb/> bewußtseins und urwüchsiger Kraft in ihm zu wecken und zu stärken, dann<lb/> kann sie unendlich segensreiches leisten, dann ist sie unentbehrlich, um die Ent¬<lb/> wicklung gesund zu erhalten. Dann darf sie sich auch ehrlich frei wissen von<lb/> sentimental-romantischen Anwandlungen, die man ihr so oft vorwirft. Dann</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0684]
Volkskunde und Volksleben
die seinem Gefühl so fremd sind wie ein chinesischer Tempel. Ihm ist der alt¬
gewohnte Boden unter den Füßen weggezogen worden; er findet sich in der
neuen Welt, die so plötzlich um ihn her emporschoß, noch nicht zurecht und
läßt alles willenlos mit sich geschehen. Die aber die ganze Bedeutung dieser
Lage übersehen, dürfen nicht müßig bleiben. Sie kommen und halten dem
Volke den Geist seiner eignen Vergangenheit vor: Sieh, wie selbstbewußt und
charaktervoll, wie stolz und sicher du früher warst; wie du dir die Lebens¬
formen selber Schusse und dir zu gut warst, andern nachzuäffen. Finde dich
selbst wieder! Laß den Geist charaktervoller Art und bodenständigen Heimat¬
gefühls wieder lebendig werden; lerne den verachten, der sein eignes Wesen
aufgibt, dann wirst du auch in dir die Kraft wiederfinden, dir selbst dein Leben
zu bauen und Formen zu schaffen, die deinem Wesen entsprechen als ein Aus¬
druck deiner selbst. Brauchst du Anleitung und Vorbild, so suche sie nirgend
anders als in deiner eignen Vergangenheit. Denn da allein findest dn dein
eignes Wesen wieder, aber nicht in dein, was andre dir als Fertiges auf¬
drängen wollen!
Wenn man die Aufgabe der Volkskunde so auffaßt, wie kleinlich und
töricht, oft geradezu albern erscheinen dann die Versuche, die das Übel meinen
heilen zu können, wenn sie wahllos irgendeinen Zipfel erfassen und rufen: Das
müssen wir festhalten! Nur in diesem großen Zusammenhang sind Einzel¬
bestrebungen, wie etwa die zur Erhaltung der Volkstracht u. a. in., berechtigt.
Erheben sie den Anspruch, an sich etwas wertvolles erreichen zu können, losen
sie sich aus dem großen Zusammenhang los, verlieren sie die leitende Perspektive
auf eine Erneuerung volkstümlichen Wesens von Grund aus aus den Augen,
dann sind sie nicht nur zur Erfolglosigkeit verurteilt; sie wirken direkt schädlich,
weil sie mit ihrer oberflächlichen Auffassung jeden tiefer schauenden Menschen
abstoßen und die Aufmerksamkeit auf Nebendinge ablenken, während der Schaden
am Mark weiterfrißt. Solche Einzelbestrebungen dürfen nie Selbstzweck werden,
ebensowenig wie die Volkskunde überhaupt, wenn man von ihrer wissenschaft¬
lichen Bedeutung für die Aufhellung vergangner Zustände absieht, Selbstzweck
ist. Sie ist ein Lebendigmacher der Vergangenheit, ein farbenreiches Gemälde,
das den Geist volkstümlichen Wesens, der in der Vergangenheit so Wunder¬
bares schuf, zu neuer Tätigkeit antreiben möchte. Als Führerin, Beraterin
bietet sie ihre Dienste an. Wehe ihr, wenn sie zum Schulmeister würde oder
zum engherzigen Pedanten, der einfach dekretieren wollte: Das muß so bleiben.
Das Volksleben würde ihr dann bald völlig entgleiten. Weist sie aber aus
der Vergangenheit nach, wie sich ein lebendiges Volkstum beendigte, sucht sie
das Volk wieder stolz zu machen auf seine Art und den Geist des Selbst¬
bewußtseins und urwüchsiger Kraft in ihm zu wecken und zu stärken, dann
kann sie unendlich segensreiches leisten, dann ist sie unentbehrlich, um die Ent¬
wicklung gesund zu erhalten. Dann darf sie sich auch ehrlich frei wissen von
sentimental-romantischen Anwandlungen, die man ihr so oft vorwirft. Dann
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