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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Volkskunde und Volksleben

Gestaltungen und Formen ein fertiges Gebilde, in grauester Vorzeit entstanden
und unversehrt bis auf die Gegenwart gebracht, wo es nun zu zerbröckeln und
zu zerfallen begänne, gleich einer Mumie, die sich bei der Berührung mit der
Luft in Staub auflöst. Wäre es so, dann wäre das Volkstum auch nichts
weiter als eine Mumie. Es ist aber doch gerade darum so wertvoll, weil es
Leben ist, quellendes, frisches, sprudelndes Leben, Und Leben ist Entwicklung
und Wachstum; und Entwicklung ist Werden und Vergehn. Nie wird ein
Neues, ohne daß sich Altes auflöst. Und nicht wie eine leblose Mumie ist das
Volkstum auf uns gekommen; es war immer in der Entwicklung begriffen,
immer im Fluß. Und was erstarb und erstarrte, das wurde abgestoßen, und
Neues trat an seine Stelle. So ist es von jeher gewesen, und gerade je mehr
man sich mit der Volkskunde und ihren Ergebnissen vertraut macht, um so mehr
kommt man zu der Erkenntnis, daß hier das Neuschaffen nie aufgehört hat.
Nur der Dilettant, der sich oberflächlich mit der Sache befaßt, kann die Meinung
hegen, was wir heute noch an volkstümlichen Gut vorfinden, sei unterschiedslos
von dem höchsten Alter lind reiche in die graueste Vorzeit zurück. Neben wirklich
altem Gut findet sich eben so viel, das aus mittlerer Zeit stammt; ja sogar
Jüngstes und Allerjüngstes mischt sich in buntem Wechsel mit dem Alten und
Ältesten. Volkstum ist, um es zu wiederholen, Leben, und das Leben kann nie
aufhören, sich zu entwickeln und Neues zu schaffen.

Also die Tatsache, daß sich Formen volkstümlichen Lebens auflösen, ist
wahrlich nicht nen, sondern so alt wie das Volkstum selbst. Wäre es anders,
dann wäre die Sachlage wirklich trostlos und verzweifelt. Denn dann stünden
wir am Ende eines jahrhundertelangen Prozesses. Das Gebilde des Volks-
tums, das wir dann als einmal fertig und abgeschlossen voraussetzen müßten,
hätte im Laufe der Zeit ein Stück nach dem andern hingeben müssen, und was
sich bis in unsre Zeit hindurchgerettet hätte, ginge nun auch den Weg, den das
andre gegangen ist. Das wäre eine Tatsache, die einfach dazu zwänge, zu ver¬
zichten. Denn was sollte man tun? Aufhalten, was verfallen will? Daß es
versiele, wäre dann doch nur eine Frage der Zeit, vielleicht schon der aller¬
nächsten. Und da so viel schon untergegangen ist, welchen Wert hätte es, die
paar Neste um jeden Preis zu konservieren? Als Raritäten für ein Altertums-
museum, wo sie als unverstandne Zeugen grauer Vorzeit angestaunt werden
könnten? Mehr würde wohl nicht herauskommen. Und das Ergebnis für das
heutige Volksleben wäre gleich Null.

Aber glücklicherweise liegeu die Verhältnisse völlig anders! Nicht das gibt
den erwähnten Vorgängen die Bedeutung, nicht das fordert zur Arbeit auf, ehe
es zu spät ist, daß Formen, die eine frühere Zeit schuf, unter dein Luftzug
modernen Lebens in Staub zerfallen. Das ist ein Vorgang, den wir in der
Vergangenheit hundertfach beobachten können, und der doch die Entwicklung
volkstümlichen Lebens nicht aufgehalten hat. Die Gefahr liegt ganz wo anders.
Das muß klar erkannt werden. Sonst findet man den Sitz des Übels nicht


Volkskunde und Volksleben

Gestaltungen und Formen ein fertiges Gebilde, in grauester Vorzeit entstanden
und unversehrt bis auf die Gegenwart gebracht, wo es nun zu zerbröckeln und
zu zerfallen begänne, gleich einer Mumie, die sich bei der Berührung mit der
Luft in Staub auflöst. Wäre es so, dann wäre das Volkstum auch nichts
weiter als eine Mumie. Es ist aber doch gerade darum so wertvoll, weil es
Leben ist, quellendes, frisches, sprudelndes Leben, Und Leben ist Entwicklung
und Wachstum; und Entwicklung ist Werden und Vergehn. Nie wird ein
Neues, ohne daß sich Altes auflöst. Und nicht wie eine leblose Mumie ist das
Volkstum auf uns gekommen; es war immer in der Entwicklung begriffen,
immer im Fluß. Und was erstarb und erstarrte, das wurde abgestoßen, und
Neues trat an seine Stelle. So ist es von jeher gewesen, und gerade je mehr
man sich mit der Volkskunde und ihren Ergebnissen vertraut macht, um so mehr
kommt man zu der Erkenntnis, daß hier das Neuschaffen nie aufgehört hat.
Nur der Dilettant, der sich oberflächlich mit der Sache befaßt, kann die Meinung
hegen, was wir heute noch an volkstümlichen Gut vorfinden, sei unterschiedslos
von dem höchsten Alter lind reiche in die graueste Vorzeit zurück. Neben wirklich
altem Gut findet sich eben so viel, das aus mittlerer Zeit stammt; ja sogar
Jüngstes und Allerjüngstes mischt sich in buntem Wechsel mit dem Alten und
Ältesten. Volkstum ist, um es zu wiederholen, Leben, und das Leben kann nie
aufhören, sich zu entwickeln und Neues zu schaffen.

Also die Tatsache, daß sich Formen volkstümlichen Lebens auflösen, ist
wahrlich nicht nen, sondern so alt wie das Volkstum selbst. Wäre es anders,
dann wäre die Sachlage wirklich trostlos und verzweifelt. Denn dann stünden
wir am Ende eines jahrhundertelangen Prozesses. Das Gebilde des Volks-
tums, das wir dann als einmal fertig und abgeschlossen voraussetzen müßten,
hätte im Laufe der Zeit ein Stück nach dem andern hingeben müssen, und was
sich bis in unsre Zeit hindurchgerettet hätte, ginge nun auch den Weg, den das
andre gegangen ist. Das wäre eine Tatsache, die einfach dazu zwänge, zu ver¬
zichten. Denn was sollte man tun? Aufhalten, was verfallen will? Daß es
versiele, wäre dann doch nur eine Frage der Zeit, vielleicht schon der aller¬
nächsten. Und da so viel schon untergegangen ist, welchen Wert hätte es, die
paar Neste um jeden Preis zu konservieren? Als Raritäten für ein Altertums-
museum, wo sie als unverstandne Zeugen grauer Vorzeit angestaunt werden
könnten? Mehr würde wohl nicht herauskommen. Und das Ergebnis für das
heutige Volksleben wäre gleich Null.

Aber glücklicherweise liegeu die Verhältnisse völlig anders! Nicht das gibt
den erwähnten Vorgängen die Bedeutung, nicht das fordert zur Arbeit auf, ehe
es zu spät ist, daß Formen, die eine frühere Zeit schuf, unter dein Luftzug
modernen Lebens in Staub zerfallen. Das ist ein Vorgang, den wir in der
Vergangenheit hundertfach beobachten können, und der doch die Entwicklung
volkstümlichen Lebens nicht aufgehalten hat. Die Gefahr liegt ganz wo anders.
Das muß klar erkannt werden. Sonst findet man den Sitz des Übels nicht


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[0680] Volkskunde und Volksleben Gestaltungen und Formen ein fertiges Gebilde, in grauester Vorzeit entstanden und unversehrt bis auf die Gegenwart gebracht, wo es nun zu zerbröckeln und zu zerfallen begänne, gleich einer Mumie, die sich bei der Berührung mit der Luft in Staub auflöst. Wäre es so, dann wäre das Volkstum auch nichts weiter als eine Mumie. Es ist aber doch gerade darum so wertvoll, weil es Leben ist, quellendes, frisches, sprudelndes Leben, Und Leben ist Entwicklung und Wachstum; und Entwicklung ist Werden und Vergehn. Nie wird ein Neues, ohne daß sich Altes auflöst. Und nicht wie eine leblose Mumie ist das Volkstum auf uns gekommen; es war immer in der Entwicklung begriffen, immer im Fluß. Und was erstarb und erstarrte, das wurde abgestoßen, und Neues trat an seine Stelle. So ist es von jeher gewesen, und gerade je mehr man sich mit der Volkskunde und ihren Ergebnissen vertraut macht, um so mehr kommt man zu der Erkenntnis, daß hier das Neuschaffen nie aufgehört hat. Nur der Dilettant, der sich oberflächlich mit der Sache befaßt, kann die Meinung hegen, was wir heute noch an volkstümlichen Gut vorfinden, sei unterschiedslos von dem höchsten Alter lind reiche in die graueste Vorzeit zurück. Neben wirklich altem Gut findet sich eben so viel, das aus mittlerer Zeit stammt; ja sogar Jüngstes und Allerjüngstes mischt sich in buntem Wechsel mit dem Alten und Ältesten. Volkstum ist, um es zu wiederholen, Leben, und das Leben kann nie aufhören, sich zu entwickeln und Neues zu schaffen. Also die Tatsache, daß sich Formen volkstümlichen Lebens auflösen, ist wahrlich nicht nen, sondern so alt wie das Volkstum selbst. Wäre es anders, dann wäre die Sachlage wirklich trostlos und verzweifelt. Denn dann stünden wir am Ende eines jahrhundertelangen Prozesses. Das Gebilde des Volks- tums, das wir dann als einmal fertig und abgeschlossen voraussetzen müßten, hätte im Laufe der Zeit ein Stück nach dem andern hingeben müssen, und was sich bis in unsre Zeit hindurchgerettet hätte, ginge nun auch den Weg, den das andre gegangen ist. Das wäre eine Tatsache, die einfach dazu zwänge, zu ver¬ zichten. Denn was sollte man tun? Aufhalten, was verfallen will? Daß es versiele, wäre dann doch nur eine Frage der Zeit, vielleicht schon der aller¬ nächsten. Und da so viel schon untergegangen ist, welchen Wert hätte es, die paar Neste um jeden Preis zu konservieren? Als Raritäten für ein Altertums- museum, wo sie als unverstandne Zeugen grauer Vorzeit angestaunt werden könnten? Mehr würde wohl nicht herauskommen. Und das Ergebnis für das heutige Volksleben wäre gleich Null. Aber glücklicherweise liegeu die Verhältnisse völlig anders! Nicht das gibt den erwähnten Vorgängen die Bedeutung, nicht das fordert zur Arbeit auf, ehe es zu spät ist, daß Formen, die eine frühere Zeit schuf, unter dein Luftzug modernen Lebens in Staub zerfallen. Das ist ein Vorgang, den wir in der Vergangenheit hundertfach beobachten können, und der doch die Entwicklung volkstümlichen Lebens nicht aufgehalten hat. Die Gefahr liegt ganz wo anders. Das muß klar erkannt werden. Sonst findet man den Sitz des Übels nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/680>, abgerufen am 23.07.2024.