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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Polen und die Polen im heutigen Europa

brauchen. Und daß sich derselbe Grund deshalb auch für Westpreußen mit
zwingender Gewalt geltend macht, ergibt sich mit unerbittlicher Folgerichtigkeit.
Also mögen die Polen zunächst unumwunden anerkennen: an Westpreußen
denken wir nicht mehr. Und mögen sie dies nicht nur mit den Lippen aus¬
sprechen, sondern auch durch ihr ganzes Verhalten bekräftigen!

Wir kommen dann zu Posen. Allerdings zählt die Provinz mehr polnische
als deutsche Einwohner. Aber wenn Deutschland sie jemals verlieren sollte,
so wäre das doch, als ob ihm ein Loch in die linke Seite gerissen würde.
Die ganze Doppelprovinz Preußen von der brandenburgischen Neumark bis
zur Memelmündung ragte nur noch wie ein langer schmaler Lappen zwischen
russisches und polnisches Gebiet hinein. Strategisch wäre sie von vornherein
verloren. Die Ostgrenze des Reichs, die jetzt an ihrem nächsten Punkt
280 Kilometer von der Reichshauptstadt entfernt liegt, käme damit auf
120 Kilometer heran. Zwischen Thorn und Schlesien bei Wartenberg täte
sich eine breite Gasse von 200 Kilometern Weite auf. Ist es denkbar, daß
ein Reich mit unerschütterten Machtmitteln einen solchen Verlust zuließe, ohne
sein Letztes daran gesetzt zu haben, ein solches Schicksal abzuwenden?

Was Oberschlesiens strategische Bedeutung anlangt, so verweisen wir nur
auf die Kriege Friedrichs des Großen. Unter heutigen Verhältnissen reicht
sie wohl nicht an die Posens und vollends Westpreußens hinan. Doch ist
sie immer noch gewaltig. Man denke nur, daß es einmal gelten könne, einem
russischen Angriff durch einen Offensivstoß zuvorzukommen oder auch nur die
russische Heeresleitung zu zwingen, ihre Machtmittel zu teilen! Wenn diese
über Posen und Oberschlesien zugleich verfügte, was eintreten müßte, sobald
das auf Grund des "Sprachgebiets" wiederhergestellte Polen, wie es in dem
Rundschreiben heißt, "ein autonomes, dem russischen Reiche föderativ an¬
geschlossenes Gebiet" würde, wäre es eine strategische Bedrohung allerschlimmster
Art für den deutschen Osten. Diese Gründe reichen allein aus, jeden Gedanken
an die Möglichkeit des Verlustes völlig undiskutierbar zu machen. Das müßte
man doch eigentlich anch in Krakau einsehen. Was sollte nun aber aus den
Deutschen in den drei Regierungsbezirken werden? Es handelt sich um etwa
anderthalb Millionen, eine Minderheit, über die kein Mutterland, das sich
nicht wegen gänzlichen Mangels an Herz für seine Kinder vor der Mit- und
Nachwelt verächtlich machen will, zur Tagesordnung übergehn kann. Es kann
sich nicht auf die bloße nationale Toleranz eines andern Volkes verlassen,
auch wenn solche einigermaßen wahrscheinlich wäre. Bei den Polen steht sie
zudem gar nicht einmal in Aussicht, denn sie sind nationale und konfessionelle
Fanatiker, davon erzählt die Geschichte aller jemals dein Polentum unter-
worfnen Länder: Westpreußen, Kurland, Litauen, Wolhynien, Podolien und
sogar das heutige Ruthenentum in Galizien. Vielleicht sagt das heutige
Polentum: Ihr wollt in den drei Regierungsbezirken nicht einmal eure Minder¬
heit den Fremden ausliefern, wir sollen unsre Mehrheit preisgeben? In dieser


Polen und die Polen im heutigen Europa

brauchen. Und daß sich derselbe Grund deshalb auch für Westpreußen mit
zwingender Gewalt geltend macht, ergibt sich mit unerbittlicher Folgerichtigkeit.
Also mögen die Polen zunächst unumwunden anerkennen: an Westpreußen
denken wir nicht mehr. Und mögen sie dies nicht nur mit den Lippen aus¬
sprechen, sondern auch durch ihr ganzes Verhalten bekräftigen!

Wir kommen dann zu Posen. Allerdings zählt die Provinz mehr polnische
als deutsche Einwohner. Aber wenn Deutschland sie jemals verlieren sollte,
so wäre das doch, als ob ihm ein Loch in die linke Seite gerissen würde.
Die ganze Doppelprovinz Preußen von der brandenburgischen Neumark bis
zur Memelmündung ragte nur noch wie ein langer schmaler Lappen zwischen
russisches und polnisches Gebiet hinein. Strategisch wäre sie von vornherein
verloren. Die Ostgrenze des Reichs, die jetzt an ihrem nächsten Punkt
280 Kilometer von der Reichshauptstadt entfernt liegt, käme damit auf
120 Kilometer heran. Zwischen Thorn und Schlesien bei Wartenberg täte
sich eine breite Gasse von 200 Kilometern Weite auf. Ist es denkbar, daß
ein Reich mit unerschütterten Machtmitteln einen solchen Verlust zuließe, ohne
sein Letztes daran gesetzt zu haben, ein solches Schicksal abzuwenden?

Was Oberschlesiens strategische Bedeutung anlangt, so verweisen wir nur
auf die Kriege Friedrichs des Großen. Unter heutigen Verhältnissen reicht
sie wohl nicht an die Posens und vollends Westpreußens hinan. Doch ist
sie immer noch gewaltig. Man denke nur, daß es einmal gelten könne, einem
russischen Angriff durch einen Offensivstoß zuvorzukommen oder auch nur die
russische Heeresleitung zu zwingen, ihre Machtmittel zu teilen! Wenn diese
über Posen und Oberschlesien zugleich verfügte, was eintreten müßte, sobald
das auf Grund des „Sprachgebiets" wiederhergestellte Polen, wie es in dem
Rundschreiben heißt, „ein autonomes, dem russischen Reiche föderativ an¬
geschlossenes Gebiet" würde, wäre es eine strategische Bedrohung allerschlimmster
Art für den deutschen Osten. Diese Gründe reichen allein aus, jeden Gedanken
an die Möglichkeit des Verlustes völlig undiskutierbar zu machen. Das müßte
man doch eigentlich anch in Krakau einsehen. Was sollte nun aber aus den
Deutschen in den drei Regierungsbezirken werden? Es handelt sich um etwa
anderthalb Millionen, eine Minderheit, über die kein Mutterland, das sich
nicht wegen gänzlichen Mangels an Herz für seine Kinder vor der Mit- und
Nachwelt verächtlich machen will, zur Tagesordnung übergehn kann. Es kann
sich nicht auf die bloße nationale Toleranz eines andern Volkes verlassen,
auch wenn solche einigermaßen wahrscheinlich wäre. Bei den Polen steht sie
zudem gar nicht einmal in Aussicht, denn sie sind nationale und konfessionelle
Fanatiker, davon erzählt die Geschichte aller jemals dein Polentum unter-
worfnen Länder: Westpreußen, Kurland, Litauen, Wolhynien, Podolien und
sogar das heutige Ruthenentum in Galizien. Vielleicht sagt das heutige
Polentum: Ihr wollt in den drei Regierungsbezirken nicht einmal eure Minder¬
heit den Fremden ausliefern, wir sollen unsre Mehrheit preisgeben? In dieser


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/68>, abgerufen am 23.07.2024.