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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Volkskunde und Volksleben

ländlichen Gemeinschaftslebens haben unter der heutigen rein politischen Ver¬
fassung unsrer Dorfgemeinden keinen Sinn und keinen Halt mehr. Mit der
Tracht schwindet der Hausfleiß; mit dem Vordringen der Fabrikware und dem
Zurückweichen des Handwerks auch die Freude am selbstgemachten. Städtisches
Schablonenprodukt steht höher in der Geltung als ein Erzeugnis heimatlicher
Kunst. Sogar das Äußere der Dörfer zeigt dasselbe Bild. Nohgebaute, hä߬
liche, öde Ziegclsteinbantcn verdrängen das charaktervolle Bauernhaus. Lächerlich
anspruchsvolle Kopien von Stadtkirchen verirren sich überall auf das Land;
neben ihnen erscheint das schlichte Dvrftirchleiu mich den Einheimischen gar zu
bescheiden und einfach, so ohne Stil, ohne das schöne drum und dran, das
doch erst die wahre Höhe der Kunst ist. Unaufhaltsam entgleiten uns auch
noch die letzten Neste.

Kann man nichts tun, den Verfall aufzuhalten? Noch ist ja nicht alles
dahin. Noch sind vielleicht ganz stattliche Reste vorhanden. Soll man sie
nicht um jeden Preis vor dem Untergang schützen? Soll man nicht den Versuch
machen, sie zu halten, neu zu beleben? Und mag vieles für immer dahin sein,
soll man nicht um so eifriger dafür sorgen, daß das, was noch vorhanden ist
nicht auch noch entschwinde? Tracht, Mundart, Bauwesen -- noch ist doch so
viel von ihnen da, daß man diese Bestandteile des Volkstums erhalten könnte,
ja ihnen vielleicht wieder einen stärker" Einfluß in einem größern Gebiete ver¬
schaffen könnte. Das sind Gedanken, die so nahe liegen, daß jeder, der die
Sachlage erkennt, auf sie gerät. Und doch sind sie nur halb richtig und wie
alle halben Wahrheiten zehnmal gefährlicher und verderblicher als ein faustdicker
Irrtum. Unklarheiten, Mißverständnisse, Romantik mit sentimentalen Einschlag,
ungenaue Kenntnisse. Oberflächlichkeit helfen an einem Schleier weben, der die
wahre Sachlage verdeckt und die Blicke auf ganz nebensächliche Punkte und von
der Hauptsache ablenkt.

Zunächst wird bei solcher Auffassung der eigentliche Sitz des Übels nicht
richtig erkannt. Gewiß, es ist richtig, daß von den Erzeugnissen volkstümlicher
Art schon ungeheuer viel nnwiderbringlich untergegangen ist, und daß auch das,
was heute noch vorhanden ist, schon deutliche Spuren des Verfalls zeigt.
Diese Tatsachen sind unleugbar, wir haben auch gar kein Interesse daran, die
Situation zu beschönigen und den Ernst der Lage zu verhüllen. Aber um die
richtige Beurteilung dieser Tatsache handelt es sich. Beruht die Bedeutung der
Vorgänge, die nur heute beobachten, darin, daß gewisse Formen volkstümlichen
Lebens zerbröckeln? Oder liegt die Sache nicht vielmehr so, daß man diese
Vorgänge auch schon in frühern Zeiten beobachten konnte? Es ist doch mir
ein verschwindend kleiner Teil alten und sehr alten volkstümlichen Gutes, der
sich bis in die Gegenwart erhalten hat. Wie vieles ist unterwegs verloren
gegangen, abgefallen, abgestoßen worden. Die Auflösung von Formen volks¬
tümlichen Lebens hat nie geruht. Das brachte schon die fortschreitende Ent¬
wicklung mit sich. Es ist doch uicht so, als wäre das Volkstum mit allen seinen


Volkskunde und Volksleben

ländlichen Gemeinschaftslebens haben unter der heutigen rein politischen Ver¬
fassung unsrer Dorfgemeinden keinen Sinn und keinen Halt mehr. Mit der
Tracht schwindet der Hausfleiß; mit dem Vordringen der Fabrikware und dem
Zurückweichen des Handwerks auch die Freude am selbstgemachten. Städtisches
Schablonenprodukt steht höher in der Geltung als ein Erzeugnis heimatlicher
Kunst. Sogar das Äußere der Dörfer zeigt dasselbe Bild. Nohgebaute, hä߬
liche, öde Ziegclsteinbantcn verdrängen das charaktervolle Bauernhaus. Lächerlich
anspruchsvolle Kopien von Stadtkirchen verirren sich überall auf das Land;
neben ihnen erscheint das schlichte Dvrftirchleiu mich den Einheimischen gar zu
bescheiden und einfach, so ohne Stil, ohne das schöne drum und dran, das
doch erst die wahre Höhe der Kunst ist. Unaufhaltsam entgleiten uns auch
noch die letzten Neste.

Kann man nichts tun, den Verfall aufzuhalten? Noch ist ja nicht alles
dahin. Noch sind vielleicht ganz stattliche Reste vorhanden. Soll man sie
nicht um jeden Preis vor dem Untergang schützen? Soll man nicht den Versuch
machen, sie zu halten, neu zu beleben? Und mag vieles für immer dahin sein,
soll man nicht um so eifriger dafür sorgen, daß das, was noch vorhanden ist
nicht auch noch entschwinde? Tracht, Mundart, Bauwesen — noch ist doch so
viel von ihnen da, daß man diese Bestandteile des Volkstums erhalten könnte,
ja ihnen vielleicht wieder einen stärker« Einfluß in einem größern Gebiete ver¬
schaffen könnte. Das sind Gedanken, die so nahe liegen, daß jeder, der die
Sachlage erkennt, auf sie gerät. Und doch sind sie nur halb richtig und wie
alle halben Wahrheiten zehnmal gefährlicher und verderblicher als ein faustdicker
Irrtum. Unklarheiten, Mißverständnisse, Romantik mit sentimentalen Einschlag,
ungenaue Kenntnisse. Oberflächlichkeit helfen an einem Schleier weben, der die
wahre Sachlage verdeckt und die Blicke auf ganz nebensächliche Punkte und von
der Hauptsache ablenkt.

Zunächst wird bei solcher Auffassung der eigentliche Sitz des Übels nicht
richtig erkannt. Gewiß, es ist richtig, daß von den Erzeugnissen volkstümlicher
Art schon ungeheuer viel nnwiderbringlich untergegangen ist, und daß auch das,
was heute noch vorhanden ist, schon deutliche Spuren des Verfalls zeigt.
Diese Tatsachen sind unleugbar, wir haben auch gar kein Interesse daran, die
Situation zu beschönigen und den Ernst der Lage zu verhüllen. Aber um die
richtige Beurteilung dieser Tatsache handelt es sich. Beruht die Bedeutung der
Vorgänge, die nur heute beobachten, darin, daß gewisse Formen volkstümlichen
Lebens zerbröckeln? Oder liegt die Sache nicht vielmehr so, daß man diese
Vorgänge auch schon in frühern Zeiten beobachten konnte? Es ist doch mir
ein verschwindend kleiner Teil alten und sehr alten volkstümlichen Gutes, der
sich bis in die Gegenwart erhalten hat. Wie vieles ist unterwegs verloren
gegangen, abgefallen, abgestoßen worden. Die Auflösung von Formen volks¬
tümlichen Lebens hat nie geruht. Das brachte schon die fortschreitende Ent¬
wicklung mit sich. Es ist doch uicht so, als wäre das Volkstum mit allen seinen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/679>, abgerufen am 23.07.2024.