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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Christliche Liebestätigkeit

lernen will und nicht mit dem Fehler der unvergornen Jugend alles besser
zu wissen glaubt, die große Lehrmeisterin, die uns vor Fehlern, vor Schwärmerei
wie vor Entmutigung bewahren kann.

Aber gerade wenn wir uns in das Leben der Geschichte vertiefen, die
ja doch nichts abgeschloßnes, nichts fertiges ist, sondern ein bestündiges
Werden, so können uns die Augen geöffnet werden für das, was jetzt werden
will und soll. Und offne Augen, einen mutigen, opferfreudigen Sinn für die
jetzt gebotnen Aufgaben, das müssen wir uns besonders erbitten. Das war
doch das Geheimnis in Fliedners, in Wieherns, in Amalie Sievekings, in
William Careys und andrer Persönlichkeit: sie erkannten, was ihrer Zeit
Vol tat.

Ich will hier für die Gegenwart nur auf einige Punkte aufmerksam
machen. Ich habe auf die hohe Bedeutung unsrer sozialen Gesetzgebung hin¬
gewiesen. Aber damit, daß diese vortrefflichen Gesetze gegeben sind, ist ja die
Sache nicht getan. Es kommt (ebenso wie bei dem Fürsorgegesetz, bei der
Armenpflege usw.) schließlich doch alles auf die Handhabung an, auf die
Personen, die es machen, und wie sie es machen. Da liegen noch große
Aufgaben. Wenn jene Gesetze nicht viel mehr Anerkennung gefunden haben,
so liegt das zum Teil an der Undankbarkeit der menschlichen Natur und an
feindseliger Hetzerei, aber ob nicht zum guten Teil auch an schwerfälliger
Handhabung ohne den Geist des Verständnisses für das, was die Gesetze
sollen?

Von hoher Wichtigkeit aber ist die Klage, die ich aus dem Munde eines
mit Unfallkranken viel beschäftigten Arztes oft gehört habe: die Kranken werden
unter der Wochen- und monatelangen Beobachtung und rein körperlichen Be¬
handlung (Massage usw.) in der unbeschäftigten Gemeinschaft vieler, auch "er¬
fahrner" Leidensgefährten in die schwere Gefahr gebracht, aus fleißigen und
tüchtigen Leuten wenn nicht zu Simulanten so doch zu weichlichen Grüblern
zu werden. Und wird in den segensreichen Lungenheilstätten die Wochen und
Monate dauernde Anleitung, nur der Beobachtung gesundheitlicher Vorschriften
zu leben, den Kranken, der ohnehin schon dazu neigt, nicht vollends dazu er¬
ziehn, ganz dem Egoismus seines Krankseins zu leben und damit sich und
andern zur Last zu werden? Ich möchte hierbei nicht mißverstanden werden,
als erhöbe ich damit Klage gegen den Arzt, ich habe geflissentlich darauf
hingewiesen, wie gerade der einsichtige Arzt diese Schwierigkeit erkennt, aber
er wird allein in den seltensten Fällen in der Lage sein, sie zu heben. Da
liegen also für die Gegenwart große, noch nicht einmal angefaßte Aufgaben
der innern Mission, die doch angefaßt werden müssen, wenn jene großen
körperlichen Hilfen nicht eine sittliche Schwächung unsers Volkes mit sich
bringen sollen.

Ein weiteres Gebiet, das in seiner Wichtigkeit nur erst in ganz kleinen
Kreisen gewürdigt wird, ist der Kampf gegen die in Bild und Schrift, in


Grenzboten III 1906 81
Christliche Liebestätigkeit

lernen will und nicht mit dem Fehler der unvergornen Jugend alles besser
zu wissen glaubt, die große Lehrmeisterin, die uns vor Fehlern, vor Schwärmerei
wie vor Entmutigung bewahren kann.

Aber gerade wenn wir uns in das Leben der Geschichte vertiefen, die
ja doch nichts abgeschloßnes, nichts fertiges ist, sondern ein bestündiges
Werden, so können uns die Augen geöffnet werden für das, was jetzt werden
will und soll. Und offne Augen, einen mutigen, opferfreudigen Sinn für die
jetzt gebotnen Aufgaben, das müssen wir uns besonders erbitten. Das war
doch das Geheimnis in Fliedners, in Wieherns, in Amalie Sievekings, in
William Careys und andrer Persönlichkeit: sie erkannten, was ihrer Zeit
Vol tat.

Ich will hier für die Gegenwart nur auf einige Punkte aufmerksam
machen. Ich habe auf die hohe Bedeutung unsrer sozialen Gesetzgebung hin¬
gewiesen. Aber damit, daß diese vortrefflichen Gesetze gegeben sind, ist ja die
Sache nicht getan. Es kommt (ebenso wie bei dem Fürsorgegesetz, bei der
Armenpflege usw.) schließlich doch alles auf die Handhabung an, auf die
Personen, die es machen, und wie sie es machen. Da liegen noch große
Aufgaben. Wenn jene Gesetze nicht viel mehr Anerkennung gefunden haben,
so liegt das zum Teil an der Undankbarkeit der menschlichen Natur und an
feindseliger Hetzerei, aber ob nicht zum guten Teil auch an schwerfälliger
Handhabung ohne den Geist des Verständnisses für das, was die Gesetze
sollen?

Von hoher Wichtigkeit aber ist die Klage, die ich aus dem Munde eines
mit Unfallkranken viel beschäftigten Arztes oft gehört habe: die Kranken werden
unter der Wochen- und monatelangen Beobachtung und rein körperlichen Be¬
handlung (Massage usw.) in der unbeschäftigten Gemeinschaft vieler, auch „er¬
fahrner" Leidensgefährten in die schwere Gefahr gebracht, aus fleißigen und
tüchtigen Leuten wenn nicht zu Simulanten so doch zu weichlichen Grüblern
zu werden. Und wird in den segensreichen Lungenheilstätten die Wochen und
Monate dauernde Anleitung, nur der Beobachtung gesundheitlicher Vorschriften
zu leben, den Kranken, der ohnehin schon dazu neigt, nicht vollends dazu er¬
ziehn, ganz dem Egoismus seines Krankseins zu leben und damit sich und
andern zur Last zu werden? Ich möchte hierbei nicht mißverstanden werden,
als erhöbe ich damit Klage gegen den Arzt, ich habe geflissentlich darauf
hingewiesen, wie gerade der einsichtige Arzt diese Schwierigkeit erkennt, aber
er wird allein in den seltensten Fällen in der Lage sein, sie zu heben. Da
liegen also für die Gegenwart große, noch nicht einmal angefaßte Aufgaben
der innern Mission, die doch angefaßt werden müssen, wenn jene großen
körperlichen Hilfen nicht eine sittliche Schwächung unsers Volkes mit sich
bringen sollen.

Ein weiteres Gebiet, das in seiner Wichtigkeit nur erst in ganz kleinen
Kreisen gewürdigt wird, ist der Kampf gegen die in Bild und Schrift, in


Grenzboten III 1906 81
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/617>, abgerufen am 25.08.2024.