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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Christliche Liebestätigkeit

und ungründliche Wissenschaft die unterscheidenden Merkmale des Menschen
abzusprechen geneigt war, und die nun durch die Botschaft von der ver¬
gehenden und rettenden Liebe Gottes in Jesu und durch die Tat der Liebe
in ihrem Gewissen getroffen mit ihrem gesamten Wandel den Tatbeweis geben,
daß an ihnen ein Neues geschehen ist. Die Wirkungen sind da. Keine
Wirkung ohne Ursache. Dann ist also die Liebe, die diese Wirkungen hervor¬
brachte, dann ist das, was allen diesen Menschen die Liebeskraft gab, die er¬
fahrne Liebe Gottes in Christus nicht ein Hirngespinst oder ein totes Dogma,
sondern eine Realität, denn von nichts wird nichts. Was aber hier geworden
ist, trägt nicht die Art des selbstsüchtigen und ehrsüchtigen Menschengeistes an
sich, sondern das Wesen und die Art Jesu und der in ihm erschienenen gött¬
lichen Liebe.

Zwei unverdächtige Zeugen will ich zum Schlüsse anführen: Professor
Haeckel in Jena und Professor Ladenburg, der auf der Kasseler Naturforscher¬
versammlung das Christentum als durch die Naturforschung überwunden be¬
zeichnete. Beide erklären, ihr Ideal sei die werktätige Liebe. Nun muß jeder,
der die Ausführungen dieser beiden Männer liest, über diese Schlußfolgerung
auf das höchste erstaunt sein. Denn wenn der Mensch, wie Haeckel lehrt,
einen freien Willen überhaupt nicht hat, was ist dann Nächstenliebe? Haeckel
versteht darunter den Herdeninstinkt der Tiere. Er spricht dann allerdings
seine starke Verwunderung darüber aus, daß diese so einfache Sache sowohl
in der Theorie wie in der Praxis noch so wenig Anerkennung gefunden hat.
Also ein Naturgesetz, das nur ausnahmsweise wirkt? Was ist das? Wenn
aber aller Fortschritt, wie diese Naturwissenschaft lehrt, auf dem Kampf ums
Dasein beruht, wo bleibt denn da noch Raum und Berechtigung für die
werktätige Nächstenliebe? Die konsequente Schlußfolgerung hieraus ist allein
Nietzsches Herrenmoral, die jede Unterstützung des Schwachen für Unsinn und
Heuchelei erklärt.

Wir haben also hier einen von den geradezu verblüffenden Gedanken¬
sprüngen vor uns, an denen Haeckels Buch so reich ist. Und wenn Laden¬
burg behauptet, alle humanen Bestrebungen der letzten Jahrhunderte seien auf
die Aufklärung zurückzuführen, so ist der Herr Professor eben in gänzlicher
Unkenntnis über die unbestreitbaren geschichtlichen Tatsachen, insbesondre auch
darüber, wie unfruchtbar die Aufklärung an humanen Taten gewesen ist --
an Worten nicht. Aber das nur nebenbei. Uns interessiert hier diese merk¬
würdige Erscheinung, daß Männer, deren ganze Anschauung auf eine Gleich¬
stellung des Menschen mit dem Tier, auf die bloße Entfaltung der Natur¬
triebe hinausläuft, in einer glücklichen Inkonsequenz, die ihrem Herzen, freilich
nicht ihrer Theorie Ehre macht, sich zur werktätigen Nächstenliebe als zu
ihrem Ideal bekennen.

Woher kommt denn dieses logisch ganz Widerspruchsvolle? Offenbar
daher, daß diese Männer, die gewohnt sind, nur gelten zu lassen, was sie


Christliche Liebestätigkeit

und ungründliche Wissenschaft die unterscheidenden Merkmale des Menschen
abzusprechen geneigt war, und die nun durch die Botschaft von der ver¬
gehenden und rettenden Liebe Gottes in Jesu und durch die Tat der Liebe
in ihrem Gewissen getroffen mit ihrem gesamten Wandel den Tatbeweis geben,
daß an ihnen ein Neues geschehen ist. Die Wirkungen sind da. Keine
Wirkung ohne Ursache. Dann ist also die Liebe, die diese Wirkungen hervor¬
brachte, dann ist das, was allen diesen Menschen die Liebeskraft gab, die er¬
fahrne Liebe Gottes in Christus nicht ein Hirngespinst oder ein totes Dogma,
sondern eine Realität, denn von nichts wird nichts. Was aber hier geworden
ist, trägt nicht die Art des selbstsüchtigen und ehrsüchtigen Menschengeistes an
sich, sondern das Wesen und die Art Jesu und der in ihm erschienenen gött¬
lichen Liebe.

Zwei unverdächtige Zeugen will ich zum Schlüsse anführen: Professor
Haeckel in Jena und Professor Ladenburg, der auf der Kasseler Naturforscher¬
versammlung das Christentum als durch die Naturforschung überwunden be¬
zeichnete. Beide erklären, ihr Ideal sei die werktätige Liebe. Nun muß jeder,
der die Ausführungen dieser beiden Männer liest, über diese Schlußfolgerung
auf das höchste erstaunt sein. Denn wenn der Mensch, wie Haeckel lehrt,
einen freien Willen überhaupt nicht hat, was ist dann Nächstenliebe? Haeckel
versteht darunter den Herdeninstinkt der Tiere. Er spricht dann allerdings
seine starke Verwunderung darüber aus, daß diese so einfache Sache sowohl
in der Theorie wie in der Praxis noch so wenig Anerkennung gefunden hat.
Also ein Naturgesetz, das nur ausnahmsweise wirkt? Was ist das? Wenn
aber aller Fortschritt, wie diese Naturwissenschaft lehrt, auf dem Kampf ums
Dasein beruht, wo bleibt denn da noch Raum und Berechtigung für die
werktätige Nächstenliebe? Die konsequente Schlußfolgerung hieraus ist allein
Nietzsches Herrenmoral, die jede Unterstützung des Schwachen für Unsinn und
Heuchelei erklärt.

Wir haben also hier einen von den geradezu verblüffenden Gedanken¬
sprüngen vor uns, an denen Haeckels Buch so reich ist. Und wenn Laden¬
burg behauptet, alle humanen Bestrebungen der letzten Jahrhunderte seien auf
die Aufklärung zurückzuführen, so ist der Herr Professor eben in gänzlicher
Unkenntnis über die unbestreitbaren geschichtlichen Tatsachen, insbesondre auch
darüber, wie unfruchtbar die Aufklärung an humanen Taten gewesen ist —
an Worten nicht. Aber das nur nebenbei. Uns interessiert hier diese merk¬
würdige Erscheinung, daß Männer, deren ganze Anschauung auf eine Gleich¬
stellung des Menschen mit dem Tier, auf die bloße Entfaltung der Natur¬
triebe hinausläuft, in einer glücklichen Inkonsequenz, die ihrem Herzen, freilich
nicht ihrer Theorie Ehre macht, sich zur werktätigen Nächstenliebe als zu
ihrem Ideal bekennen.

Woher kommt denn dieses logisch ganz Widerspruchsvolle? Offenbar
daher, daß diese Männer, die gewohnt sind, nur gelten zu lassen, was sie


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[0614] Christliche Liebestätigkeit und ungründliche Wissenschaft die unterscheidenden Merkmale des Menschen abzusprechen geneigt war, und die nun durch die Botschaft von der ver¬ gehenden und rettenden Liebe Gottes in Jesu und durch die Tat der Liebe in ihrem Gewissen getroffen mit ihrem gesamten Wandel den Tatbeweis geben, daß an ihnen ein Neues geschehen ist. Die Wirkungen sind da. Keine Wirkung ohne Ursache. Dann ist also die Liebe, die diese Wirkungen hervor¬ brachte, dann ist das, was allen diesen Menschen die Liebeskraft gab, die er¬ fahrne Liebe Gottes in Christus nicht ein Hirngespinst oder ein totes Dogma, sondern eine Realität, denn von nichts wird nichts. Was aber hier geworden ist, trägt nicht die Art des selbstsüchtigen und ehrsüchtigen Menschengeistes an sich, sondern das Wesen und die Art Jesu und der in ihm erschienenen gött¬ lichen Liebe. Zwei unverdächtige Zeugen will ich zum Schlüsse anführen: Professor Haeckel in Jena und Professor Ladenburg, der auf der Kasseler Naturforscher¬ versammlung das Christentum als durch die Naturforschung überwunden be¬ zeichnete. Beide erklären, ihr Ideal sei die werktätige Liebe. Nun muß jeder, der die Ausführungen dieser beiden Männer liest, über diese Schlußfolgerung auf das höchste erstaunt sein. Denn wenn der Mensch, wie Haeckel lehrt, einen freien Willen überhaupt nicht hat, was ist dann Nächstenliebe? Haeckel versteht darunter den Herdeninstinkt der Tiere. Er spricht dann allerdings seine starke Verwunderung darüber aus, daß diese so einfache Sache sowohl in der Theorie wie in der Praxis noch so wenig Anerkennung gefunden hat. Also ein Naturgesetz, das nur ausnahmsweise wirkt? Was ist das? Wenn aber aller Fortschritt, wie diese Naturwissenschaft lehrt, auf dem Kampf ums Dasein beruht, wo bleibt denn da noch Raum und Berechtigung für die werktätige Nächstenliebe? Die konsequente Schlußfolgerung hieraus ist allein Nietzsches Herrenmoral, die jede Unterstützung des Schwachen für Unsinn und Heuchelei erklärt. Wir haben also hier einen von den geradezu verblüffenden Gedanken¬ sprüngen vor uns, an denen Haeckels Buch so reich ist. Und wenn Laden¬ burg behauptet, alle humanen Bestrebungen der letzten Jahrhunderte seien auf die Aufklärung zurückzuführen, so ist der Herr Professor eben in gänzlicher Unkenntnis über die unbestreitbaren geschichtlichen Tatsachen, insbesondre auch darüber, wie unfruchtbar die Aufklärung an humanen Taten gewesen ist — an Worten nicht. Aber das nur nebenbei. Uns interessiert hier diese merk¬ würdige Erscheinung, daß Männer, deren ganze Anschauung auf eine Gleich¬ stellung des Menschen mit dem Tier, auf die bloße Entfaltung der Natur¬ triebe hinausläuft, in einer glücklichen Inkonsequenz, die ihrem Herzen, freilich nicht ihrer Theorie Ehre macht, sich zur werktätigen Nächstenliebe als zu ihrem Ideal bekennen. Woher kommt denn dieses logisch ganz Widerspruchsvolle? Offenbar daher, daß diese Männer, die gewohnt sind, nur gelten zu lassen, was sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/614>, abgerufen am 27.12.2024.