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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Christliche Liebestätigkeit

diesen Weg gehn, daß sich zuerst die aufopfernde glaubensmutige Tat einzelner
Christen in die Bresche wirft, den Tatbeweis liefert, daß zu helfen ist, mit
diesem Tatbeweis weitere Kreise des Volkes von der Notwendigkeit und prak¬
tischen Möglichkeit eben dieser Hilfe überzeugt, und dann erst kann und muß
die Gesetzgebung eintreten, um nun durch staatliche Ordnung das Bewährte
dem Volksganzen zugute kommen zu lassen. Hierbei kann freilich der Staat
nur die Gesetze geben, die Ausführung der Gesetze und die geisterfüllten
Personen für diese Ausführung zu beschaffen, steht nicht in seiner Gewalt.
Das kann wiederum nur durch die geistigen Mächte des Glaubens und der
Liebe geschehen.

Als ein Ereignis, wenn nicht von weltgeschichtlicher Bedeutung, so jeden¬
falls von entscheidender Bedeutung für die Geschicke unsers Vaterlands muß
ich aber bezeichnen die soziale Gesetzgebung, die Krankenkassen-, Unfall- und
Jnvalidengesetze vom Anfange der achtziger Jahre. Es sei mir erlaubt, an
diesem Punkte um seiner hohen Bedeutung willen einen Augenblick zu ver¬
weilen. -- Das Unerhörte war geschehen. Nach der geradezu wunderbaren
Erhebung unsers Volkes in den großen Kriegsjahren, nach dem riesenhaften
Aufschwung unsers wirtschaftlichen Lebens hatte eine verbrecherische Hand
nach dem Haupte des Mannes gezielt, der dem deutscheu Volke als die Ver¬
körperung seiner gottgeschenkten Einheit und Größe in hoher Demut und
Güte vor Augen stand. Nicht einmal ist das geschehen, der mißlungne
Versuch wird nach wenig Wochen wiederholt. Der greise Held bleibt trotz
seiner schweren Verwundung, trotz seines hohen Alters durch wunderbare
Fügung bewahrt. Und was ist nun seine und seiner Regierung Antwort auf
die Wunden, die man seinem Herzen geschlagen hat? Neben der energischen
und furchtlosen Behauptung der staatlichen Ordnung und Gewalt, die keinen
Gedanken von Schwäche oder Furcht aufkommen läßt, zugleich jene Gesetze,
wie sie vorher kein Volk, kein Staat gewagt hat, die damals als ein Sprung
ins Dunkle insofern mit Recht bezeichnet wurden, als in keiner Gesetzgebung
ein Vorbild und Anhalt dafür gegeben war. Diese Gesetzgebung, eine Tat
mutig wägenden Glaubens und kühn opferfreudiger und zugleich weisheitsvoll
besonnener Liebe ist seither eine Grundlage geworden zur Gesundung unsrer
sozialen Zustünde. Es ist dem greisen Kaiser und seinem großen Kanzler
gegeben worden, durch keine Verbitterung geblendet, die Schäden im Volks¬
leben zu sehen und den kühnen Versuch zur Hilfe zu wagen, auf dem denn
weiter gebaut werden konnte. Denken wir einmal diese Gesetzgebung weg aus
der vaterländischen Geschichte! Ist es zu viel gesagt, daß in ihr der Geist
der innern Mission unser Volk von dem unmittelbar drohenden Abgrund hat
retten helfen?

Es wäre eine überaus lohnende, freilich auch sehr umfangreiche Aufgabe,
im einzelnen den Nachweis zu führen, wie im vergangnen Jahrhundert unsre
Gesetzgebung und dadurch die andrer Völker durch die Gedanken und Arbeiten


Christliche Liebestätigkeit

diesen Weg gehn, daß sich zuerst die aufopfernde glaubensmutige Tat einzelner
Christen in die Bresche wirft, den Tatbeweis liefert, daß zu helfen ist, mit
diesem Tatbeweis weitere Kreise des Volkes von der Notwendigkeit und prak¬
tischen Möglichkeit eben dieser Hilfe überzeugt, und dann erst kann und muß
die Gesetzgebung eintreten, um nun durch staatliche Ordnung das Bewährte
dem Volksganzen zugute kommen zu lassen. Hierbei kann freilich der Staat
nur die Gesetze geben, die Ausführung der Gesetze und die geisterfüllten
Personen für diese Ausführung zu beschaffen, steht nicht in seiner Gewalt.
Das kann wiederum nur durch die geistigen Mächte des Glaubens und der
Liebe geschehen.

Als ein Ereignis, wenn nicht von weltgeschichtlicher Bedeutung, so jeden¬
falls von entscheidender Bedeutung für die Geschicke unsers Vaterlands muß
ich aber bezeichnen die soziale Gesetzgebung, die Krankenkassen-, Unfall- und
Jnvalidengesetze vom Anfange der achtziger Jahre. Es sei mir erlaubt, an
diesem Punkte um seiner hohen Bedeutung willen einen Augenblick zu ver¬
weilen. — Das Unerhörte war geschehen. Nach der geradezu wunderbaren
Erhebung unsers Volkes in den großen Kriegsjahren, nach dem riesenhaften
Aufschwung unsers wirtschaftlichen Lebens hatte eine verbrecherische Hand
nach dem Haupte des Mannes gezielt, der dem deutscheu Volke als die Ver¬
körperung seiner gottgeschenkten Einheit und Größe in hoher Demut und
Güte vor Augen stand. Nicht einmal ist das geschehen, der mißlungne
Versuch wird nach wenig Wochen wiederholt. Der greise Held bleibt trotz
seiner schweren Verwundung, trotz seines hohen Alters durch wunderbare
Fügung bewahrt. Und was ist nun seine und seiner Regierung Antwort auf
die Wunden, die man seinem Herzen geschlagen hat? Neben der energischen
und furchtlosen Behauptung der staatlichen Ordnung und Gewalt, die keinen
Gedanken von Schwäche oder Furcht aufkommen läßt, zugleich jene Gesetze,
wie sie vorher kein Volk, kein Staat gewagt hat, die damals als ein Sprung
ins Dunkle insofern mit Recht bezeichnet wurden, als in keiner Gesetzgebung
ein Vorbild und Anhalt dafür gegeben war. Diese Gesetzgebung, eine Tat
mutig wägenden Glaubens und kühn opferfreudiger und zugleich weisheitsvoll
besonnener Liebe ist seither eine Grundlage geworden zur Gesundung unsrer
sozialen Zustünde. Es ist dem greisen Kaiser und seinem großen Kanzler
gegeben worden, durch keine Verbitterung geblendet, die Schäden im Volks¬
leben zu sehen und den kühnen Versuch zur Hilfe zu wagen, auf dem denn
weiter gebaut werden konnte. Denken wir einmal diese Gesetzgebung weg aus
der vaterländischen Geschichte! Ist es zu viel gesagt, daß in ihr der Geist
der innern Mission unser Volk von dem unmittelbar drohenden Abgrund hat
retten helfen?

Es wäre eine überaus lohnende, freilich auch sehr umfangreiche Aufgabe,
im einzelnen den Nachweis zu führen, wie im vergangnen Jahrhundert unsre
Gesetzgebung und dadurch die andrer Völker durch die Gedanken und Arbeiten


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[0611] Christliche Liebestätigkeit diesen Weg gehn, daß sich zuerst die aufopfernde glaubensmutige Tat einzelner Christen in die Bresche wirft, den Tatbeweis liefert, daß zu helfen ist, mit diesem Tatbeweis weitere Kreise des Volkes von der Notwendigkeit und prak¬ tischen Möglichkeit eben dieser Hilfe überzeugt, und dann erst kann und muß die Gesetzgebung eintreten, um nun durch staatliche Ordnung das Bewährte dem Volksganzen zugute kommen zu lassen. Hierbei kann freilich der Staat nur die Gesetze geben, die Ausführung der Gesetze und die geisterfüllten Personen für diese Ausführung zu beschaffen, steht nicht in seiner Gewalt. Das kann wiederum nur durch die geistigen Mächte des Glaubens und der Liebe geschehen. Als ein Ereignis, wenn nicht von weltgeschichtlicher Bedeutung, so jeden¬ falls von entscheidender Bedeutung für die Geschicke unsers Vaterlands muß ich aber bezeichnen die soziale Gesetzgebung, die Krankenkassen-, Unfall- und Jnvalidengesetze vom Anfange der achtziger Jahre. Es sei mir erlaubt, an diesem Punkte um seiner hohen Bedeutung willen einen Augenblick zu ver¬ weilen. — Das Unerhörte war geschehen. Nach der geradezu wunderbaren Erhebung unsers Volkes in den großen Kriegsjahren, nach dem riesenhaften Aufschwung unsers wirtschaftlichen Lebens hatte eine verbrecherische Hand nach dem Haupte des Mannes gezielt, der dem deutscheu Volke als die Ver¬ körperung seiner gottgeschenkten Einheit und Größe in hoher Demut und Güte vor Augen stand. Nicht einmal ist das geschehen, der mißlungne Versuch wird nach wenig Wochen wiederholt. Der greise Held bleibt trotz seiner schweren Verwundung, trotz seines hohen Alters durch wunderbare Fügung bewahrt. Und was ist nun seine und seiner Regierung Antwort auf die Wunden, die man seinem Herzen geschlagen hat? Neben der energischen und furchtlosen Behauptung der staatlichen Ordnung und Gewalt, die keinen Gedanken von Schwäche oder Furcht aufkommen läßt, zugleich jene Gesetze, wie sie vorher kein Volk, kein Staat gewagt hat, die damals als ein Sprung ins Dunkle insofern mit Recht bezeichnet wurden, als in keiner Gesetzgebung ein Vorbild und Anhalt dafür gegeben war. Diese Gesetzgebung, eine Tat mutig wägenden Glaubens und kühn opferfreudiger und zugleich weisheitsvoll besonnener Liebe ist seither eine Grundlage geworden zur Gesundung unsrer sozialen Zustünde. Es ist dem greisen Kaiser und seinem großen Kanzler gegeben worden, durch keine Verbitterung geblendet, die Schäden im Volks¬ leben zu sehen und den kühnen Versuch zur Hilfe zu wagen, auf dem denn weiter gebaut werden konnte. Denken wir einmal diese Gesetzgebung weg aus der vaterländischen Geschichte! Ist es zu viel gesagt, daß in ihr der Geist der innern Mission unser Volk von dem unmittelbar drohenden Abgrund hat retten helfen? Es wäre eine überaus lohnende, freilich auch sehr umfangreiche Aufgabe, im einzelnen den Nachweis zu führen, wie im vergangnen Jahrhundert unsre Gesetzgebung und dadurch die andrer Völker durch die Gedanken und Arbeiten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/611>, abgerufen am 23.07.2024.