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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Christliche Liebestätigkeit

in großem Maßstabe Pastor von Bodelschwingh in Bielefeld. Und jetzt ist
die Versorgung dieser Unglücklichen, durch Gesetz geregelt, eine Sache der Ver¬
waltung der einzelnen Provinzen geworden. Und wie in diesem unbeschreib¬
lichen Jammer doch geholfen und getröstet werden kann, das kann der sehen
und spüren, der einmal in Bielefeld den Chor der Epileptischen hat anstimmen
hören: "Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden
wir sein wie die Träumender." Etwas ähnliches ist in allerjüngster Zeit
geschehen mit der Krüppelpflege. Das Oberlinhaus in Nowawes bei Potsdam
hat erst seit dem Jahre 1898 darin bahnbrechend in Deutschland gewirkt, und
es wird bekannt sein, welche Ausdehnung das noch so junge Krüppelhaus
unsrer Provinz Sachsen in Krakau bei Magdeburg gewonnen hat.

Noch einige Beispiele. Wie lange ists her, seit man zuerst von Lungen¬
heilstätten hörte? Daß man anfing, sich nach den Heimarbeiterinnen umzu¬
sehen? Und jeder Kundige weiß doch, wie sich in diesen Kreisen oft genug
bitterste Not und dabei manchesmal ein wahres Heldentum ausharrender
Arbeitstreue findet. Aber ich will nicht eingehn auf die Fürsorge für
Ladnerinnen, für Fabrikarbeiterinnen, den christlichen Verein junger Männer
und ähnliches. Ich meine, mit dem Gesagten ist der Beweis erbracht: Es
sind in weiten Kreisen unsers Volkes und keineswegs nur in den kirchlichen
Kreisen die Augen geöffnet, daß man die Schäden zu sehen wagt und sich
mit tatkräftiger Liebe an ihre Überwindung heran macht. Als ein lebendiges
Beispiel dafür, dem aber gewiß andre Städte ähnliches zur Seite zu stellen
haben, nenne ich die sehr nützlichen Arbeiten des "Vereins für Volkswohl"
in Halle. Als einen besondern Fortschritt der Arbeit möchte ich es bezeichnen,
daß man sich längst nicht mehr darauf beschränkt, das schon Verlorne oder
Versunkne wieder herauszuholen, sondern vielmehr, wie in den letztgenannten
Bestrebungen, zu bewahren, zu stärken bemüht ist, damit es erst gar nicht zu
einem Versinken komme. Also man hat auch die drohenden Gefahren, ehe sie
noch hereinbrechen, sehen gelernt.

Was über die Fürsorge für die Epileptischen gesagt wurde, führt uns
auf den vierten Punkt. Erreicht ist durch jene Liebesarbeit eine weitgehende
Beeinflussung unsrer Gesetzgebung, unsrer staatlichen und städtischen Ordnungen.
Fliedner hat in dieser Beziehung in Gemeinschaft mit dem Oberpräsidenten
von Vincke, unterstützt von dem Kronprinzen, daun König Friedrich Wilhelm
dem Vierten in dem preußischen Gefüngniswesen eine völlige Umgestaltung, ja
Neuordnung der Dinge erreicht. Die Berichte der Zustände, die er vorfand,
klingen uns wie Märchen. Wiehern wurde -- bis dahin nichts weiter als
Kandidat -- 1857 als Oberkonsistorialrat und Mitglied des Evangelischen
Oberkirchenrath zugleich als Vortragender Rat ins Ministerium berufen und
hat da, wenn auch in mühseliger, aufreibender Arbeit, manchen hochbedeutsamen
Fortschritt der Gesetzgebung errungen. Der neuste Gewinn auf diesem Gebiet
ist das wichtige Fürsorgeerziehungsgesetz. Es muß in der Tat immer wieder


Christliche Liebestätigkeit

in großem Maßstabe Pastor von Bodelschwingh in Bielefeld. Und jetzt ist
die Versorgung dieser Unglücklichen, durch Gesetz geregelt, eine Sache der Ver¬
waltung der einzelnen Provinzen geworden. Und wie in diesem unbeschreib¬
lichen Jammer doch geholfen und getröstet werden kann, das kann der sehen
und spüren, der einmal in Bielefeld den Chor der Epileptischen hat anstimmen
hören: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden
wir sein wie die Träumender." Etwas ähnliches ist in allerjüngster Zeit
geschehen mit der Krüppelpflege. Das Oberlinhaus in Nowawes bei Potsdam
hat erst seit dem Jahre 1898 darin bahnbrechend in Deutschland gewirkt, und
es wird bekannt sein, welche Ausdehnung das noch so junge Krüppelhaus
unsrer Provinz Sachsen in Krakau bei Magdeburg gewonnen hat.

Noch einige Beispiele. Wie lange ists her, seit man zuerst von Lungen¬
heilstätten hörte? Daß man anfing, sich nach den Heimarbeiterinnen umzu¬
sehen? Und jeder Kundige weiß doch, wie sich in diesen Kreisen oft genug
bitterste Not und dabei manchesmal ein wahres Heldentum ausharrender
Arbeitstreue findet. Aber ich will nicht eingehn auf die Fürsorge für
Ladnerinnen, für Fabrikarbeiterinnen, den christlichen Verein junger Männer
und ähnliches. Ich meine, mit dem Gesagten ist der Beweis erbracht: Es
sind in weiten Kreisen unsers Volkes und keineswegs nur in den kirchlichen
Kreisen die Augen geöffnet, daß man die Schäden zu sehen wagt und sich
mit tatkräftiger Liebe an ihre Überwindung heran macht. Als ein lebendiges
Beispiel dafür, dem aber gewiß andre Städte ähnliches zur Seite zu stellen
haben, nenne ich die sehr nützlichen Arbeiten des „Vereins für Volkswohl"
in Halle. Als einen besondern Fortschritt der Arbeit möchte ich es bezeichnen,
daß man sich längst nicht mehr darauf beschränkt, das schon Verlorne oder
Versunkne wieder herauszuholen, sondern vielmehr, wie in den letztgenannten
Bestrebungen, zu bewahren, zu stärken bemüht ist, damit es erst gar nicht zu
einem Versinken komme. Also man hat auch die drohenden Gefahren, ehe sie
noch hereinbrechen, sehen gelernt.

Was über die Fürsorge für die Epileptischen gesagt wurde, führt uns
auf den vierten Punkt. Erreicht ist durch jene Liebesarbeit eine weitgehende
Beeinflussung unsrer Gesetzgebung, unsrer staatlichen und städtischen Ordnungen.
Fliedner hat in dieser Beziehung in Gemeinschaft mit dem Oberpräsidenten
von Vincke, unterstützt von dem Kronprinzen, daun König Friedrich Wilhelm
dem Vierten in dem preußischen Gefüngniswesen eine völlige Umgestaltung, ja
Neuordnung der Dinge erreicht. Die Berichte der Zustände, die er vorfand,
klingen uns wie Märchen. Wiehern wurde — bis dahin nichts weiter als
Kandidat — 1857 als Oberkonsistorialrat und Mitglied des Evangelischen
Oberkirchenrath zugleich als Vortragender Rat ins Ministerium berufen und
hat da, wenn auch in mühseliger, aufreibender Arbeit, manchen hochbedeutsamen
Fortschritt der Gesetzgebung errungen. Der neuste Gewinn auf diesem Gebiet
ist das wichtige Fürsorgeerziehungsgesetz. Es muß in der Tat immer wieder


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[0610] Christliche Liebestätigkeit in großem Maßstabe Pastor von Bodelschwingh in Bielefeld. Und jetzt ist die Versorgung dieser Unglücklichen, durch Gesetz geregelt, eine Sache der Ver¬ waltung der einzelnen Provinzen geworden. Und wie in diesem unbeschreib¬ lichen Jammer doch geholfen und getröstet werden kann, das kann der sehen und spüren, der einmal in Bielefeld den Chor der Epileptischen hat anstimmen hören: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein wie die Träumender." Etwas ähnliches ist in allerjüngster Zeit geschehen mit der Krüppelpflege. Das Oberlinhaus in Nowawes bei Potsdam hat erst seit dem Jahre 1898 darin bahnbrechend in Deutschland gewirkt, und es wird bekannt sein, welche Ausdehnung das noch so junge Krüppelhaus unsrer Provinz Sachsen in Krakau bei Magdeburg gewonnen hat. Noch einige Beispiele. Wie lange ists her, seit man zuerst von Lungen¬ heilstätten hörte? Daß man anfing, sich nach den Heimarbeiterinnen umzu¬ sehen? Und jeder Kundige weiß doch, wie sich in diesen Kreisen oft genug bitterste Not und dabei manchesmal ein wahres Heldentum ausharrender Arbeitstreue findet. Aber ich will nicht eingehn auf die Fürsorge für Ladnerinnen, für Fabrikarbeiterinnen, den christlichen Verein junger Männer und ähnliches. Ich meine, mit dem Gesagten ist der Beweis erbracht: Es sind in weiten Kreisen unsers Volkes und keineswegs nur in den kirchlichen Kreisen die Augen geöffnet, daß man die Schäden zu sehen wagt und sich mit tatkräftiger Liebe an ihre Überwindung heran macht. Als ein lebendiges Beispiel dafür, dem aber gewiß andre Städte ähnliches zur Seite zu stellen haben, nenne ich die sehr nützlichen Arbeiten des „Vereins für Volkswohl" in Halle. Als einen besondern Fortschritt der Arbeit möchte ich es bezeichnen, daß man sich längst nicht mehr darauf beschränkt, das schon Verlorne oder Versunkne wieder herauszuholen, sondern vielmehr, wie in den letztgenannten Bestrebungen, zu bewahren, zu stärken bemüht ist, damit es erst gar nicht zu einem Versinken komme. Also man hat auch die drohenden Gefahren, ehe sie noch hereinbrechen, sehen gelernt. Was über die Fürsorge für die Epileptischen gesagt wurde, führt uns auf den vierten Punkt. Erreicht ist durch jene Liebesarbeit eine weitgehende Beeinflussung unsrer Gesetzgebung, unsrer staatlichen und städtischen Ordnungen. Fliedner hat in dieser Beziehung in Gemeinschaft mit dem Oberpräsidenten von Vincke, unterstützt von dem Kronprinzen, daun König Friedrich Wilhelm dem Vierten in dem preußischen Gefüngniswesen eine völlige Umgestaltung, ja Neuordnung der Dinge erreicht. Die Berichte der Zustände, die er vorfand, klingen uns wie Märchen. Wiehern wurde — bis dahin nichts weiter als Kandidat — 1857 als Oberkonsistorialrat und Mitglied des Evangelischen Oberkirchenrath zugleich als Vortragender Rat ins Ministerium berufen und hat da, wenn auch in mühseliger, aufreibender Arbeit, manchen hochbedeutsamen Fortschritt der Gesetzgebung errungen. Der neuste Gewinn auf diesem Gebiet ist das wichtige Fürsorgeerziehungsgesetz. Es muß in der Tat immer wieder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/610>, abgerufen am 23.07.2024.