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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments

gar kein Raum mehr bleibt. Das Endergebnis der neuen Geschäftsordnung
besteht darin, daß nicht allein jeder Obstruktion, jeder ernstlichen Störung der
ruhigen Arbeit des Hauses vorgebeugt ist, sondern auch, "daß die Gesetzgebung,
sowohl was Initiative und Vorbereitung als auch die Durchdringung der Ge¬
setze betrifft, nahezu vollständig von der Regierung monopolisiert wird". Da
"die Regierung" nur der Vollzugsausschuß des Unterhauses ist, so liegt die
Zeit weit zurück, wo "Mißtrauen gegen die Regierung als die konstitutionelle
Kardinaltugend" galt. Mit der letzten Reform der Geschäftsordnung hat, wie
ein Redner in der Debatte die Änderung richtig bezeichnete, das Haus seine
Geschäfte vollständig in die Hand der Regierung gelegt. Die Geschäftsordnung
ist "aus einem Rüstzeuge der Volksvertretung gegen Krone und Regierung
zum politischen Rüstzeuge des Ministeriums geworden". Diese Geschäftsordnung
hat die Macht des Ministeriums und des Speakers außerordentlich gestärkt
und "dem einzelnen Abgeordneten, damit aber dem ganzen Unterhause von
seiner historischen Bedeutung und seiner Initiative viel genommen". Der Ne¬
gierung stellt die Reform erstens die meisten Sitzungen der Woche zur Ver¬
fügung. Das Haus hält Montags, Dienstags, Mittwochs und Donnerstags
je zwei Sitzungen ab: die Mittagsitzuug von 2 bis 7 Uhr 15 Minuten und
eine Abendsitzung von 9 bis 1 Uhr; Freitags eine sogenannte Morgensitzung
von 12 Uhr Mittags bis 6. Von diesen neun Sitzungen gehören sechs der
Regierung und nur drei (die Freitagsitzung und die Dienstag- und Mittwoch¬
abendsitzung) den Antrügen der Mitglieder und den krivats Lills. Nach
Ostern wird den Mitgliedern auch die Dienstagabendsitzung, nach Pfingsten
vollends die Freitagsitzung genommen. Zweitens ist die Erledigung des Budgets
an bestimmte Fristen gebunden, die als Guillotine wirken. "Früher, sprach der
Abgeordnete Gibson Bootes in einer Kommissionssitzung des Jahres 1902,
solange für die Beratung des Budgets keine Zeitschranke gesetzt war, konnten
der Regierung allerlei Zugeständnisse abgepreßt werden. Seit der neuen
Budgetordnung, die die Zahl der Budgetsitzungen bestimmt, stehn die Dinge
ganz anders. Jetzt kümmert sich die Regierung nicht darum, ob die Debatte
über einzelne Kapitel lange dauert oder nicht, denn am Ende der zwanzig
oder dreiundzwanzig Tage füllt die Guillotine automatisch, und die Minister
bekommen alle ihre noch ausstehenden Budgetforderungen bewilligt, gleichviel
ob sie diskutiert sind oder nicht; und dabei sind denn auch viele Budgetposten,
die einer Diskussion dringend bedurft hätten, aber keine erlangt haben-"
Drittens ist "dem Chef der Regierung als Leader des Hauses gewohuheits-
rechtlich die volle Verfügung über die Anordnung der im Laufe der Session
zu beobachtenden Reihenfolge der Parlamentsgeschäfte in die Hand gegeben,
und gerade in dieser Befugnis drückt sich die ganze Session hindurch das Ver¬
trauen der Mehrheit des Hauses aus". Wird die Mehrheit zur Minderheit,
dann erkiest eben die neue Mehrheit wiederum ihre Vertrauensmänner. Die
Frage ist nur, ob bei den Arbeitervertretern das Vertrauen zu den doch immer


Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments

gar kein Raum mehr bleibt. Das Endergebnis der neuen Geschäftsordnung
besteht darin, daß nicht allein jeder Obstruktion, jeder ernstlichen Störung der
ruhigen Arbeit des Hauses vorgebeugt ist, sondern auch, „daß die Gesetzgebung,
sowohl was Initiative und Vorbereitung als auch die Durchdringung der Ge¬
setze betrifft, nahezu vollständig von der Regierung monopolisiert wird". Da
„die Regierung" nur der Vollzugsausschuß des Unterhauses ist, so liegt die
Zeit weit zurück, wo „Mißtrauen gegen die Regierung als die konstitutionelle
Kardinaltugend" galt. Mit der letzten Reform der Geschäftsordnung hat, wie
ein Redner in der Debatte die Änderung richtig bezeichnete, das Haus seine
Geschäfte vollständig in die Hand der Regierung gelegt. Die Geschäftsordnung
ist „aus einem Rüstzeuge der Volksvertretung gegen Krone und Regierung
zum politischen Rüstzeuge des Ministeriums geworden". Diese Geschäftsordnung
hat die Macht des Ministeriums und des Speakers außerordentlich gestärkt
und „dem einzelnen Abgeordneten, damit aber dem ganzen Unterhause von
seiner historischen Bedeutung und seiner Initiative viel genommen". Der Ne¬
gierung stellt die Reform erstens die meisten Sitzungen der Woche zur Ver¬
fügung. Das Haus hält Montags, Dienstags, Mittwochs und Donnerstags
je zwei Sitzungen ab: die Mittagsitzuug von 2 bis 7 Uhr 15 Minuten und
eine Abendsitzung von 9 bis 1 Uhr; Freitags eine sogenannte Morgensitzung
von 12 Uhr Mittags bis 6. Von diesen neun Sitzungen gehören sechs der
Regierung und nur drei (die Freitagsitzung und die Dienstag- und Mittwoch¬
abendsitzung) den Antrügen der Mitglieder und den krivats Lills. Nach
Ostern wird den Mitgliedern auch die Dienstagabendsitzung, nach Pfingsten
vollends die Freitagsitzung genommen. Zweitens ist die Erledigung des Budgets
an bestimmte Fristen gebunden, die als Guillotine wirken. „Früher, sprach der
Abgeordnete Gibson Bootes in einer Kommissionssitzung des Jahres 1902,
solange für die Beratung des Budgets keine Zeitschranke gesetzt war, konnten
der Regierung allerlei Zugeständnisse abgepreßt werden. Seit der neuen
Budgetordnung, die die Zahl der Budgetsitzungen bestimmt, stehn die Dinge
ganz anders. Jetzt kümmert sich die Regierung nicht darum, ob die Debatte
über einzelne Kapitel lange dauert oder nicht, denn am Ende der zwanzig
oder dreiundzwanzig Tage füllt die Guillotine automatisch, und die Minister
bekommen alle ihre noch ausstehenden Budgetforderungen bewilligt, gleichviel
ob sie diskutiert sind oder nicht; und dabei sind denn auch viele Budgetposten,
die einer Diskussion dringend bedurft hätten, aber keine erlangt haben-"
Drittens ist „dem Chef der Regierung als Leader des Hauses gewohuheits-
rechtlich die volle Verfügung über die Anordnung der im Laufe der Session
zu beobachtenden Reihenfolge der Parlamentsgeschäfte in die Hand gegeben,
und gerade in dieser Befugnis drückt sich die ganze Session hindurch das Ver¬
trauen der Mehrheit des Hauses aus". Wird die Mehrheit zur Minderheit,
dann erkiest eben die neue Mehrheit wiederum ihre Vertrauensmänner. Die
Frage ist nur, ob bei den Arbeitervertretern das Vertrauen zu den doch immer


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[0568] Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments gar kein Raum mehr bleibt. Das Endergebnis der neuen Geschäftsordnung besteht darin, daß nicht allein jeder Obstruktion, jeder ernstlichen Störung der ruhigen Arbeit des Hauses vorgebeugt ist, sondern auch, „daß die Gesetzgebung, sowohl was Initiative und Vorbereitung als auch die Durchdringung der Ge¬ setze betrifft, nahezu vollständig von der Regierung monopolisiert wird". Da „die Regierung" nur der Vollzugsausschuß des Unterhauses ist, so liegt die Zeit weit zurück, wo „Mißtrauen gegen die Regierung als die konstitutionelle Kardinaltugend" galt. Mit der letzten Reform der Geschäftsordnung hat, wie ein Redner in der Debatte die Änderung richtig bezeichnete, das Haus seine Geschäfte vollständig in die Hand der Regierung gelegt. Die Geschäftsordnung ist „aus einem Rüstzeuge der Volksvertretung gegen Krone und Regierung zum politischen Rüstzeuge des Ministeriums geworden". Diese Geschäftsordnung hat die Macht des Ministeriums und des Speakers außerordentlich gestärkt und „dem einzelnen Abgeordneten, damit aber dem ganzen Unterhause von seiner historischen Bedeutung und seiner Initiative viel genommen". Der Ne¬ gierung stellt die Reform erstens die meisten Sitzungen der Woche zur Ver¬ fügung. Das Haus hält Montags, Dienstags, Mittwochs und Donnerstags je zwei Sitzungen ab: die Mittagsitzuug von 2 bis 7 Uhr 15 Minuten und eine Abendsitzung von 9 bis 1 Uhr; Freitags eine sogenannte Morgensitzung von 12 Uhr Mittags bis 6. Von diesen neun Sitzungen gehören sechs der Regierung und nur drei (die Freitagsitzung und die Dienstag- und Mittwoch¬ abendsitzung) den Antrügen der Mitglieder und den krivats Lills. Nach Ostern wird den Mitgliedern auch die Dienstagabendsitzung, nach Pfingsten vollends die Freitagsitzung genommen. Zweitens ist die Erledigung des Budgets an bestimmte Fristen gebunden, die als Guillotine wirken. „Früher, sprach der Abgeordnete Gibson Bootes in einer Kommissionssitzung des Jahres 1902, solange für die Beratung des Budgets keine Zeitschranke gesetzt war, konnten der Regierung allerlei Zugeständnisse abgepreßt werden. Seit der neuen Budgetordnung, die die Zahl der Budgetsitzungen bestimmt, stehn die Dinge ganz anders. Jetzt kümmert sich die Regierung nicht darum, ob die Debatte über einzelne Kapitel lange dauert oder nicht, denn am Ende der zwanzig oder dreiundzwanzig Tage füllt die Guillotine automatisch, und die Minister bekommen alle ihre noch ausstehenden Budgetforderungen bewilligt, gleichviel ob sie diskutiert sind oder nicht; und dabei sind denn auch viele Budgetposten, die einer Diskussion dringend bedurft hätten, aber keine erlangt haben-" Drittens ist „dem Chef der Regierung als Leader des Hauses gewohuheits- rechtlich die volle Verfügung über die Anordnung der im Laufe der Session zu beobachtenden Reihenfolge der Parlamentsgeschäfte in die Hand gegeben, und gerade in dieser Befugnis drückt sich die ganze Session hindurch das Ver¬ trauen der Mehrheit des Hauses aus". Wird die Mehrheit zur Minderheit, dann erkiest eben die neue Mehrheit wiederum ihre Vertrauensmänner. Die Frage ist nur, ob bei den Arbeitervertretern das Vertrauen zu den doch immer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/568>, abgerufen am 23.07.2024.