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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Bleibendes und vergängliches in der Kriegführung

lesen, wenn man die Kriegsereignisse von 1806 mit ihren unheilvollen Folgen
verstehn will. Sowohl aus dem in knapper und schöner Sprache geschriebnen
Text, der den Urkunden vorangestellt ist, wie aus den abgedruckten Akten der
Tribunale erkennt man, welche Tüchtigkeit und welcher sittliche Ernst dem viel-
geschmähten Offizierkorps des Unglücksjahres eigen waren. Es konnte ja auch
nicht anders sein, denn nur so erklären sich die Siege von 1813, zu denen
dasselbe Offizierkorps wenig Jahre später Preußens Heer und Volk geführt
hat. Nur echte deutsche Gewissenhaftigkeit, wenn man will, preußische Pedanterie
konnte in solcher Weise, wie es hier geschehen ist, den Ursachen des Mißgeschicks
bis ins einzelne nachgehn. Es ist bei den Untersuchungen unter den er¬
schwerendsten äußern Umständen in verhältnismäßig kurzer Zeit eine ungeheure
Arbeitslast bewältigt worden. Allen voran bewies König Friedrich Wilhelm
der Dritte in seiner gewissenhaften Weise, wie ernst es ihm um die Sache war.

Würdiger und zugleich gewichtiger als es durch dieses Werk des General¬
stabs geschieht, konnte den Verdächtigungen, die, anknüpfend an die Ereignisse
des Jahres 1806, von der Armee feindlichen Kreisen auch jetzt geflissentlich
ausgestreut werden, nicht begegnet werden. Daß diese Kreise eines bessern
belehrt werden könnten, glauben wir freilich nicht, denn sie widersetzen sich
dem absichtlich. Die beiden erwähnten Werke ergänzen einander vortrefflich,
sie geben uns vereint ein Bild der alten Armee, wie es getreuer nach hundert
Jahren nicht gezeichnet werden kann. Sie zeigen andrerseits den Zusammen¬
hang zwischen der friderizianischen und der durch Scharnhorst reorganisierten
Armee. Ein Gegensatz zwischen beiden ist in so hohem Maße, wie vielfach
behauptet worden ist, gar nicht vorhanden gewesen. Ganz abgesehen davon,
daß das Offizierkorps von 1813 dasselbe war wie das von 1806, ist Scharnhorst,
so gewiß er der Organisator des Volkes in Waffen war, keineswegs der
Milizschwärmer gewesen, als der er von der sozialdemokratischen Seite immer
ausgegeben wird. Scharnhorst hat immer nur eine Miliz neben dem stehenden
Heere, zu dessen Verstärkung und für Kriegszwecke zweiter Ordnung, nicht an
Stelle des stehenden Heeres befürwortet. Auch die Landwehrorganisationen
von 1813 waren in diesem Sinne gedacht. Sie entsprangen dem Gebote der
Not ebenso wie die Einrichtung der Krümper, der nach flüchtiger Ausbildung
beurlaubten Mannschaften. Dieses sogenannte Krümpersystem hat übrigens in
den fünf Jahren von 1808 bis 1812 die Kriegsreserve von 100000 Mann,
mit deren Hilfe es 1813 möglich wurde, die Armee mit einem Schlage zu
verdreifachen, nicht schaffen können, sondern die Kricgsreserve bestand über¬
wiegend aus Mannschaften, die ihre Ausbildung noch in der alten Armee er¬
halten hatten.

Die beiden neuesten Veröffentlichungen über den unglücklichen Krieg vor
hundert Jahren bestätigen durchaus die Auffassung, daß der Hauptgrund der
Niederlagen im freien Felde doch eigentlich darin zu suchen ist, daß die über¬
kommene Kriegsweise des achtzehnten Jahrhunderts vor der neuen Napoleons,


Bleibendes und vergängliches in der Kriegführung

lesen, wenn man die Kriegsereignisse von 1806 mit ihren unheilvollen Folgen
verstehn will. Sowohl aus dem in knapper und schöner Sprache geschriebnen
Text, der den Urkunden vorangestellt ist, wie aus den abgedruckten Akten der
Tribunale erkennt man, welche Tüchtigkeit und welcher sittliche Ernst dem viel-
geschmähten Offizierkorps des Unglücksjahres eigen waren. Es konnte ja auch
nicht anders sein, denn nur so erklären sich die Siege von 1813, zu denen
dasselbe Offizierkorps wenig Jahre später Preußens Heer und Volk geführt
hat. Nur echte deutsche Gewissenhaftigkeit, wenn man will, preußische Pedanterie
konnte in solcher Weise, wie es hier geschehen ist, den Ursachen des Mißgeschicks
bis ins einzelne nachgehn. Es ist bei den Untersuchungen unter den er¬
schwerendsten äußern Umständen in verhältnismäßig kurzer Zeit eine ungeheure
Arbeitslast bewältigt worden. Allen voran bewies König Friedrich Wilhelm
der Dritte in seiner gewissenhaften Weise, wie ernst es ihm um die Sache war.

Würdiger und zugleich gewichtiger als es durch dieses Werk des General¬
stabs geschieht, konnte den Verdächtigungen, die, anknüpfend an die Ereignisse
des Jahres 1806, von der Armee feindlichen Kreisen auch jetzt geflissentlich
ausgestreut werden, nicht begegnet werden. Daß diese Kreise eines bessern
belehrt werden könnten, glauben wir freilich nicht, denn sie widersetzen sich
dem absichtlich. Die beiden erwähnten Werke ergänzen einander vortrefflich,
sie geben uns vereint ein Bild der alten Armee, wie es getreuer nach hundert
Jahren nicht gezeichnet werden kann. Sie zeigen andrerseits den Zusammen¬
hang zwischen der friderizianischen und der durch Scharnhorst reorganisierten
Armee. Ein Gegensatz zwischen beiden ist in so hohem Maße, wie vielfach
behauptet worden ist, gar nicht vorhanden gewesen. Ganz abgesehen davon,
daß das Offizierkorps von 1813 dasselbe war wie das von 1806, ist Scharnhorst,
so gewiß er der Organisator des Volkes in Waffen war, keineswegs der
Milizschwärmer gewesen, als der er von der sozialdemokratischen Seite immer
ausgegeben wird. Scharnhorst hat immer nur eine Miliz neben dem stehenden
Heere, zu dessen Verstärkung und für Kriegszwecke zweiter Ordnung, nicht an
Stelle des stehenden Heeres befürwortet. Auch die Landwehrorganisationen
von 1813 waren in diesem Sinne gedacht. Sie entsprangen dem Gebote der
Not ebenso wie die Einrichtung der Krümper, der nach flüchtiger Ausbildung
beurlaubten Mannschaften. Dieses sogenannte Krümpersystem hat übrigens in
den fünf Jahren von 1808 bis 1812 die Kriegsreserve von 100000 Mann,
mit deren Hilfe es 1813 möglich wurde, die Armee mit einem Schlage zu
verdreifachen, nicht schaffen können, sondern die Kricgsreserve bestand über¬
wiegend aus Mannschaften, die ihre Ausbildung noch in der alten Armee er¬
halten hatten.

Die beiden neuesten Veröffentlichungen über den unglücklichen Krieg vor
hundert Jahren bestätigen durchaus die Auffassung, daß der Hauptgrund der
Niederlagen im freien Felde doch eigentlich darin zu suchen ist, daß die über¬
kommene Kriegsweise des achtzehnten Jahrhunderts vor der neuen Napoleons,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/556>, abgerufen am 23.07.2024.