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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

d- h. als Gouverneur, und es verlautet, daß die Pforte ihr Befremden über die
Haltung des "Vali von Ostrumelien" einzelnen Mächten gegenüber mit dem Be¬
merken zum Ausdruck gebracht habe, daß die bulgarischen Truppenanhäufungen zu
Gegenmaßregeln auf türkischer Seite führen müßten, was denn auch geschehen ist.

Die vom Berliner Kongreß bezüglich Bulgariens geschaffne Ordnung ist sür
die Verhältnisse, wie sie damals auf der Balkanhalbinsel bestanden, und in Berück¬
sichtigung des russisch-türkischen Friedensvertrages von San Stefano, ein gewissen¬
hafter Ausdruck der Situation gewesen, aber im Laufe der Jahre hat doch manche
einschneidende Veränderung der damals beschlossenen Ordnung stattgefunden, und
zwar meist in der Weise, daß die Pforte schließlich gute Miene zum bösen Spiel
gemacht hat. Der türkisch-bulgarische Gegensatz hat zu seinem innersten Kern die
Absicht der Bulgaren, sich für unabhängig von der türkischen Oberherrschaft zu
erklären, und den damit verbundnen Ehrgeiz des Fürsten Ferdinand, sich die Königs¬
krone auf das Haupt zu setzen. Man dürfte nun wohl sagen, so gut wie Rumänien
und Serbien, namentlich Serbien, könne auch Bulgarien sehr wohl Königreich sein,
das an Gebietsumfang das Doppelte, an Bevölkerung nahezu das Doppelte von
Serbien aufweist, auch ließe sich die Theorie aufstellen, daß ein befriedigtes Bulgarien
größere Garantien des Friedens und der Ordnung bieten würde als ein unbefriedigtes.
Aber gerade hierin liegen die Schwierigkeiten. Ein souveränes Königreich Bulgarien
Würde noch weit mehr versuchen, eine Vergrößerungspolitik zu treiben, als das heutige
suzeräne Fürstentum. Das heutige Bulgarien hat Verpflichtungen gegen die Mächte
denen es nächst den russischen Waffen seine autonome Existenz verdankt, es steht
gewissermaßen als Kind des Berliner Kongresses noch unter europäischer Vormund¬
schaft. Ein souveränes Königreich Bulgarien wäre auf sich selbst gestellt und damit
w der Lage, sich den Instinkten seines Ehrgeizes zu überlassen, dessen nächstes Ziel
Adrianopel und unvermeidlich Mazedonien wäre. Allerdings wird auch diese nuppe
nicht so heiß gegessen, als sie gekocht wird. Der Türkei eiuen Existenzkampf an-
bieten, das konnte wohl einst Rußland wagen, für Bulgarien wäre es doch immerhin
ein riskiertes Unternehmen. Auch würde dazu zu allererst ein König von aus¬
gesprochen kriegerischen und soldatischen Neigungen gehören. Die hat Fürst Ferdinand
bekanntlich ganz und gar nicht, er ist so wenig Soldat und noch weniger Feldherr
wie alle Koburger, er persönlich wird deshalb mit Recht Bedenken tragen, das
mühsam Gewonnene in einem Existenzkampf auf das Spiel zu setzen, für seine Re¬
gierung und sein Volk kann er freilich nicht einstehen.

Die früher den bulgarischen Ambitionen wenig günstige Stimmung in Europa
hat sich neuerdings doch geändert. Fürst Ferdinand hat sich nicht nur der Sympathien
Englands versichert - sein häufiges Zusammensein in Marienbad mit dem König
Eduard ist in dieser Hinsicht nicht ohne Bedeutung sondern er steht sich auch
mit Frankreich besser, hat es verstanden, sich mit Osterreich auf einen andern Fuß
^ bringen, und auch in Berlin scheint die Beurteilung Bulgariens und seiner
Fürstenherrlichkeit nicht mehr der strengen Auffassung zu unterliegen die Kaiser
Wilhelm der Erste im Jahre 1884 bei der damaligen heimlichen Verlobung seiner
Enkelin mit dem Battenberger zur Geltung brachte und die auch der letz.ge Kä ser
lange Zeit festgehalten hat. Vorübergehende Verstimmungen in t Rußland sind
wieder beglicht Somit wäre die Haltung er Hofe und der Kabwet e n chem^ d
den bulgarischen Wünschen zurzeit gar nicht so ungünstig. Aber deren ^ze-
friedigung w?r aller Voraussicht nach die Lage in Mazedonien u^schweren, und die Türkei, die dem jungen Königreich in aller F°rin Ost ^Morgengabe bringen müßte, würde gegen die abermalig^Alter Vertrags doch wohl nicht ganz gleichgiltig sein. Für den Augenblick läßt
sich allerdings sagen, daß die Unruhen auf dem Balkan in der Regel nur so lange


Maßgebliches und Unmaßgebliches

d- h. als Gouverneur, und es verlautet, daß die Pforte ihr Befremden über die
Haltung des „Vali von Ostrumelien" einzelnen Mächten gegenüber mit dem Be¬
merken zum Ausdruck gebracht habe, daß die bulgarischen Truppenanhäufungen zu
Gegenmaßregeln auf türkischer Seite führen müßten, was denn auch geschehen ist.

Die vom Berliner Kongreß bezüglich Bulgariens geschaffne Ordnung ist sür
die Verhältnisse, wie sie damals auf der Balkanhalbinsel bestanden, und in Berück¬
sichtigung des russisch-türkischen Friedensvertrages von San Stefano, ein gewissen¬
hafter Ausdruck der Situation gewesen, aber im Laufe der Jahre hat doch manche
einschneidende Veränderung der damals beschlossenen Ordnung stattgefunden, und
zwar meist in der Weise, daß die Pforte schließlich gute Miene zum bösen Spiel
gemacht hat. Der türkisch-bulgarische Gegensatz hat zu seinem innersten Kern die
Absicht der Bulgaren, sich für unabhängig von der türkischen Oberherrschaft zu
erklären, und den damit verbundnen Ehrgeiz des Fürsten Ferdinand, sich die Königs¬
krone auf das Haupt zu setzen. Man dürfte nun wohl sagen, so gut wie Rumänien
und Serbien, namentlich Serbien, könne auch Bulgarien sehr wohl Königreich sein,
das an Gebietsumfang das Doppelte, an Bevölkerung nahezu das Doppelte von
Serbien aufweist, auch ließe sich die Theorie aufstellen, daß ein befriedigtes Bulgarien
größere Garantien des Friedens und der Ordnung bieten würde als ein unbefriedigtes.
Aber gerade hierin liegen die Schwierigkeiten. Ein souveränes Königreich Bulgarien
Würde noch weit mehr versuchen, eine Vergrößerungspolitik zu treiben, als das heutige
suzeräne Fürstentum. Das heutige Bulgarien hat Verpflichtungen gegen die Mächte
denen es nächst den russischen Waffen seine autonome Existenz verdankt, es steht
gewissermaßen als Kind des Berliner Kongresses noch unter europäischer Vormund¬
schaft. Ein souveränes Königreich Bulgarien wäre auf sich selbst gestellt und damit
w der Lage, sich den Instinkten seines Ehrgeizes zu überlassen, dessen nächstes Ziel
Adrianopel und unvermeidlich Mazedonien wäre. Allerdings wird auch diese nuppe
nicht so heiß gegessen, als sie gekocht wird. Der Türkei eiuen Existenzkampf an-
bieten, das konnte wohl einst Rußland wagen, für Bulgarien wäre es doch immerhin
ein riskiertes Unternehmen. Auch würde dazu zu allererst ein König von aus¬
gesprochen kriegerischen und soldatischen Neigungen gehören. Die hat Fürst Ferdinand
bekanntlich ganz und gar nicht, er ist so wenig Soldat und noch weniger Feldherr
wie alle Koburger, er persönlich wird deshalb mit Recht Bedenken tragen, das
mühsam Gewonnene in einem Existenzkampf auf das Spiel zu setzen, für seine Re¬
gierung und sein Volk kann er freilich nicht einstehen.

Die früher den bulgarischen Ambitionen wenig günstige Stimmung in Europa
hat sich neuerdings doch geändert. Fürst Ferdinand hat sich nicht nur der Sympathien
Englands versichert - sein häufiges Zusammensein in Marienbad mit dem König
Eduard ist in dieser Hinsicht nicht ohne Bedeutung sondern er steht sich auch
mit Frankreich besser, hat es verstanden, sich mit Osterreich auf einen andern Fuß
^ bringen, und auch in Berlin scheint die Beurteilung Bulgariens und seiner
Fürstenherrlichkeit nicht mehr der strengen Auffassung zu unterliegen die Kaiser
Wilhelm der Erste im Jahre 1884 bei der damaligen heimlichen Verlobung seiner
Enkelin mit dem Battenberger zur Geltung brachte und die auch der letz.ge Kä ser
lange Zeit festgehalten hat. Vorübergehende Verstimmungen in t Rußland sind
wieder beglicht Somit wäre die Haltung er Hofe und der Kabwet e n chem^ d
den bulgarischen Wünschen zurzeit gar nicht so ungünstig. Aber deren ^ze-
friedigung w?r aller Voraussicht nach die Lage in Mazedonien u^schweren, und die Türkei, die dem jungen Königreich in aller F°rin Ost ^Morgengabe bringen müßte, würde gegen die abermalig^Alter Vertrags doch wohl nicht ganz gleichgiltig sein. Für den Augenblick läßt
sich allerdings sagen, daß die Unruhen auf dem Balkan in der Regel nur so lange


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[0539] Maßgebliches und Unmaßgebliches d- h. als Gouverneur, und es verlautet, daß die Pforte ihr Befremden über die Haltung des „Vali von Ostrumelien" einzelnen Mächten gegenüber mit dem Be¬ merken zum Ausdruck gebracht habe, daß die bulgarischen Truppenanhäufungen zu Gegenmaßregeln auf türkischer Seite führen müßten, was denn auch geschehen ist. Die vom Berliner Kongreß bezüglich Bulgariens geschaffne Ordnung ist sür die Verhältnisse, wie sie damals auf der Balkanhalbinsel bestanden, und in Berück¬ sichtigung des russisch-türkischen Friedensvertrages von San Stefano, ein gewissen¬ hafter Ausdruck der Situation gewesen, aber im Laufe der Jahre hat doch manche einschneidende Veränderung der damals beschlossenen Ordnung stattgefunden, und zwar meist in der Weise, daß die Pforte schließlich gute Miene zum bösen Spiel gemacht hat. Der türkisch-bulgarische Gegensatz hat zu seinem innersten Kern die Absicht der Bulgaren, sich für unabhängig von der türkischen Oberherrschaft zu erklären, und den damit verbundnen Ehrgeiz des Fürsten Ferdinand, sich die Königs¬ krone auf das Haupt zu setzen. Man dürfte nun wohl sagen, so gut wie Rumänien und Serbien, namentlich Serbien, könne auch Bulgarien sehr wohl Königreich sein, das an Gebietsumfang das Doppelte, an Bevölkerung nahezu das Doppelte von Serbien aufweist, auch ließe sich die Theorie aufstellen, daß ein befriedigtes Bulgarien größere Garantien des Friedens und der Ordnung bieten würde als ein unbefriedigtes. Aber gerade hierin liegen die Schwierigkeiten. Ein souveränes Königreich Bulgarien Würde noch weit mehr versuchen, eine Vergrößerungspolitik zu treiben, als das heutige suzeräne Fürstentum. Das heutige Bulgarien hat Verpflichtungen gegen die Mächte denen es nächst den russischen Waffen seine autonome Existenz verdankt, es steht gewissermaßen als Kind des Berliner Kongresses noch unter europäischer Vormund¬ schaft. Ein souveränes Königreich Bulgarien wäre auf sich selbst gestellt und damit w der Lage, sich den Instinkten seines Ehrgeizes zu überlassen, dessen nächstes Ziel Adrianopel und unvermeidlich Mazedonien wäre. Allerdings wird auch diese nuppe nicht so heiß gegessen, als sie gekocht wird. Der Türkei eiuen Existenzkampf an- bieten, das konnte wohl einst Rußland wagen, für Bulgarien wäre es doch immerhin ein riskiertes Unternehmen. Auch würde dazu zu allererst ein König von aus¬ gesprochen kriegerischen und soldatischen Neigungen gehören. Die hat Fürst Ferdinand bekanntlich ganz und gar nicht, er ist so wenig Soldat und noch weniger Feldherr wie alle Koburger, er persönlich wird deshalb mit Recht Bedenken tragen, das mühsam Gewonnene in einem Existenzkampf auf das Spiel zu setzen, für seine Re¬ gierung und sein Volk kann er freilich nicht einstehen. Die früher den bulgarischen Ambitionen wenig günstige Stimmung in Europa hat sich neuerdings doch geändert. Fürst Ferdinand hat sich nicht nur der Sympathien Englands versichert - sein häufiges Zusammensein in Marienbad mit dem König Eduard ist in dieser Hinsicht nicht ohne Bedeutung sondern er steht sich auch mit Frankreich besser, hat es verstanden, sich mit Osterreich auf einen andern Fuß ^ bringen, und auch in Berlin scheint die Beurteilung Bulgariens und seiner Fürstenherrlichkeit nicht mehr der strengen Auffassung zu unterliegen die Kaiser Wilhelm der Erste im Jahre 1884 bei der damaligen heimlichen Verlobung seiner Enkelin mit dem Battenberger zur Geltung brachte und die auch der letz.ge Kä ser lange Zeit festgehalten hat. Vorübergehende Verstimmungen in t Rußland sind wieder beglicht Somit wäre die Haltung er Hofe und der Kabwet e n chem^ d den bulgarischen Wünschen zurzeit gar nicht so ungünstig. Aber deren ^ze- friedigung w?r aller Voraussicht nach die Lage in Mazedonien u^schweren, und die Türkei, die dem jungen Königreich in aller F°rin Ost ^Morgengabe bringen müßte, würde gegen die abermalig^Alter Vertrags doch wohl nicht ganz gleichgiltig sein. Für den Augenblick läßt sich allerdings sagen, daß die Unruhen auf dem Balkan in der Regel nur so lange

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/539>, abgerufen am 27.12.2024.