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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Durch Transkaukasien

Wir rollten, vorzüglich gefahren, durch die schönen breiten, saubern Straßen
in kurzer Zeit zum Bahnhof. Auch in der Stadt war überall Feiertag, aber
an allen Straßenecken und wichtigen Gebäuden standen Posten, einzelne Häuser
waren stark mit Einquartierung belegt, und Patrouillen durchzogen die Straßen.
Tot lag der Bahnhof da, war aber durch Posten an allen Ausgängen bewacht;
eine Kompagnie war mit seiner Sicherung beauftragt worden. Von Gepäck¬
trägern draußen keine Spur: im Gepäckaufbewahrungsraum saßen sie und spielten
Karten, eine Beschäftigung, bei der sie sich ungern stören ließen. Im hohen,
luftigen, gut ventilierten Wartesaal richteten wir uns, so gut es auf den harten
Stühlen ging, für die Nacht ein und hatten wenigstens das Gefühl, in mili¬
tärischer Obhut hinter festen Doppelfenstern in reinlicher Umgebung mit gutem
Gewissen als sanftem Kissen der Ruhe pflegen zu dürfen. Bevor wir jedoch
dazu übergingen, wie der militärische Ausdruck lautet, hatten wir uns, unter
Verzicht auf jeden Besuch der Stadt, über die Einrichtung und die Umgebung
des Bahnhofs orientiert und mit Genuß das schon im Hafen während der un¬
freiwilligen Muße bewunderte Bild der Alpenlandschaft in der Abendbeleuchtung
auf uns wirken lassen. Auf telephonische Anfrage hin hatte sich der liebens¬
würdige Besitzer des Hotel Richter (einer Filiale des Hotel London in Tiflis)
persönlich nach dem Bahnhof bemüht und sehr uneigennützig seine volle Billigung
ausgesprochen, daß wir gleich dahin übergesiedelt waren. Wir erfuhren von ihm
näheres und nicht gerade Vertrauen erweckendes über die Zustände im Kaukasus
und in Batna und erhielten Bescheid, daß unser in Moskau häßlicherweise von
uns versetzter Reiseteilnehmer uns sehnsüchtig in Tiflis erwarte. Trotz allen
Alarmnachrichten und trotz dem aus einer Wirtschaft herüberschallenden Lärm,
bei dem es wahrscheinlich nicht ohne einige Stiche abgegangen ist, trotz dem
halben Kriegszustande, unter dem wir uns befanden, empfanden wir unsre Lage
fast als Idylle und freuten uns, soweit gelangt zu sein. Die Bahnhofswirtschaft
lieferte sachgemäßen Borschtsch, Tee, kaukasischen Wein und Bier nach Bedarf,
jedenfalls in ausreichender Menge, daß wir die nötige Bedingung für das
improvisierte Nachtlager auf Stühlen erfüllen konnten, uns genügende Bett¬
schwere zu erwerben. Bequem war es nicht, und die mißhandelte Natur rächte
sich durch so kräftige Sägetöne ans dem Kehlkopf, daß vereinzelt erscheinende
Ratten erschreckt davoneilten.

Um vier Uhr Morgens begann sichs zu regen, denn auf etwa fünf Uhr war
die Abfahrtszeit des Zuges nach Tiflis angesetzt, ein wesentlicher Grund, daß
wir auf Hotelunterkunft in einer so unsichern Stadt verzichtet hatten. Droschken
fuhren vor, der Wartesaal füllte sich, und an der Fahrkartenausgabe sammelte
sich kaukasisches Reisepublikum. Mühevoll unter Stoßen und Drängen mußte
der Platz am Schalter erworben und verteidigt werden, aber die Unterbringung
im vorfahrenden Zuge ließ sich sachgemäß und leicht in zwei durch Klapptüren
verbundnen Coupe's erster Klasse bewirken, die bei Tage zu einem größern Raum,
unserm Bedürfnis entsprechend, umgestaltet werden konnten. Unser langer, nach


Durch Transkaukasien

Wir rollten, vorzüglich gefahren, durch die schönen breiten, saubern Straßen
in kurzer Zeit zum Bahnhof. Auch in der Stadt war überall Feiertag, aber
an allen Straßenecken und wichtigen Gebäuden standen Posten, einzelne Häuser
waren stark mit Einquartierung belegt, und Patrouillen durchzogen die Straßen.
Tot lag der Bahnhof da, war aber durch Posten an allen Ausgängen bewacht;
eine Kompagnie war mit seiner Sicherung beauftragt worden. Von Gepäck¬
trägern draußen keine Spur: im Gepäckaufbewahrungsraum saßen sie und spielten
Karten, eine Beschäftigung, bei der sie sich ungern stören ließen. Im hohen,
luftigen, gut ventilierten Wartesaal richteten wir uns, so gut es auf den harten
Stühlen ging, für die Nacht ein und hatten wenigstens das Gefühl, in mili¬
tärischer Obhut hinter festen Doppelfenstern in reinlicher Umgebung mit gutem
Gewissen als sanftem Kissen der Ruhe pflegen zu dürfen. Bevor wir jedoch
dazu übergingen, wie der militärische Ausdruck lautet, hatten wir uns, unter
Verzicht auf jeden Besuch der Stadt, über die Einrichtung und die Umgebung
des Bahnhofs orientiert und mit Genuß das schon im Hafen während der un¬
freiwilligen Muße bewunderte Bild der Alpenlandschaft in der Abendbeleuchtung
auf uns wirken lassen. Auf telephonische Anfrage hin hatte sich der liebens¬
würdige Besitzer des Hotel Richter (einer Filiale des Hotel London in Tiflis)
persönlich nach dem Bahnhof bemüht und sehr uneigennützig seine volle Billigung
ausgesprochen, daß wir gleich dahin übergesiedelt waren. Wir erfuhren von ihm
näheres und nicht gerade Vertrauen erweckendes über die Zustände im Kaukasus
und in Batna und erhielten Bescheid, daß unser in Moskau häßlicherweise von
uns versetzter Reiseteilnehmer uns sehnsüchtig in Tiflis erwarte. Trotz allen
Alarmnachrichten und trotz dem aus einer Wirtschaft herüberschallenden Lärm,
bei dem es wahrscheinlich nicht ohne einige Stiche abgegangen ist, trotz dem
halben Kriegszustande, unter dem wir uns befanden, empfanden wir unsre Lage
fast als Idylle und freuten uns, soweit gelangt zu sein. Die Bahnhofswirtschaft
lieferte sachgemäßen Borschtsch, Tee, kaukasischen Wein und Bier nach Bedarf,
jedenfalls in ausreichender Menge, daß wir die nötige Bedingung für das
improvisierte Nachtlager auf Stühlen erfüllen konnten, uns genügende Bett¬
schwere zu erwerben. Bequem war es nicht, und die mißhandelte Natur rächte
sich durch so kräftige Sägetöne ans dem Kehlkopf, daß vereinzelt erscheinende
Ratten erschreckt davoneilten.

Um vier Uhr Morgens begann sichs zu regen, denn auf etwa fünf Uhr war
die Abfahrtszeit des Zuges nach Tiflis angesetzt, ein wesentlicher Grund, daß
wir auf Hotelunterkunft in einer so unsichern Stadt verzichtet hatten. Droschken
fuhren vor, der Wartesaal füllte sich, und an der Fahrkartenausgabe sammelte
sich kaukasisches Reisepublikum. Mühevoll unter Stoßen und Drängen mußte
der Platz am Schalter erworben und verteidigt werden, aber die Unterbringung
im vorfahrenden Zuge ließ sich sachgemäß und leicht in zwei durch Klapptüren
verbundnen Coupe's erster Klasse bewirken, die bei Tage zu einem größern Raum,
unserm Bedürfnis entsprechend, umgestaltet werden konnten. Unser langer, nach


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[0524] Durch Transkaukasien Wir rollten, vorzüglich gefahren, durch die schönen breiten, saubern Straßen in kurzer Zeit zum Bahnhof. Auch in der Stadt war überall Feiertag, aber an allen Straßenecken und wichtigen Gebäuden standen Posten, einzelne Häuser waren stark mit Einquartierung belegt, und Patrouillen durchzogen die Straßen. Tot lag der Bahnhof da, war aber durch Posten an allen Ausgängen bewacht; eine Kompagnie war mit seiner Sicherung beauftragt worden. Von Gepäck¬ trägern draußen keine Spur: im Gepäckaufbewahrungsraum saßen sie und spielten Karten, eine Beschäftigung, bei der sie sich ungern stören ließen. Im hohen, luftigen, gut ventilierten Wartesaal richteten wir uns, so gut es auf den harten Stühlen ging, für die Nacht ein und hatten wenigstens das Gefühl, in mili¬ tärischer Obhut hinter festen Doppelfenstern in reinlicher Umgebung mit gutem Gewissen als sanftem Kissen der Ruhe pflegen zu dürfen. Bevor wir jedoch dazu übergingen, wie der militärische Ausdruck lautet, hatten wir uns, unter Verzicht auf jeden Besuch der Stadt, über die Einrichtung und die Umgebung des Bahnhofs orientiert und mit Genuß das schon im Hafen während der un¬ freiwilligen Muße bewunderte Bild der Alpenlandschaft in der Abendbeleuchtung auf uns wirken lassen. Auf telephonische Anfrage hin hatte sich der liebens¬ würdige Besitzer des Hotel Richter (einer Filiale des Hotel London in Tiflis) persönlich nach dem Bahnhof bemüht und sehr uneigennützig seine volle Billigung ausgesprochen, daß wir gleich dahin übergesiedelt waren. Wir erfuhren von ihm näheres und nicht gerade Vertrauen erweckendes über die Zustände im Kaukasus und in Batna und erhielten Bescheid, daß unser in Moskau häßlicherweise von uns versetzter Reiseteilnehmer uns sehnsüchtig in Tiflis erwarte. Trotz allen Alarmnachrichten und trotz dem aus einer Wirtschaft herüberschallenden Lärm, bei dem es wahrscheinlich nicht ohne einige Stiche abgegangen ist, trotz dem halben Kriegszustande, unter dem wir uns befanden, empfanden wir unsre Lage fast als Idylle und freuten uns, soweit gelangt zu sein. Die Bahnhofswirtschaft lieferte sachgemäßen Borschtsch, Tee, kaukasischen Wein und Bier nach Bedarf, jedenfalls in ausreichender Menge, daß wir die nötige Bedingung für das improvisierte Nachtlager auf Stühlen erfüllen konnten, uns genügende Bett¬ schwere zu erwerben. Bequem war es nicht, und die mißhandelte Natur rächte sich durch so kräftige Sägetöne ans dem Kehlkopf, daß vereinzelt erscheinende Ratten erschreckt davoneilten. Um vier Uhr Morgens begann sichs zu regen, denn auf etwa fünf Uhr war die Abfahrtszeit des Zuges nach Tiflis angesetzt, ein wesentlicher Grund, daß wir auf Hotelunterkunft in einer so unsichern Stadt verzichtet hatten. Droschken fuhren vor, der Wartesaal füllte sich, und an der Fahrkartenausgabe sammelte sich kaukasisches Reisepublikum. Mühevoll unter Stoßen und Drängen mußte der Platz am Schalter erworben und verteidigt werden, aber die Unterbringung im vorfahrenden Zuge ließ sich sachgemäß und leicht in zwei durch Klapptüren verbundnen Coupe's erster Klasse bewirken, die bei Tage zu einem größern Raum, unserm Bedürfnis entsprechend, umgestaltet werden konnten. Unser langer, nach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/524>, abgerufen am 23.07.2024.