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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Zur Erinnerung an Ibsen

Recht aktuell mutet uns an, was uns über einen Ausschnitt der öffentlichen
Meinung im Volksfeind gesagt wird. "Der gefährlichste Feind der Wahrheit
und Freiheit, das ist die kompakte Majorität; ja diese verfluchte kompakte . . .
Majorität, das ist unser ärgster Feind." Es sei eine landläufige Gesellschafts¬
lüge, daß die Mehrheit immer das Recht auf ihrer Seite hat und im Besitz der
Wahrheit ist. Wer denkt hierbei nicht an die bekannte Stelle in Schillers
Demetrius? Es sei falsch, meint Stockmann, daß der gemeine Mann, dieser
unser unwissender, geistig unreifer Mitbruder dasselbe Recht habe, ein Urteil
abzugeben, zu herrschen und zu regieren, wie die wenigen geistig Vornehmen
und Freien. Es sei Zeitungslüge, daß die Masse der wahre Kern des Volkes
sei, aber auch Volkslüge, daß die Kultur demoralisiere. Eine Partei sei wie
eine moralische Saugpumpe, die nach und nach Verstand und Gewissen voll¬
ständig aussauge -- daher die vielen Hohlköpfe; kein Mensch wage etwas aus
Rücksicht auf alle andern Menschen usw.

Wir wissen ja nun, daß Majoritäten notwendig und mitunter höchst
erwünscht sind, ebenso, daß ewig zwischen Majoritäten und Minoritäten Vor¬
würfe oder Verdächtigungen ausgetauscht werden. Aber dieses eine bleibt wohl
an Ibsens Schilderung der Gesellschaft bestehn, daß sie in viel höherm Grade
als früher die Tyrannei der Reputation ausübt, auch wenn es sich nicht um
tiefgreifende sittliche Fragen dabei handelt. Da das Geld Reputation gibt,
so bringt es am leichtesten Verwicklungen und Schuld; so in den Stützen der
Gesellschaft, Nora, Borkmann, zum Teil in der Wildente und im Volksfeind.
Auch im "Bund der Jugend" ist die Gesellschaft stark durch Geldangelegen¬
heiten bewegt, und eine Hauptperson, der Rechtsanwalt Steinhoff, sucht als
Lokalpolitiker und Freier sein Glück zu machen, d. h. eine angesehene Stellung
zu erringen, indem er mit verblüffender Kaleidoskopik zwischen Agnes, Hertha
und Frau Rundholm herumtaumelt. Anders steht es in Rosmersholm und
in den Gespenstern.

Die Gesellschaft übt noch eine zweite Art von Beschränkung oder Knechtung
aus. Es gibt außer der Tradition der Familie (wie in den beiden zuletzt ge¬
nannten Stücken) auch eine alte Tradition der Gesamtheit, verkörpert in
Buchstaben von Sittenformeln. Deshalb sind die Menschen durch die bloße
Tatsache, daß sie mit den andern leben, in einer Art von Unfreiheit. Oswald
Alving hat von seinem Vater ein böses Erbteil (wie in Nora Rank von seinem
Vater her krank ist, wie Peer Gynt von Natur durch die Eigenart seiner
Mutter ungünstig beeinflußt ist). Die Gespenster, die Frau Alving sieht, sind
zweierlei. Das erstemal, als Oswald und Regiue sich im Eßzimmer herum¬
jagen, wird die Mutter an eine analoge Handlung ihres Mannes erinnert:
"das Paar aus dem Blumenzimmer geht wieder um". Außerdem äußert sie
aber zu Manders: "Ich glaube beinahe, wir alle sind Gespenster. Es ist nicht
allein das, was wir von Vater und Mutter ererbt haben, das in uns umgeht.
Es sind allerhand alte, tote Ansichten und allerlei alter Glaube und dergleichen.


Zur Erinnerung an Ibsen

Recht aktuell mutet uns an, was uns über einen Ausschnitt der öffentlichen
Meinung im Volksfeind gesagt wird. „Der gefährlichste Feind der Wahrheit
und Freiheit, das ist die kompakte Majorität; ja diese verfluchte kompakte . . .
Majorität, das ist unser ärgster Feind." Es sei eine landläufige Gesellschafts¬
lüge, daß die Mehrheit immer das Recht auf ihrer Seite hat und im Besitz der
Wahrheit ist. Wer denkt hierbei nicht an die bekannte Stelle in Schillers
Demetrius? Es sei falsch, meint Stockmann, daß der gemeine Mann, dieser
unser unwissender, geistig unreifer Mitbruder dasselbe Recht habe, ein Urteil
abzugeben, zu herrschen und zu regieren, wie die wenigen geistig Vornehmen
und Freien. Es sei Zeitungslüge, daß die Masse der wahre Kern des Volkes
sei, aber auch Volkslüge, daß die Kultur demoralisiere. Eine Partei sei wie
eine moralische Saugpumpe, die nach und nach Verstand und Gewissen voll¬
ständig aussauge — daher die vielen Hohlköpfe; kein Mensch wage etwas aus
Rücksicht auf alle andern Menschen usw.

Wir wissen ja nun, daß Majoritäten notwendig und mitunter höchst
erwünscht sind, ebenso, daß ewig zwischen Majoritäten und Minoritäten Vor¬
würfe oder Verdächtigungen ausgetauscht werden. Aber dieses eine bleibt wohl
an Ibsens Schilderung der Gesellschaft bestehn, daß sie in viel höherm Grade
als früher die Tyrannei der Reputation ausübt, auch wenn es sich nicht um
tiefgreifende sittliche Fragen dabei handelt. Da das Geld Reputation gibt,
so bringt es am leichtesten Verwicklungen und Schuld; so in den Stützen der
Gesellschaft, Nora, Borkmann, zum Teil in der Wildente und im Volksfeind.
Auch im „Bund der Jugend" ist die Gesellschaft stark durch Geldangelegen¬
heiten bewegt, und eine Hauptperson, der Rechtsanwalt Steinhoff, sucht als
Lokalpolitiker und Freier sein Glück zu machen, d. h. eine angesehene Stellung
zu erringen, indem er mit verblüffender Kaleidoskopik zwischen Agnes, Hertha
und Frau Rundholm herumtaumelt. Anders steht es in Rosmersholm und
in den Gespenstern.

Die Gesellschaft übt noch eine zweite Art von Beschränkung oder Knechtung
aus. Es gibt außer der Tradition der Familie (wie in den beiden zuletzt ge¬
nannten Stücken) auch eine alte Tradition der Gesamtheit, verkörpert in
Buchstaben von Sittenformeln. Deshalb sind die Menschen durch die bloße
Tatsache, daß sie mit den andern leben, in einer Art von Unfreiheit. Oswald
Alving hat von seinem Vater ein böses Erbteil (wie in Nora Rank von seinem
Vater her krank ist, wie Peer Gynt von Natur durch die Eigenart seiner
Mutter ungünstig beeinflußt ist). Die Gespenster, die Frau Alving sieht, sind
zweierlei. Das erstemal, als Oswald und Regiue sich im Eßzimmer herum¬
jagen, wird die Mutter an eine analoge Handlung ihres Mannes erinnert:
„das Paar aus dem Blumenzimmer geht wieder um". Außerdem äußert sie
aber zu Manders: „Ich glaube beinahe, wir alle sind Gespenster. Es ist nicht
allein das, was wir von Vater und Mutter ererbt haben, das in uns umgeht.
Es sind allerhand alte, tote Ansichten und allerlei alter Glaube und dergleichen.


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[0514] Zur Erinnerung an Ibsen Recht aktuell mutet uns an, was uns über einen Ausschnitt der öffentlichen Meinung im Volksfeind gesagt wird. „Der gefährlichste Feind der Wahrheit und Freiheit, das ist die kompakte Majorität; ja diese verfluchte kompakte . . . Majorität, das ist unser ärgster Feind." Es sei eine landläufige Gesellschafts¬ lüge, daß die Mehrheit immer das Recht auf ihrer Seite hat und im Besitz der Wahrheit ist. Wer denkt hierbei nicht an die bekannte Stelle in Schillers Demetrius? Es sei falsch, meint Stockmann, daß der gemeine Mann, dieser unser unwissender, geistig unreifer Mitbruder dasselbe Recht habe, ein Urteil abzugeben, zu herrschen und zu regieren, wie die wenigen geistig Vornehmen und Freien. Es sei Zeitungslüge, daß die Masse der wahre Kern des Volkes sei, aber auch Volkslüge, daß die Kultur demoralisiere. Eine Partei sei wie eine moralische Saugpumpe, die nach und nach Verstand und Gewissen voll¬ ständig aussauge — daher die vielen Hohlköpfe; kein Mensch wage etwas aus Rücksicht auf alle andern Menschen usw. Wir wissen ja nun, daß Majoritäten notwendig und mitunter höchst erwünscht sind, ebenso, daß ewig zwischen Majoritäten und Minoritäten Vor¬ würfe oder Verdächtigungen ausgetauscht werden. Aber dieses eine bleibt wohl an Ibsens Schilderung der Gesellschaft bestehn, daß sie in viel höherm Grade als früher die Tyrannei der Reputation ausübt, auch wenn es sich nicht um tiefgreifende sittliche Fragen dabei handelt. Da das Geld Reputation gibt, so bringt es am leichtesten Verwicklungen und Schuld; so in den Stützen der Gesellschaft, Nora, Borkmann, zum Teil in der Wildente und im Volksfeind. Auch im „Bund der Jugend" ist die Gesellschaft stark durch Geldangelegen¬ heiten bewegt, und eine Hauptperson, der Rechtsanwalt Steinhoff, sucht als Lokalpolitiker und Freier sein Glück zu machen, d. h. eine angesehene Stellung zu erringen, indem er mit verblüffender Kaleidoskopik zwischen Agnes, Hertha und Frau Rundholm herumtaumelt. Anders steht es in Rosmersholm und in den Gespenstern. Die Gesellschaft übt noch eine zweite Art von Beschränkung oder Knechtung aus. Es gibt außer der Tradition der Familie (wie in den beiden zuletzt ge¬ nannten Stücken) auch eine alte Tradition der Gesamtheit, verkörpert in Buchstaben von Sittenformeln. Deshalb sind die Menschen durch die bloße Tatsache, daß sie mit den andern leben, in einer Art von Unfreiheit. Oswald Alving hat von seinem Vater ein böses Erbteil (wie in Nora Rank von seinem Vater her krank ist, wie Peer Gynt von Natur durch die Eigenart seiner Mutter ungünstig beeinflußt ist). Die Gespenster, die Frau Alving sieht, sind zweierlei. Das erstemal, als Oswald und Regiue sich im Eßzimmer herum¬ jagen, wird die Mutter an eine analoge Handlung ihres Mannes erinnert: „das Paar aus dem Blumenzimmer geht wieder um". Außerdem äußert sie aber zu Manders: „Ich glaube beinahe, wir alle sind Gespenster. Es ist nicht allein das, was wir von Vater und Mutter ererbt haben, das in uns umgeht. Es sind allerhand alte, tote Ansichten und allerlei alter Glaube und dergleichen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/514>, abgerufen am 23.07.2024.