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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Das neue Exerzierreglement für die Infanterie

sei keines -- uns erscheint bei dem Heere von Roßbach und Leuthen dieses
Urteil zu hart und pessimistisch --, so ist bei den Armeen der allgemeinen
Wehrpflicht das Ehr- und Pflichtgefühl jedes einzelnen Mannes die wichtigste
und letzte Stütze für den Erfolg. Als vor einigen Jahrzehnten die Fragen
der neuen Bewaffnung und der neuen Kriegsweise in der militärischen Welt
lebhaft besprochen wurden, erschien unter dem Titel: "Drill oder Erziehung"
eine Schrift eines hohen österreichischen Offiziers, in der die Frage erörtert
wurde, ob es nicht an der Zeit sei, an Stelle des seither beliebten Drills eine
mehr individuelle Erziehung des Soldaten treten zu lassen. Kaiser Wilhelm
der Erste, dem die Schrift auch vorgelegt wurde, kritisierte sie in seiner feinen
ruhigen Weise, indem er die Feder nahm, auf dem Titel das Wörtchen "oder"
aufstrich und "und" dafür hinschrieb. So wollte er es in seiner Armee ge¬
halten haben, und so ist auch der einzige Weg, auf dem sich die hohen, ge¬
waltig hohen Ziele erreichen lassen, die das neue Reglement der Armee gesteckt
hat. Denn die Erziehung zur Selbsttätigkeit, zum guten Willen ist immer
wichtiger geworden, je weniger weit der unmittelbare Einfluß des Offiziers im
Gefecht reicht. Sie ist aber auch schwerer geworden. Und hier kann sich keiner,
der es mit der Zukunft unsers Vaterlandes ernst meint, der Sorge erwehren.
Unser Offizierkorps steht gewiß noch auf der Höhe trotz allem, was darüber
geredet und geschrieben worden ist, aber das Material, das es zur Hingebung
an das Vaterland und zum Willen zum Siege erziehen soll, bringt leider mehr
und mehr einen Geist mit, der von vornherein nicht geneigt ist, sich der er¬
ziehenden Arbeit der Armee willig zu unterwerfen. Die sozialdemokratische
Hetzarbeit tut ihre Wirkung und leider ziemlich ungestört. Es gibt Leute, die
für jeden nur ein überlegnes Lächeln haben, der von einer sozialdemokratischen
Gefahr redet. Unser Heer sei durch und durch gesund. Gott sei Dank ist das
buchstäblich wahr. Es ist auch kein Wunder, daß es der Sozialdemokratie
nicht gelungen ist, im Heere zu revolutionieren. Zur Unzufriedenheit hat der
Soldat ja auch nicht die mindeste Veranlassung. Er braucht für nichts zu
sorgen: er erhält Wohnung, Kleidung, Nahrung, für seine Gesundheit wird
gewissenhaft gesorgt, seine Behandlung ist zwar streng, aber äußerst wohl¬
wollend trotz der paar Mißhandlungsfälle, die der Reichstag mit breitem Be¬
hagen erörtert. Über die Strapazen des Dienstes helfen ihm die jederzeit
mögliche Aussprache mit den Kameraden und die Scheu, sich vor diesen zu
blamieren, hinweg. Weshalb sollte er unzufrieden sein?

Aber man täusche sich nicht. Diese Leute sind vor ihrer Einstellung
großenteils durch eine Schule gegangen, in der ihnen systematisch der Glaube
an alle Ideale, an Gott und Vaterland genommen worden ist, in der ihnen
der Geistliche und der Lehrer als Narr oder Betrüger, der Offizier als alberner
Menschenschinder in eindringlichsten Farben hingemalt worden sind. Gewiß
schwinden bei den meisten in der frischen Lust des Dienstes im aktiven Heere
diese Eindrücke wieder, und das Vertrauen ist berechtigt, daß das Heer seine


Das neue Exerzierreglement für die Infanterie

sei keines — uns erscheint bei dem Heere von Roßbach und Leuthen dieses
Urteil zu hart und pessimistisch —, so ist bei den Armeen der allgemeinen
Wehrpflicht das Ehr- und Pflichtgefühl jedes einzelnen Mannes die wichtigste
und letzte Stütze für den Erfolg. Als vor einigen Jahrzehnten die Fragen
der neuen Bewaffnung und der neuen Kriegsweise in der militärischen Welt
lebhaft besprochen wurden, erschien unter dem Titel: „Drill oder Erziehung"
eine Schrift eines hohen österreichischen Offiziers, in der die Frage erörtert
wurde, ob es nicht an der Zeit sei, an Stelle des seither beliebten Drills eine
mehr individuelle Erziehung des Soldaten treten zu lassen. Kaiser Wilhelm
der Erste, dem die Schrift auch vorgelegt wurde, kritisierte sie in seiner feinen
ruhigen Weise, indem er die Feder nahm, auf dem Titel das Wörtchen „oder"
aufstrich und „und" dafür hinschrieb. So wollte er es in seiner Armee ge¬
halten haben, und so ist auch der einzige Weg, auf dem sich die hohen, ge¬
waltig hohen Ziele erreichen lassen, die das neue Reglement der Armee gesteckt
hat. Denn die Erziehung zur Selbsttätigkeit, zum guten Willen ist immer
wichtiger geworden, je weniger weit der unmittelbare Einfluß des Offiziers im
Gefecht reicht. Sie ist aber auch schwerer geworden. Und hier kann sich keiner,
der es mit der Zukunft unsers Vaterlandes ernst meint, der Sorge erwehren.
Unser Offizierkorps steht gewiß noch auf der Höhe trotz allem, was darüber
geredet und geschrieben worden ist, aber das Material, das es zur Hingebung
an das Vaterland und zum Willen zum Siege erziehen soll, bringt leider mehr
und mehr einen Geist mit, der von vornherein nicht geneigt ist, sich der er¬
ziehenden Arbeit der Armee willig zu unterwerfen. Die sozialdemokratische
Hetzarbeit tut ihre Wirkung und leider ziemlich ungestört. Es gibt Leute, die
für jeden nur ein überlegnes Lächeln haben, der von einer sozialdemokratischen
Gefahr redet. Unser Heer sei durch und durch gesund. Gott sei Dank ist das
buchstäblich wahr. Es ist auch kein Wunder, daß es der Sozialdemokratie
nicht gelungen ist, im Heere zu revolutionieren. Zur Unzufriedenheit hat der
Soldat ja auch nicht die mindeste Veranlassung. Er braucht für nichts zu
sorgen: er erhält Wohnung, Kleidung, Nahrung, für seine Gesundheit wird
gewissenhaft gesorgt, seine Behandlung ist zwar streng, aber äußerst wohl¬
wollend trotz der paar Mißhandlungsfälle, die der Reichstag mit breitem Be¬
hagen erörtert. Über die Strapazen des Dienstes helfen ihm die jederzeit
mögliche Aussprache mit den Kameraden und die Scheu, sich vor diesen zu
blamieren, hinweg. Weshalb sollte er unzufrieden sein?

Aber man täusche sich nicht. Diese Leute sind vor ihrer Einstellung
großenteils durch eine Schule gegangen, in der ihnen systematisch der Glaube
an alle Ideale, an Gott und Vaterland genommen worden ist, in der ihnen
der Geistliche und der Lehrer als Narr oder Betrüger, der Offizier als alberner
Menschenschinder in eindringlichsten Farben hingemalt worden sind. Gewiß
schwinden bei den meisten in der frischen Lust des Dienstes im aktiven Heere
diese Eindrücke wieder, und das Vertrauen ist berechtigt, daß das Heer seine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/504>, abgerufen am 23.07.2024.