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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Das neue Exerzierreglement für die Infanterie

Grundsätze des Reglements von 1888 nirgends verlassen worden sind. Wer also
glaubt, daß an die Stelle der altbewährten Straffheit eine mehr legere Aus¬
bildung treten werde, wird sich getäuscht sehen. Allerdings wird das schul-
mäßige geschlossene Exerzieren bedeutend eingeschränkt zugunsten der Ausbildung
in der geöffneten Ordnung. Die Exerzierschule findet endgiltig ihren Abschluß
in der Kompagnie. Der Bataillonskommandeur führt sein Bataillon durch
Befehle an die Kompagnieführer. Nur ausnahmsweise kann er das Bataillon
einheitlich unter sein Kommando nehmen. Die Exerzierformationen der Kompagnie
sind in viel höherm Maße als früher dem Bedürfnisse des Gefechtsfeldes an¬
gepaßt: sie sind elastischer geworden, Abstände und Zwischenräume sollen immer
dem Gelände angepaßt werden, alle Formationen bieten die Möglichkeit raschen
Drehens und Entwickelns in jede mögliche Front. Die schulmäßige Ausbildung
des Schützen ist eingehend behandelt. Nur bei der allersorgfältigsten Einzel¬
ausbildung kann es gelingen, den selbsthandelnden Schützen heranzubilden, den
das moderne Gefecht verlangt. Darum sind hier alle Künsteleien vermieden
worden, überall wird die Sache, der zu erreichende Zweck, über die Form gestellt.

Der zweite Teil des Reglements, "das Gefecht", lehrt die Anwendung der
im ersten Teile "der Schule" gelernten Formen. Da im Gefecht die Infanterie
Zwar die Hauptwaffe ist, aber in der Regel in Verbindung mit den andern
Waffen handelt, so geht der zweite Teil des Reglements über die ausschließliche
Behandlung des Jnfanteriegefechts weit hinaus. Er gibt Anweisungen für die
verschiednen Arten der Gefechte, für die verschiedensten möglichen Lagen, ohne
die Entschlußfreiheit des Führers einzuengen. Was auf den 54 kleinen Oktav¬
seiten dieses Teiles gesagt ist, ist in seiner Knappheit und Klarheit schlechtweg
mustergiltig, es sind keine blassen theoretischen Abhandlungen, sondern kurze
scharfe Grundsätze, die wohl oftmals als Binsenwahrheiten erscheinen könnten,
aber doch keine sind, denn sie sollen dem Offizier und dem Soldaten völlig
zum geistigen Eigentum werden und sollen ihm eine Stütze bieten, damit er unter
dem Drucke der schwierigsten Lagen, die auf einem Menschen lasten können,
einen einfachen klaren Entschluß fassen und danach handeln kann. Alles
Schematisieren wird verworfen und bei jeder Gelegenheit das verautwortungs-
sreudige Handeln betont, aber auch in die richtigen Grenzen gewiesen. An
einer Stelle heißt es: "Die Selbständigkeit der Unterführer darf nicht zur
Willkür werden", an einer andern: "Die Verantwortungsfreudigkeit wäre falsch
verstanden, wenn sie darin gesucht würde, eigenmächtige Entschlüsse ohne Rücksicht
auf das Ganze zu fassen oder gegebne Befehle nicht peinlich zu befolgen und
ein Vesserwissen an die Stelle des Gehorsams treten zu lassen", und etwas
weiter: "Alle Führer müssen sich bewußt bleiben und ihren Untergebnen ein¬
prägen, daß Unterlassen und Versäumnis eine schwerere Belastung bilden als
Fehlgreifen in der Wahl der Mittel."

Der Krieg verlangt Männer, und wenn Friedrich der Große auf dem
Standpunkte stehn konnte, nur der Offizier habe Ehrgefühl, ber der o^Nils


Das neue Exerzierreglement für die Infanterie

Grundsätze des Reglements von 1888 nirgends verlassen worden sind. Wer also
glaubt, daß an die Stelle der altbewährten Straffheit eine mehr legere Aus¬
bildung treten werde, wird sich getäuscht sehen. Allerdings wird das schul-
mäßige geschlossene Exerzieren bedeutend eingeschränkt zugunsten der Ausbildung
in der geöffneten Ordnung. Die Exerzierschule findet endgiltig ihren Abschluß
in der Kompagnie. Der Bataillonskommandeur führt sein Bataillon durch
Befehle an die Kompagnieführer. Nur ausnahmsweise kann er das Bataillon
einheitlich unter sein Kommando nehmen. Die Exerzierformationen der Kompagnie
sind in viel höherm Maße als früher dem Bedürfnisse des Gefechtsfeldes an¬
gepaßt: sie sind elastischer geworden, Abstände und Zwischenräume sollen immer
dem Gelände angepaßt werden, alle Formationen bieten die Möglichkeit raschen
Drehens und Entwickelns in jede mögliche Front. Die schulmäßige Ausbildung
des Schützen ist eingehend behandelt. Nur bei der allersorgfältigsten Einzel¬
ausbildung kann es gelingen, den selbsthandelnden Schützen heranzubilden, den
das moderne Gefecht verlangt. Darum sind hier alle Künsteleien vermieden
worden, überall wird die Sache, der zu erreichende Zweck, über die Form gestellt.

Der zweite Teil des Reglements, „das Gefecht", lehrt die Anwendung der
im ersten Teile „der Schule" gelernten Formen. Da im Gefecht die Infanterie
Zwar die Hauptwaffe ist, aber in der Regel in Verbindung mit den andern
Waffen handelt, so geht der zweite Teil des Reglements über die ausschließliche
Behandlung des Jnfanteriegefechts weit hinaus. Er gibt Anweisungen für die
verschiednen Arten der Gefechte, für die verschiedensten möglichen Lagen, ohne
die Entschlußfreiheit des Führers einzuengen. Was auf den 54 kleinen Oktav¬
seiten dieses Teiles gesagt ist, ist in seiner Knappheit und Klarheit schlechtweg
mustergiltig, es sind keine blassen theoretischen Abhandlungen, sondern kurze
scharfe Grundsätze, die wohl oftmals als Binsenwahrheiten erscheinen könnten,
aber doch keine sind, denn sie sollen dem Offizier und dem Soldaten völlig
zum geistigen Eigentum werden und sollen ihm eine Stütze bieten, damit er unter
dem Drucke der schwierigsten Lagen, die auf einem Menschen lasten können,
einen einfachen klaren Entschluß fassen und danach handeln kann. Alles
Schematisieren wird verworfen und bei jeder Gelegenheit das verautwortungs-
sreudige Handeln betont, aber auch in die richtigen Grenzen gewiesen. An
einer Stelle heißt es: „Die Selbständigkeit der Unterführer darf nicht zur
Willkür werden", an einer andern: „Die Verantwortungsfreudigkeit wäre falsch
verstanden, wenn sie darin gesucht würde, eigenmächtige Entschlüsse ohne Rücksicht
auf das Ganze zu fassen oder gegebne Befehle nicht peinlich zu befolgen und
ein Vesserwissen an die Stelle des Gehorsams treten zu lassen", und etwas
weiter: „Alle Führer müssen sich bewußt bleiben und ihren Untergebnen ein¬
prägen, daß Unterlassen und Versäumnis eine schwerere Belastung bilden als
Fehlgreifen in der Wahl der Mittel."

Der Krieg verlangt Männer, und wenn Friedrich der Große auf dem
Standpunkte stehn konnte, nur der Offizier habe Ehrgefühl, ber der o^Nils


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/503>, abgerufen am 28.12.2024.