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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

besitzen, von denen deutsche Eisenbahnunternehmungen ausgehen könnten. Zu einer
Einmischung würde uns mithin jeder Rechtstitel gefehlt haben. Bei neuen Unter¬
nehmungen, die der Negus im Innern des Landes etwa früher oder später kon¬
zessionieren sollte, steht den Deutschen auf Grund unsers Vertrages, der, wie gesagt,
älter ist als jenes Eiseubahuabkommeu, der Wettbewerb durchaus frei. Aber es ist
unrichtig und den legitimen deutschen Interessen nicht nützlich, das an der großen
Welthandelsstraße liegende Marokko, mit dem wir langjährige vertragsmäßige Be¬
ziehungen haben, ohne weiteres mit dem vom Meere durch fremde Gebiete abge¬
schlossenen Abessinien zu vergleichen. Einstweilen bleibt abzuwarten, wie sich das
deutsche Kapital, der deutsche Handel und die deutsche Industrie den neuen
Vertrag zunutze machen werden. Von dieser Betätigung hängt der deutsche Ein¬
fluß in Abessinien ab. Mit dem diplomatischen Einfluß ist es, zumal in einem
nicht benachbarten und nicht unmittelbar erreichbaren, halbkultivierten Lande nicht
getan, hier heißt es: zeigt, was ihr könnt! Von dieser Leistungsfähigkeit wird'
der Glaube an Deutschlands Bedeutung wesentlich abhängen. Abessinien steht erst
in den Anfängen der Erschließung. Von dem deutschen Unternehmungsgeist wird
es abhängen, welchen Anteil Deutschland daran zu nehmen berufen ist. Der Weg
ist frei.

Bei dem jüngst in der Umgebung von Kiel abgehaltnen Landnngsmanöver
hat es sich selbstverständlich nicht darum gehandelt, den Landnngscibteiluugen der'
Flotte und ihren Führern ein Vergnügen, eine Abwechslung vom Einerlei des
Borddienstes zu gewähren, sondern der Zweck war, zu erproben, ob von Eckern¬
förde aus ein Angriff dort gelandeter Truppen gegen Kiel oder ein Handstreich
gegen den Kanal und die Levensauer Brücke ausführbar sei, wenn anders die
Besatzungstruppen in Kiel und am Kanal auf dem Posten sind. Nach dem Er¬
gebnis der Übung ist die Frage rundweg zu verneinen. Richtiger wäre es ja
vielleicht gewesen, den Angriff mit Truppen der Armee zu unternehmen. Aber
hätte man diese wirklich erst landen lassen wollen, so war die Charterung von
Transportschiffen notwendig, die mit bedeutenden Kosten verknüpft gewesen wäre;
ein Verzicht auf Transport und Landung hätte ein unvollständiges Bild geliefert.
Die verunglückte Expedition Seymours gegen Peking, die bekanntlich auch von
Landungsabteiluugen der Kriegsschiffe verschiedner Nationen unternommen wurde,
und bei der Admiral Seymour auf dem schwierigen Rückzüge die Deutschen an
die Spitze rief, mag manchem Seeoffizier dabei in die Erinnerung gekommen sein.
Jene Expedition hat bewiesen, daß den Landungskorps der Marine auch recht
schwierige Unternehmungen größern Stils in das Innere zufallen können. Der
Angriff auf Kiel war somit auch eine Übung in dieser Richtung. Der Zufall
fügte es, daß der Führer, Admiral von Holtzendorff, seinerzeit in China designierter
Führer der Landungsabteilungen der Brandenburg-Division war, die aber nicht in
Aktion getreten sind.

Die Neue Zürcher Zeitung, bekanntlich ein angesehenes und für Deutschland
freundlich gesinntes Blatt, hat sich neuerdings einen zweiten Berliner Berichterstatter
Zugelegt, der die schon einmal an dieser Stelle gerügte knabenhafte Darstellung des
Deutschen Boten von neuem aufwärmt, daß der Kaiser seine Äußerungen in Ham¬
burg über die welfische Intrigue im Reichstage, beim Scheitern des Kolonialamts,
einer Mitteilung der Grenzboten entnommen habe, die zum Zweck der Reinwaschung
des Zentrums erfunden worden sei, um "auf diesem Wege mit Erfolg dem Kaiser
diesen Zusammenhang plausibel zu machen". Die ganze Leistung des Korrespon¬
denten ist so auffallend unreif und ohne jede Kenntnis der wirklichen Verhältnisse
geschrieben, daß es nur bedauert werden kann, wenn ein angesehenes Schweizer


Grenzboten III 1906 ^
Maßgebliches und Unmaßgebliches

besitzen, von denen deutsche Eisenbahnunternehmungen ausgehen könnten. Zu einer
Einmischung würde uns mithin jeder Rechtstitel gefehlt haben. Bei neuen Unter¬
nehmungen, die der Negus im Innern des Landes etwa früher oder später kon¬
zessionieren sollte, steht den Deutschen auf Grund unsers Vertrages, der, wie gesagt,
älter ist als jenes Eiseubahuabkommeu, der Wettbewerb durchaus frei. Aber es ist
unrichtig und den legitimen deutschen Interessen nicht nützlich, das an der großen
Welthandelsstraße liegende Marokko, mit dem wir langjährige vertragsmäßige Be¬
ziehungen haben, ohne weiteres mit dem vom Meere durch fremde Gebiete abge¬
schlossenen Abessinien zu vergleichen. Einstweilen bleibt abzuwarten, wie sich das
deutsche Kapital, der deutsche Handel und die deutsche Industrie den neuen
Vertrag zunutze machen werden. Von dieser Betätigung hängt der deutsche Ein¬
fluß in Abessinien ab. Mit dem diplomatischen Einfluß ist es, zumal in einem
nicht benachbarten und nicht unmittelbar erreichbaren, halbkultivierten Lande nicht
getan, hier heißt es: zeigt, was ihr könnt! Von dieser Leistungsfähigkeit wird'
der Glaube an Deutschlands Bedeutung wesentlich abhängen. Abessinien steht erst
in den Anfängen der Erschließung. Von dem deutschen Unternehmungsgeist wird
es abhängen, welchen Anteil Deutschland daran zu nehmen berufen ist. Der Weg
ist frei.

Bei dem jüngst in der Umgebung von Kiel abgehaltnen Landnngsmanöver
hat es sich selbstverständlich nicht darum gehandelt, den Landnngscibteiluugen der'
Flotte und ihren Führern ein Vergnügen, eine Abwechslung vom Einerlei des
Borddienstes zu gewähren, sondern der Zweck war, zu erproben, ob von Eckern¬
förde aus ein Angriff dort gelandeter Truppen gegen Kiel oder ein Handstreich
gegen den Kanal und die Levensauer Brücke ausführbar sei, wenn anders die
Besatzungstruppen in Kiel und am Kanal auf dem Posten sind. Nach dem Er¬
gebnis der Übung ist die Frage rundweg zu verneinen. Richtiger wäre es ja
vielleicht gewesen, den Angriff mit Truppen der Armee zu unternehmen. Aber
hätte man diese wirklich erst landen lassen wollen, so war die Charterung von
Transportschiffen notwendig, die mit bedeutenden Kosten verknüpft gewesen wäre;
ein Verzicht auf Transport und Landung hätte ein unvollständiges Bild geliefert.
Die verunglückte Expedition Seymours gegen Peking, die bekanntlich auch von
Landungsabteiluugen der Kriegsschiffe verschiedner Nationen unternommen wurde,
und bei der Admiral Seymour auf dem schwierigen Rückzüge die Deutschen an
die Spitze rief, mag manchem Seeoffizier dabei in die Erinnerung gekommen sein.
Jene Expedition hat bewiesen, daß den Landungskorps der Marine auch recht
schwierige Unternehmungen größern Stils in das Innere zufallen können. Der
Angriff auf Kiel war somit auch eine Übung in dieser Richtung. Der Zufall
fügte es, daß der Führer, Admiral von Holtzendorff, seinerzeit in China designierter
Führer der Landungsabteilungen der Brandenburg-Division war, die aber nicht in
Aktion getreten sind.

Die Neue Zürcher Zeitung, bekanntlich ein angesehenes und für Deutschland
freundlich gesinntes Blatt, hat sich neuerdings einen zweiten Berliner Berichterstatter
Zugelegt, der die schon einmal an dieser Stelle gerügte knabenhafte Darstellung des
Deutschen Boten von neuem aufwärmt, daß der Kaiser seine Äußerungen in Ham¬
burg über die welfische Intrigue im Reichstage, beim Scheitern des Kolonialamts,
einer Mitteilung der Grenzboten entnommen habe, die zum Zweck der Reinwaschung
des Zentrums erfunden worden sei, um „auf diesem Wege mit Erfolg dem Kaiser
diesen Zusammenhang plausibel zu machen". Die ganze Leistung des Korrespon¬
denten ist so auffallend unreif und ohne jede Kenntnis der wirklichen Verhältnisse
geschrieben, daß es nur bedauert werden kann, wenn ein angesehenes Schweizer


Grenzboten III 1906 ^
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/493>, abgerufen am 28.12.2024.