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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Lcindschastsdilder von der Aüste Norwegens

Vorfahren begrüßten wir mit vollen Bechern das Tagesgestirn am Wendepunkt
seines Laufs, nachher aber kam auch der moderne Mensch zu seinem Recht.
In dem Augenblick, wo die Kanone des Schiffs die zwölfte Stunde ankündigte,
schnappte auch der Drücker an dem Kasten des Photographen, und die Mitter¬
nachtssonne hatte ihre Schuldigkeit getan.

Wir warteten so lauge, bis die Sonne wieder zu steigen schien, dann traten
wir den Rückgang um über die sterile, mit glänzenden und im Sonnenlicht
blinkenden Kristallen besäte Hochfläche, bei einer Beleuchtung, wie sie im Hoch¬
gebirge einem heißen Tage vorcmszugehu pflegt.

Noch einmal sollten wir die Mitternachtssonne sehen, ebenfalls großartig,
aber ganz anders als vom Nordkap aus. Es war am Abend des folgenden
Tages, als wir aus dem Lyngenfjord wieder dem offnen Meere zustrebten. Die
Szenerie war die des obern Engadins, prächtige wilde Bergketten rechts und
links, alle mit Schnee und Eis gekrönt, dazwischen tiefe Einschnitte mit weit
herabhangenden Gletscherzungen. Am Himmel jagten schwarze Wolken, nur
gegen Norden war der Horizont frei, und als zur richtigen Zeit das Schiff
aus der Enge des Fjords herauskam, strahlte die tiefstehende Sonne in das
Düster hinein, so recht wie wir uns mit unsrer festgewurzelten Vorstellung
von Tag und Nacht die Mitternachtssonne denken.

Jeder halbwegs zufriedne Mitternachtssonnenreisende Hütte nach so viel
Wetterglück eigentlich hoch befriedigt sein sollen; obgleich ich im allgemeinen
nun nicht zu den ganz undankbaren Geistern gehöre, kann ich doch nicht ver¬
hehlen, daß ich gerade das, was ich vor allem gern gesehen hätte, nicht zu
sehen bekommen habe: ich hätte gern einmal im Leben die himmelumwandelnde
Sonne einen vollen Kreis um meine Wenigkeit beschreiben lassen mögen, die
Tatsache ihres Rundgangs und ihres Nichtuntergehns Hütte ich gern als ein¬
facher Naturmensch mit den Augen verfolgt, statt sie mit Uhr oder Kompaß
und logischem Rüstzeug erschließen zu müssen. Für solche sonderbare Heiligen
sind die eiligen Touristenfahrten nun nicht zugeschnitten, und es wird schon
noch einige Zeit dauern, bis auf dem Nordkap statt des einfachen Champagner¬
pavillons ein Hotel ersteht, von dem aus man solchen Grillen nachgehn kann.

Vielleicht war es übrigens besser so, daß dieses Haus noch nicht steht,
denn sonst hätte dem Uhrenverächter am Ende noch das Schicksal jenes fran¬
zösischen Hahnes geblüht, der, im Lande der Mitternachtssonne mit der Zeit¬
einteilung aus Rand und Band gekommen, sich zuletzt aus Verzweiflung in
das Meer stürzte, wie uns Graf Zeppelin in seiner Spitzbergenfahrt gar
launig erzählt.




Lcindschastsdilder von der Aüste Norwegens

Vorfahren begrüßten wir mit vollen Bechern das Tagesgestirn am Wendepunkt
seines Laufs, nachher aber kam auch der moderne Mensch zu seinem Recht.
In dem Augenblick, wo die Kanone des Schiffs die zwölfte Stunde ankündigte,
schnappte auch der Drücker an dem Kasten des Photographen, und die Mitter¬
nachtssonne hatte ihre Schuldigkeit getan.

Wir warteten so lauge, bis die Sonne wieder zu steigen schien, dann traten
wir den Rückgang um über die sterile, mit glänzenden und im Sonnenlicht
blinkenden Kristallen besäte Hochfläche, bei einer Beleuchtung, wie sie im Hoch¬
gebirge einem heißen Tage vorcmszugehu pflegt.

Noch einmal sollten wir die Mitternachtssonne sehen, ebenfalls großartig,
aber ganz anders als vom Nordkap aus. Es war am Abend des folgenden
Tages, als wir aus dem Lyngenfjord wieder dem offnen Meere zustrebten. Die
Szenerie war die des obern Engadins, prächtige wilde Bergketten rechts und
links, alle mit Schnee und Eis gekrönt, dazwischen tiefe Einschnitte mit weit
herabhangenden Gletscherzungen. Am Himmel jagten schwarze Wolken, nur
gegen Norden war der Horizont frei, und als zur richtigen Zeit das Schiff
aus der Enge des Fjords herauskam, strahlte die tiefstehende Sonne in das
Düster hinein, so recht wie wir uns mit unsrer festgewurzelten Vorstellung
von Tag und Nacht die Mitternachtssonne denken.

Jeder halbwegs zufriedne Mitternachtssonnenreisende Hütte nach so viel
Wetterglück eigentlich hoch befriedigt sein sollen; obgleich ich im allgemeinen
nun nicht zu den ganz undankbaren Geistern gehöre, kann ich doch nicht ver¬
hehlen, daß ich gerade das, was ich vor allem gern gesehen hätte, nicht zu
sehen bekommen habe: ich hätte gern einmal im Leben die himmelumwandelnde
Sonne einen vollen Kreis um meine Wenigkeit beschreiben lassen mögen, die
Tatsache ihres Rundgangs und ihres Nichtuntergehns Hütte ich gern als ein¬
facher Naturmensch mit den Augen verfolgt, statt sie mit Uhr oder Kompaß
und logischem Rüstzeug erschließen zu müssen. Für solche sonderbare Heiligen
sind die eiligen Touristenfahrten nun nicht zugeschnitten, und es wird schon
noch einige Zeit dauern, bis auf dem Nordkap statt des einfachen Champagner¬
pavillons ein Hotel ersteht, von dem aus man solchen Grillen nachgehn kann.

Vielleicht war es übrigens besser so, daß dieses Haus noch nicht steht,
denn sonst hätte dem Uhrenverächter am Ende noch das Schicksal jenes fran¬
zösischen Hahnes geblüht, der, im Lande der Mitternachtssonne mit der Zeit¬
einteilung aus Rand und Band gekommen, sich zuletzt aus Verzweiflung in
das Meer stürzte, wie uns Graf Zeppelin in seiner Spitzbergenfahrt gar
launig erzählt.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/482>, abgerufen am 23.07.2024.