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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments

beiden steht etwas davon, daß die Mehrheit der Volksvertretung oder gar
die stärkste Partei im Land- oder Reichstage regieren soll. Sondern nach
Paragraph 45 der preußischen Verfassung ernennt und entläßt der König die
Minister, nach den Artikeln 15 und 18 der Reichsverfassung ernennt der
Kaiser den Reichskanzler und die übrigen Reichsbeamten. Und um noch ein¬
mal auf Frankreich zurückzukommen, so hat bei der Kammereröffnung am
1. Juni der Alterspräsident Passy seine warnende Stimme erhoben: die Mehr¬
heit solle nicht vergessen, daß sie nicht das ganze Land vertrete; die Abge¬
ordneten hätten nicht zu regieren. Es entsteht also die Frage, wer dann
eigentlich regieren soll. Ohne Zweifel bezieht sich darauf die Bemerkung
Passys, die Verfassung von 1875 habe Lücken, den Gesetzgebern werde darin
eine zu große Gewalt eingeräumt.

In England also ist bis jetzt das Ringen der Parteien ein Spiel ge¬
blieben -- Redlich macht sich das von Balfour gebrauchte Bild zu eigen --,
und die Geschäftsordnung sorgt dafür, daß es lÄr bleibt. Ob die
Anpassungsfähigkeit der englischen Verfassung und des Parlaments nicht
gerade in diesem Augenblick an ihrer Grenze angelangt ist. ob sich nicht die
Arbeiter, die jetzt eine größere Zahl eigner Vertreter ins Unterhaus schicken,
neben den Iren zu einer zweiten Partei nach kontinentalem Muster entwickeln
und dem schönen Spiel ein Ende machen werden, das muß ja die nächste
Zukunft lehren. Im neunzehnten Jahrhundert hat sich die Anpassungsfähig¬
keit des Unterhauses noch stark genug erwiesen, nicht allein durch Umge¬
staltung des Wahlrechts, der Regierung und Verwaltung den ungeheuern An¬
forderungen zu genügen, die das neue England an seine Leiter stellt, mit
seinen 40 Millionen Bewohnern, seiner gewaltigen Industrie, seinem Weltreich,
sondern sich auch selbst gut zu regieren, sich die zur Erfüllung seiner großen
und schwierigen Aufgaben geeignete Verfassung zu geben in einer Geschäfts¬
ordnung, die zwar, wie schon bemerkt wurde, auch so noch keine auf ein
Niedersitzen abgefaßte Geschäftsordnung ist gleich der unsrer kontinentalen
Parlamente, aber doch auch nicht mehr bloßes Gewohnheitsrecht, sondern ein
im uralten Gewohnheitsrecht wurzelndes neu geschaffnes Statuts I.g.v. Es
besteht aus einzelnen Orders, die zwar durch besondre Anlässe hervorgerufen
worden sind, die aber in ihrer Gesamtheit eine planmüßige Reform ausmachen.
Diese Regeln für das Verfahren des Unterhauses, für die Erledigung seiner
Geschäfte darzustellen, hat Redlich in seinem Werke unternommen, und seine
Darstellung eröffnet den tiefsten Einblick in das Wesen des Uvuss ok vomiuovs
und damit zugleich des Staates, dessen Herz es ist.




Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments

beiden steht etwas davon, daß die Mehrheit der Volksvertretung oder gar
die stärkste Partei im Land- oder Reichstage regieren soll. Sondern nach
Paragraph 45 der preußischen Verfassung ernennt und entläßt der König die
Minister, nach den Artikeln 15 und 18 der Reichsverfassung ernennt der
Kaiser den Reichskanzler und die übrigen Reichsbeamten. Und um noch ein¬
mal auf Frankreich zurückzukommen, so hat bei der Kammereröffnung am
1. Juni der Alterspräsident Passy seine warnende Stimme erhoben: die Mehr¬
heit solle nicht vergessen, daß sie nicht das ganze Land vertrete; die Abge¬
ordneten hätten nicht zu regieren. Es entsteht also die Frage, wer dann
eigentlich regieren soll. Ohne Zweifel bezieht sich darauf die Bemerkung
Passys, die Verfassung von 1875 habe Lücken, den Gesetzgebern werde darin
eine zu große Gewalt eingeräumt.

In England also ist bis jetzt das Ringen der Parteien ein Spiel ge¬
blieben — Redlich macht sich das von Balfour gebrauchte Bild zu eigen —,
und die Geschäftsordnung sorgt dafür, daß es lÄr bleibt. Ob die
Anpassungsfähigkeit der englischen Verfassung und des Parlaments nicht
gerade in diesem Augenblick an ihrer Grenze angelangt ist. ob sich nicht die
Arbeiter, die jetzt eine größere Zahl eigner Vertreter ins Unterhaus schicken,
neben den Iren zu einer zweiten Partei nach kontinentalem Muster entwickeln
und dem schönen Spiel ein Ende machen werden, das muß ja die nächste
Zukunft lehren. Im neunzehnten Jahrhundert hat sich die Anpassungsfähig¬
keit des Unterhauses noch stark genug erwiesen, nicht allein durch Umge¬
staltung des Wahlrechts, der Regierung und Verwaltung den ungeheuern An¬
forderungen zu genügen, die das neue England an seine Leiter stellt, mit
seinen 40 Millionen Bewohnern, seiner gewaltigen Industrie, seinem Weltreich,
sondern sich auch selbst gut zu regieren, sich die zur Erfüllung seiner großen
und schwierigen Aufgaben geeignete Verfassung zu geben in einer Geschäfts¬
ordnung, die zwar, wie schon bemerkt wurde, auch so noch keine auf ein
Niedersitzen abgefaßte Geschäftsordnung ist gleich der unsrer kontinentalen
Parlamente, aber doch auch nicht mehr bloßes Gewohnheitsrecht, sondern ein
im uralten Gewohnheitsrecht wurzelndes neu geschaffnes Statuts I.g.v. Es
besteht aus einzelnen Orders, die zwar durch besondre Anlässe hervorgerufen
worden sind, die aber in ihrer Gesamtheit eine planmüßige Reform ausmachen.
Diese Regeln für das Verfahren des Unterhauses, für die Erledigung seiner
Geschäfte darzustellen, hat Redlich in seinem Werke unternommen, und seine
Darstellung eröffnet den tiefsten Einblick in das Wesen des Uvuss ok vomiuovs
und damit zugleich des Staates, dessen Herz es ist.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/467>, abgerufen am 23.07.2024.