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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die magyarische Unabhängigkeitsbewegung und der österreichische Reichsgedanke

noch für längere Zeit in wirtschaftlicher Beziehung der österreichischen Stütze
bedarf, und darum will man in Pest bis auf weiteres die Gemeinsamkeit mit
Österreich vorläufig in allen Punkten aufrechterhalten, wo sie für Ungarn von
Vorteil ist. So soll einerseits die gemeinsame Armee vollständig getrennt
werden, die Bestreitung ihrer Kosten jedoch eine gemeinsame Angelegenheit
bleiben, weil sonst Ungarn nicht wie bisher 34. sondern 42 Prozent für
Armeezwecke aufbringen müßte; auch das Zollwesen wird getrennt, die Zoll¬
einnahmen aber sollen gemeinsam bleiben, weil Ungarn dabei jährlich 24 Mil¬
lionen Kronen profitiert; die Gesetzgebung betreffend die indirekten Steuern
soll nicht mehr im gegenseitigen Einverständnis geregelt werden, weil Ungarn
durch die völlig autonome Gestaltung seiner Steuern auf Branntwein, Bier,
Zucker und Petroleum gegen die österreichische Einfuhr dieser Produkte eine
Zwischenzolllinie errichten will, dagegen sollen Österreich und Ungarn im übrigen
einander freie Einfuhr gewähren, und es sollen die bisherigen Bestimmungen
über den Viehverkehr aufrecht erhalten bleiben, damit dem ungarischen Getreide,
Mehl und Vieh der österreichische Markt erhalten werde, was die ungarische
Regierung allerdings nicht hindert, schon jetzt der österreichischen Industrie die
Lieferungen nach Ungarn möglichst zu erschweren. Für Österreich ist das gewiß
ein schlechtes Geschäft, es wird jedoch voraussichtlich in den sauern Apfel beißen
müssen, nicht nur wegen der Schwäche seines Parlaments, sondern auch mit
Rücksicht auf die bisherige Haltung der Krone.

Es liegt auf der Hand, daß der wirksamste Schachzug gegen die Zer¬
trümmerung der Reichseinheit darin bestünde, den Magyaren durch die sofortige
gänzliche wirtschaftliche Trennung der beiden Neichshälften die ungeheuern
Nachteile einer solchen Entwicklung deutlich vor Augen zu führen und ihnen
dadurch das Verständnis dafür beizubringen, daß die Erhaltung der Reichs¬
einheit auch im ungarischen Interesse liegt. Für eine solche Radikalkur wird
sich Kaiser Franz Joseph jedoch kaum entscheiden. Ein ungarisch offiziöses Blatt
hat kürzlich schon gedroht, daß der "Kaiser von Österreich" dem Versuch, wegen
der Aufstellung des ungarischen Zolltarifs die wirtschaftliche Gemeinsamkeit
völlig aufzulösen und so die Monarchie zu "zertrümmern", mit dem kaiserlichen
Notverordnungsrechte begegnen werde. Die Taktik der ungarischen Regierung
ist danach ganz klar: während sie einerseits der Krone die Erfüllung der
ungarischen Forderungen betreffend die Ausgestaltung der wirtschaftlichen und
der militärisch-diplomatischen Selbständigkeit Ungarns als unerläßlich hinstellen
wird, wird sie dem Kaiser vorspiegeln, daß die Erfüllung der österreichischen
Forderung nach gänzlicher Lösung der wirtschaftlichen Gemeinsamkett die Einheit
des Reichs zerstören und seine Machtstellung erschüttern würde, und daß es
darum Österreich besser anstünde, sich an Ungarn ein Beispiel zu nehmen, das
nur aus purem Patriotismus und aus lauterer Hingabe an die Dynastie
zurzeit auf die vollständige Trennung verzichtet habe. Und der Kaiser wird
für diese Ratschläge ein offnes Ohr haben; er wird glauben, daß es gut sei.


Die magyarische Unabhängigkeitsbewegung und der österreichische Reichsgedanke

noch für längere Zeit in wirtschaftlicher Beziehung der österreichischen Stütze
bedarf, und darum will man in Pest bis auf weiteres die Gemeinsamkeit mit
Österreich vorläufig in allen Punkten aufrechterhalten, wo sie für Ungarn von
Vorteil ist. So soll einerseits die gemeinsame Armee vollständig getrennt
werden, die Bestreitung ihrer Kosten jedoch eine gemeinsame Angelegenheit
bleiben, weil sonst Ungarn nicht wie bisher 34. sondern 42 Prozent für
Armeezwecke aufbringen müßte; auch das Zollwesen wird getrennt, die Zoll¬
einnahmen aber sollen gemeinsam bleiben, weil Ungarn dabei jährlich 24 Mil¬
lionen Kronen profitiert; die Gesetzgebung betreffend die indirekten Steuern
soll nicht mehr im gegenseitigen Einverständnis geregelt werden, weil Ungarn
durch die völlig autonome Gestaltung seiner Steuern auf Branntwein, Bier,
Zucker und Petroleum gegen die österreichische Einfuhr dieser Produkte eine
Zwischenzolllinie errichten will, dagegen sollen Österreich und Ungarn im übrigen
einander freie Einfuhr gewähren, und es sollen die bisherigen Bestimmungen
über den Viehverkehr aufrecht erhalten bleiben, damit dem ungarischen Getreide,
Mehl und Vieh der österreichische Markt erhalten werde, was die ungarische
Regierung allerdings nicht hindert, schon jetzt der österreichischen Industrie die
Lieferungen nach Ungarn möglichst zu erschweren. Für Österreich ist das gewiß
ein schlechtes Geschäft, es wird jedoch voraussichtlich in den sauern Apfel beißen
müssen, nicht nur wegen der Schwäche seines Parlaments, sondern auch mit
Rücksicht auf die bisherige Haltung der Krone.

Es liegt auf der Hand, daß der wirksamste Schachzug gegen die Zer¬
trümmerung der Reichseinheit darin bestünde, den Magyaren durch die sofortige
gänzliche wirtschaftliche Trennung der beiden Neichshälften die ungeheuern
Nachteile einer solchen Entwicklung deutlich vor Augen zu führen und ihnen
dadurch das Verständnis dafür beizubringen, daß die Erhaltung der Reichs¬
einheit auch im ungarischen Interesse liegt. Für eine solche Radikalkur wird
sich Kaiser Franz Joseph jedoch kaum entscheiden. Ein ungarisch offiziöses Blatt
hat kürzlich schon gedroht, daß der „Kaiser von Österreich" dem Versuch, wegen
der Aufstellung des ungarischen Zolltarifs die wirtschaftliche Gemeinsamkeit
völlig aufzulösen und so die Monarchie zu „zertrümmern", mit dem kaiserlichen
Notverordnungsrechte begegnen werde. Die Taktik der ungarischen Regierung
ist danach ganz klar: während sie einerseits der Krone die Erfüllung der
ungarischen Forderungen betreffend die Ausgestaltung der wirtschaftlichen und
der militärisch-diplomatischen Selbständigkeit Ungarns als unerläßlich hinstellen
wird, wird sie dem Kaiser vorspiegeln, daß die Erfüllung der österreichischen
Forderung nach gänzlicher Lösung der wirtschaftlichen Gemeinsamkett die Einheit
des Reichs zerstören und seine Machtstellung erschüttern würde, und daß es
darum Österreich besser anstünde, sich an Ungarn ein Beispiel zu nehmen, das
nur aus purem Patriotismus und aus lauterer Hingabe an die Dynastie
zurzeit auf die vollständige Trennung verzichtet habe. Und der Kaiser wird
für diese Ratschläge ein offnes Ohr haben; er wird glauben, daß es gut sei.


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[0455] Die magyarische Unabhängigkeitsbewegung und der österreichische Reichsgedanke noch für längere Zeit in wirtschaftlicher Beziehung der österreichischen Stütze bedarf, und darum will man in Pest bis auf weiteres die Gemeinsamkeit mit Österreich vorläufig in allen Punkten aufrechterhalten, wo sie für Ungarn von Vorteil ist. So soll einerseits die gemeinsame Armee vollständig getrennt werden, die Bestreitung ihrer Kosten jedoch eine gemeinsame Angelegenheit bleiben, weil sonst Ungarn nicht wie bisher 34. sondern 42 Prozent für Armeezwecke aufbringen müßte; auch das Zollwesen wird getrennt, die Zoll¬ einnahmen aber sollen gemeinsam bleiben, weil Ungarn dabei jährlich 24 Mil¬ lionen Kronen profitiert; die Gesetzgebung betreffend die indirekten Steuern soll nicht mehr im gegenseitigen Einverständnis geregelt werden, weil Ungarn durch die völlig autonome Gestaltung seiner Steuern auf Branntwein, Bier, Zucker und Petroleum gegen die österreichische Einfuhr dieser Produkte eine Zwischenzolllinie errichten will, dagegen sollen Österreich und Ungarn im übrigen einander freie Einfuhr gewähren, und es sollen die bisherigen Bestimmungen über den Viehverkehr aufrecht erhalten bleiben, damit dem ungarischen Getreide, Mehl und Vieh der österreichische Markt erhalten werde, was die ungarische Regierung allerdings nicht hindert, schon jetzt der österreichischen Industrie die Lieferungen nach Ungarn möglichst zu erschweren. Für Österreich ist das gewiß ein schlechtes Geschäft, es wird jedoch voraussichtlich in den sauern Apfel beißen müssen, nicht nur wegen der Schwäche seines Parlaments, sondern auch mit Rücksicht auf die bisherige Haltung der Krone. Es liegt auf der Hand, daß der wirksamste Schachzug gegen die Zer¬ trümmerung der Reichseinheit darin bestünde, den Magyaren durch die sofortige gänzliche wirtschaftliche Trennung der beiden Neichshälften die ungeheuern Nachteile einer solchen Entwicklung deutlich vor Augen zu führen und ihnen dadurch das Verständnis dafür beizubringen, daß die Erhaltung der Reichs¬ einheit auch im ungarischen Interesse liegt. Für eine solche Radikalkur wird sich Kaiser Franz Joseph jedoch kaum entscheiden. Ein ungarisch offiziöses Blatt hat kürzlich schon gedroht, daß der „Kaiser von Österreich" dem Versuch, wegen der Aufstellung des ungarischen Zolltarifs die wirtschaftliche Gemeinsamkeit völlig aufzulösen und so die Monarchie zu „zertrümmern", mit dem kaiserlichen Notverordnungsrechte begegnen werde. Die Taktik der ungarischen Regierung ist danach ganz klar: während sie einerseits der Krone die Erfüllung der ungarischen Forderungen betreffend die Ausgestaltung der wirtschaftlichen und der militärisch-diplomatischen Selbständigkeit Ungarns als unerläßlich hinstellen wird, wird sie dem Kaiser vorspiegeln, daß die Erfüllung der österreichischen Forderung nach gänzlicher Lösung der wirtschaftlichen Gemeinsamkett die Einheit des Reichs zerstören und seine Machtstellung erschüttern würde, und daß es darum Österreich besser anstünde, sich an Ungarn ein Beispiel zu nehmen, das nur aus purem Patriotismus und aus lauterer Hingabe an die Dynastie zurzeit auf die vollständige Trennung verzichtet habe. Und der Kaiser wird für diese Ratschläge ein offnes Ohr haben; er wird glauben, daß es gut sei.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/455>, abgerufen am 25.08.2024.