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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die magyarische Unabhängigkeitsbewegung und der österreichische Reichsgedanke

Innerlich zeigte die neue Regierungsmehrheit jedoch von Anbeginn an deutliche
Zeichen der Schwäche, denn Graf Äpponyi begann sofort sehr gegen den Willen
Herrn von Szells auf die Erfüllung der "Forderungen der Nation" betreffend
die Armee zu drängen. Eine Krise folgte im Schoße der Regierungspartei
der andern, und schließlich kam es zum Bruche: Herr von Szell sah sich außer¬
stande, der eignen Partei die Bewilligung der für die Neubewaffnung der
Artillerie notwendigen Gelder abzuringen. Der Verlauf der Parlamentskrise,
die sich an den Sturz Szells knüpfte, ist noch zu frisch in der Erinnerung,
als daß ihre Darstellung notwendig wäre, und es genügt, den Hauptgegenstand
des Streits zu skizzieren.

Die Opposition, den Grafen Apponyi inbegriffen, forderte: die Reform
der in Ungarn liegenden gemeinsamen Militärbildungsanstalten in national¬
magyarischem Sinne, die Vermehrung der Stiftsplätze für ungarländische
Militärzöglinge, eigne Wappen, Fahnen und Embleme für die ungarländische"
Regimenter der gemeinsamen Armee, sofortige Konzentrierung aller ungar-
ländischen Regimenter in Ungarn, und schließlich die Einführung der magya¬
rischen Kommandosprache in diesen Regimentern. Im Verlaufe der Krise
hatte die Krone schon in allen Punkten mit Ausnahme des letzten nachgegeben,
ohne daß jedoch die Opposition dadurch versöhnt worden wäre. Unerbittlich
forderte sie das magyarische Kommando, und die Krise verschärfte sich, als die
Opposition geltend machte, daß die Krone diese Forderung gar nicht ablehnen
könne, weil die letzte Entscheidung über die innere Organisation des ungarischen
Heeres der Nation und nicht der Krone zustehe, der sie von der Nation nur
zeitweise überlassen worden sei. Damit war die Parlamentskrise zur Ver¬
fassungskrise geworden, denn die Opposition bestritt damit ein nach der
ungarischen Verfassung unzweifelhaft feststehendes Majestätsrecht, nämlich das
Verfügungsrecht der Krone über die innere Organisation der Armee, d. h. die
Opposition wollte dieses Recht von der Krone auf den ungarischen Reichstag
übertragen wissen und aus einem Teile des kaiserlichen Heeres ein ungarisches
Parlamentsheer machen.

In ein neues Stadium trat die Krise, als nach den vergeblichen Be¬
mühungen des Ministeriums Stephan Tisza, der Opposition Herr zu werden, die
Neuwahlen im Februar 1906 eine starke oppositionelle Mehrheit ergaben. Die
Opposition forderte die Übertragung der Regierungsgewalt auf Grund ihres
Programms, dem inzwischen auch die Forderung nach wirtschaftlicher Trennung
von Österreich hinzugefügt worden war; die Krone dagegen wollte ihr die
Regierungsgewalt nur dann anvertrauen, wenn sie aus ihrem Programm die
Forderung nach Einführung der magyarischen Kommandosprache ausschaltete
und die Majestätsrechte über die Armee nicht mehr bestritt. Nach einem ein
volles Jahr währenden Kampfe kam es endlich zu einem Vergleiche, der jedoch
wiederum keine Lösung des Konflikts, sondern nur eine Vertagung der Ent¬
scheidung brachte: die Krone übertrug den oppositionellen Führern die Kabinetts-


Grenzboten III 1SV6 59
Die magyarische Unabhängigkeitsbewegung und der österreichische Reichsgedanke

Innerlich zeigte die neue Regierungsmehrheit jedoch von Anbeginn an deutliche
Zeichen der Schwäche, denn Graf Äpponyi begann sofort sehr gegen den Willen
Herrn von Szells auf die Erfüllung der „Forderungen der Nation" betreffend
die Armee zu drängen. Eine Krise folgte im Schoße der Regierungspartei
der andern, und schließlich kam es zum Bruche: Herr von Szell sah sich außer¬
stande, der eignen Partei die Bewilligung der für die Neubewaffnung der
Artillerie notwendigen Gelder abzuringen. Der Verlauf der Parlamentskrise,
die sich an den Sturz Szells knüpfte, ist noch zu frisch in der Erinnerung,
als daß ihre Darstellung notwendig wäre, und es genügt, den Hauptgegenstand
des Streits zu skizzieren.

Die Opposition, den Grafen Apponyi inbegriffen, forderte: die Reform
der in Ungarn liegenden gemeinsamen Militärbildungsanstalten in national¬
magyarischem Sinne, die Vermehrung der Stiftsplätze für ungarländische
Militärzöglinge, eigne Wappen, Fahnen und Embleme für die ungarländische»
Regimenter der gemeinsamen Armee, sofortige Konzentrierung aller ungar-
ländischen Regimenter in Ungarn, und schließlich die Einführung der magya¬
rischen Kommandosprache in diesen Regimentern. Im Verlaufe der Krise
hatte die Krone schon in allen Punkten mit Ausnahme des letzten nachgegeben,
ohne daß jedoch die Opposition dadurch versöhnt worden wäre. Unerbittlich
forderte sie das magyarische Kommando, und die Krise verschärfte sich, als die
Opposition geltend machte, daß die Krone diese Forderung gar nicht ablehnen
könne, weil die letzte Entscheidung über die innere Organisation des ungarischen
Heeres der Nation und nicht der Krone zustehe, der sie von der Nation nur
zeitweise überlassen worden sei. Damit war die Parlamentskrise zur Ver¬
fassungskrise geworden, denn die Opposition bestritt damit ein nach der
ungarischen Verfassung unzweifelhaft feststehendes Majestätsrecht, nämlich das
Verfügungsrecht der Krone über die innere Organisation der Armee, d. h. die
Opposition wollte dieses Recht von der Krone auf den ungarischen Reichstag
übertragen wissen und aus einem Teile des kaiserlichen Heeres ein ungarisches
Parlamentsheer machen.

In ein neues Stadium trat die Krise, als nach den vergeblichen Be¬
mühungen des Ministeriums Stephan Tisza, der Opposition Herr zu werden, die
Neuwahlen im Februar 1906 eine starke oppositionelle Mehrheit ergaben. Die
Opposition forderte die Übertragung der Regierungsgewalt auf Grund ihres
Programms, dem inzwischen auch die Forderung nach wirtschaftlicher Trennung
von Österreich hinzugefügt worden war; die Krone dagegen wollte ihr die
Regierungsgewalt nur dann anvertrauen, wenn sie aus ihrem Programm die
Forderung nach Einführung der magyarischen Kommandosprache ausschaltete
und die Majestätsrechte über die Armee nicht mehr bestritt. Nach einem ein
volles Jahr währenden Kampfe kam es endlich zu einem Vergleiche, der jedoch
wiederum keine Lösung des Konflikts, sondern nur eine Vertagung der Ent¬
scheidung brachte: die Krone übertrug den oppositionellen Führern die Kabinetts-


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[0453] Die magyarische Unabhängigkeitsbewegung und der österreichische Reichsgedanke Innerlich zeigte die neue Regierungsmehrheit jedoch von Anbeginn an deutliche Zeichen der Schwäche, denn Graf Äpponyi begann sofort sehr gegen den Willen Herrn von Szells auf die Erfüllung der „Forderungen der Nation" betreffend die Armee zu drängen. Eine Krise folgte im Schoße der Regierungspartei der andern, und schließlich kam es zum Bruche: Herr von Szell sah sich außer¬ stande, der eignen Partei die Bewilligung der für die Neubewaffnung der Artillerie notwendigen Gelder abzuringen. Der Verlauf der Parlamentskrise, die sich an den Sturz Szells knüpfte, ist noch zu frisch in der Erinnerung, als daß ihre Darstellung notwendig wäre, und es genügt, den Hauptgegenstand des Streits zu skizzieren. Die Opposition, den Grafen Apponyi inbegriffen, forderte: die Reform der in Ungarn liegenden gemeinsamen Militärbildungsanstalten in national¬ magyarischem Sinne, die Vermehrung der Stiftsplätze für ungarländische Militärzöglinge, eigne Wappen, Fahnen und Embleme für die ungarländische» Regimenter der gemeinsamen Armee, sofortige Konzentrierung aller ungar- ländischen Regimenter in Ungarn, und schließlich die Einführung der magya¬ rischen Kommandosprache in diesen Regimentern. Im Verlaufe der Krise hatte die Krone schon in allen Punkten mit Ausnahme des letzten nachgegeben, ohne daß jedoch die Opposition dadurch versöhnt worden wäre. Unerbittlich forderte sie das magyarische Kommando, und die Krise verschärfte sich, als die Opposition geltend machte, daß die Krone diese Forderung gar nicht ablehnen könne, weil die letzte Entscheidung über die innere Organisation des ungarischen Heeres der Nation und nicht der Krone zustehe, der sie von der Nation nur zeitweise überlassen worden sei. Damit war die Parlamentskrise zur Ver¬ fassungskrise geworden, denn die Opposition bestritt damit ein nach der ungarischen Verfassung unzweifelhaft feststehendes Majestätsrecht, nämlich das Verfügungsrecht der Krone über die innere Organisation der Armee, d. h. die Opposition wollte dieses Recht von der Krone auf den ungarischen Reichstag übertragen wissen und aus einem Teile des kaiserlichen Heeres ein ungarisches Parlamentsheer machen. In ein neues Stadium trat die Krise, als nach den vergeblichen Be¬ mühungen des Ministeriums Stephan Tisza, der Opposition Herr zu werden, die Neuwahlen im Februar 1906 eine starke oppositionelle Mehrheit ergaben. Die Opposition forderte die Übertragung der Regierungsgewalt auf Grund ihres Programms, dem inzwischen auch die Forderung nach wirtschaftlicher Trennung von Österreich hinzugefügt worden war; die Krone dagegen wollte ihr die Regierungsgewalt nur dann anvertrauen, wenn sie aus ihrem Programm die Forderung nach Einführung der magyarischen Kommandosprache ausschaltete und die Majestätsrechte über die Armee nicht mehr bestritt. Nach einem ein volles Jahr währenden Kampfe kam es endlich zu einem Vergleiche, der jedoch wiederum keine Lösung des Konflikts, sondern nur eine Vertagung der Ent¬ scheidung brachte: die Krone übertrug den oppositionellen Führern die Kabinetts- Grenzboten III 1SV6 59

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/453>, abgerufen am 23.07.2024.