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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die magyarische Unabhängigkeitsbewegung und der österreichische Reichsgedanke

dem ungarischen Ausgleichsgesetze vom Jahre 1867 vom ungarischen Reichs¬
tage feierlich anerkannt. Schon im achtzehnten Jahrhundert reichte jedoch die
auf die auswärtige Politik und das Kriegswesen beschränkte Gemeinsamkeit
zur Befriedigung des Gesamtstaatszweckes nicht mehr aus; in demselben Maße
aber, wie die Habsburger diese Gemeinsamkeit zu erweitern suchten, hielt das
Magyarentum an der staatsrechtlichen Selbständigkeit Ungarns fest, und aus
diesen gegensätzlichen Bestrebungen entwickelten sich schon unter Joseph dem
Zweiten schwere Verfassungskämpfe, die im Jahre 1848 zum Ausbruche der
Revolution und schließlich, 1867, zu einem Vergleiche führten, worin die sich
aus der Pragmatischen Sanktion ergebende Gemeinsamkeit der auswärtigen
Politik, des Kriegswesens und der damit verbundnen Finanzgebarung zwar
neuerdings ausdrücklich anerkannt, die Erweiterung der Gemeinsamkeit auf
wirtschaftliche Angelegenheiten jedoch der Einsicht der Gesetzgebungen der beiden
Reichshälften überlassen wurde. Der auf Grund dieser Vereinbarungen ab¬
geschlossene österreichisch-ungarische Ausgleich bestand mithin aus zwei Teilen:
der eine handelte von den dauernd als gemeinsam erklärten Angelegenheiten:
der Leitung der auswärtigen Politik, d. h. der "diplomatischen und der
kommerziellen Vertretung des Reiches gegenüber dem Auslande", der einheit¬
lichen Leitung des Kriegswesens mit Ausnahme der Rekrutenbewilligung, der
Feststellung des Wehrsystems und der Dislozierung des Heeres und drittens
von dem Reichsfinanzwesen, d. h. der Gebarung der von den beiden Reichs¬
hälften für gemeinsame Zwecke bewilligten Gelder. Der Reichsgedanke blieb
also auch in der Verfassung von 1867 auf diese drei gemeinsamen Zwecke
beschränkt, er kam jedoch sowohl in dem österreichischen wie in dem ungarischen
Ausglcichsgcsetze zum klaren und unzweifelhaften Ausdruck, indem in beiden
Gesetzen ausdrücklich vom "Reiche" und von einem "gemeinsamen Ministerium"
und "seinen Mitgliedern" die Rede ist. Dem entsprachen auch die Titulaturen:
kais. königl. Regierung, Reichskriegsminister und Reichsfinanzminister.

Wie erwähnt worden ist, hatte jedoch die Krone im wohlverstandnen
gesamtstaatlichen Interesse eine Erweiterung der gemeinsamen Angelegenheiten
angestrebt, und der ungarische Reichstag gab insofern nach, als er zugestand,
daß "noch andre Angelegenheiten, deren Gemeinsamkeit zwar nicht aus der
Pragmatischen Sanktion fließt, teils aus politischen Rücksichten, teils wegen
des Zusammenfallens der Interessen beider Teile zweckmüßiger im gemeinsamen
Einvernehmen als streng gesondert erledigt werden können". Zu diesen von
der österreichischen und von der ungarischen Gesetzgebung nach von Zeit zu Zeit
zu vereinbarenden gleichen Grundsätzen zu behandelnden Angelegenheiten wurden
gerechnet: erstens die Feststellung des Wehrsystems, zweitens die Gesetzgebung
betreffend das Zollwesen, das Münzwesen, den Viehverkehr, die indirekten
Steuern und die Eisenbahnen, die die beiderseitigen Interessen berühren, alles
das im Rahmen eines Zoll- und Handelsbündnisses, drittens die Be¬
streitung der gemeinsamen Ausgaben. Die Verständigung betreffend das Wehr-


Die magyarische Unabhängigkeitsbewegung und der österreichische Reichsgedanke

dem ungarischen Ausgleichsgesetze vom Jahre 1867 vom ungarischen Reichs¬
tage feierlich anerkannt. Schon im achtzehnten Jahrhundert reichte jedoch die
auf die auswärtige Politik und das Kriegswesen beschränkte Gemeinsamkeit
zur Befriedigung des Gesamtstaatszweckes nicht mehr aus; in demselben Maße
aber, wie die Habsburger diese Gemeinsamkeit zu erweitern suchten, hielt das
Magyarentum an der staatsrechtlichen Selbständigkeit Ungarns fest, und aus
diesen gegensätzlichen Bestrebungen entwickelten sich schon unter Joseph dem
Zweiten schwere Verfassungskämpfe, die im Jahre 1848 zum Ausbruche der
Revolution und schließlich, 1867, zu einem Vergleiche führten, worin die sich
aus der Pragmatischen Sanktion ergebende Gemeinsamkeit der auswärtigen
Politik, des Kriegswesens und der damit verbundnen Finanzgebarung zwar
neuerdings ausdrücklich anerkannt, die Erweiterung der Gemeinsamkeit auf
wirtschaftliche Angelegenheiten jedoch der Einsicht der Gesetzgebungen der beiden
Reichshälften überlassen wurde. Der auf Grund dieser Vereinbarungen ab¬
geschlossene österreichisch-ungarische Ausgleich bestand mithin aus zwei Teilen:
der eine handelte von den dauernd als gemeinsam erklärten Angelegenheiten:
der Leitung der auswärtigen Politik, d. h. der „diplomatischen und der
kommerziellen Vertretung des Reiches gegenüber dem Auslande", der einheit¬
lichen Leitung des Kriegswesens mit Ausnahme der Rekrutenbewilligung, der
Feststellung des Wehrsystems und der Dislozierung des Heeres und drittens
von dem Reichsfinanzwesen, d. h. der Gebarung der von den beiden Reichs¬
hälften für gemeinsame Zwecke bewilligten Gelder. Der Reichsgedanke blieb
also auch in der Verfassung von 1867 auf diese drei gemeinsamen Zwecke
beschränkt, er kam jedoch sowohl in dem österreichischen wie in dem ungarischen
Ausglcichsgcsetze zum klaren und unzweifelhaften Ausdruck, indem in beiden
Gesetzen ausdrücklich vom „Reiche" und von einem „gemeinsamen Ministerium"
und „seinen Mitgliedern" die Rede ist. Dem entsprachen auch die Titulaturen:
kais. königl. Regierung, Reichskriegsminister und Reichsfinanzminister.

Wie erwähnt worden ist, hatte jedoch die Krone im wohlverstandnen
gesamtstaatlichen Interesse eine Erweiterung der gemeinsamen Angelegenheiten
angestrebt, und der ungarische Reichstag gab insofern nach, als er zugestand,
daß „noch andre Angelegenheiten, deren Gemeinsamkeit zwar nicht aus der
Pragmatischen Sanktion fließt, teils aus politischen Rücksichten, teils wegen
des Zusammenfallens der Interessen beider Teile zweckmüßiger im gemeinsamen
Einvernehmen als streng gesondert erledigt werden können". Zu diesen von
der österreichischen und von der ungarischen Gesetzgebung nach von Zeit zu Zeit
zu vereinbarenden gleichen Grundsätzen zu behandelnden Angelegenheiten wurden
gerechnet: erstens die Feststellung des Wehrsystems, zweitens die Gesetzgebung
betreffend das Zollwesen, das Münzwesen, den Viehverkehr, die indirekten
Steuern und die Eisenbahnen, die die beiderseitigen Interessen berühren, alles
das im Rahmen eines Zoll- und Handelsbündnisses, drittens die Be¬
streitung der gemeinsamen Ausgaben. Die Verständigung betreffend das Wehr-


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[0446] Die magyarische Unabhängigkeitsbewegung und der österreichische Reichsgedanke dem ungarischen Ausgleichsgesetze vom Jahre 1867 vom ungarischen Reichs¬ tage feierlich anerkannt. Schon im achtzehnten Jahrhundert reichte jedoch die auf die auswärtige Politik und das Kriegswesen beschränkte Gemeinsamkeit zur Befriedigung des Gesamtstaatszweckes nicht mehr aus; in demselben Maße aber, wie die Habsburger diese Gemeinsamkeit zu erweitern suchten, hielt das Magyarentum an der staatsrechtlichen Selbständigkeit Ungarns fest, und aus diesen gegensätzlichen Bestrebungen entwickelten sich schon unter Joseph dem Zweiten schwere Verfassungskämpfe, die im Jahre 1848 zum Ausbruche der Revolution und schließlich, 1867, zu einem Vergleiche führten, worin die sich aus der Pragmatischen Sanktion ergebende Gemeinsamkeit der auswärtigen Politik, des Kriegswesens und der damit verbundnen Finanzgebarung zwar neuerdings ausdrücklich anerkannt, die Erweiterung der Gemeinsamkeit auf wirtschaftliche Angelegenheiten jedoch der Einsicht der Gesetzgebungen der beiden Reichshälften überlassen wurde. Der auf Grund dieser Vereinbarungen ab¬ geschlossene österreichisch-ungarische Ausgleich bestand mithin aus zwei Teilen: der eine handelte von den dauernd als gemeinsam erklärten Angelegenheiten: der Leitung der auswärtigen Politik, d. h. der „diplomatischen und der kommerziellen Vertretung des Reiches gegenüber dem Auslande", der einheit¬ lichen Leitung des Kriegswesens mit Ausnahme der Rekrutenbewilligung, der Feststellung des Wehrsystems und der Dislozierung des Heeres und drittens von dem Reichsfinanzwesen, d. h. der Gebarung der von den beiden Reichs¬ hälften für gemeinsame Zwecke bewilligten Gelder. Der Reichsgedanke blieb also auch in der Verfassung von 1867 auf diese drei gemeinsamen Zwecke beschränkt, er kam jedoch sowohl in dem österreichischen wie in dem ungarischen Ausglcichsgcsetze zum klaren und unzweifelhaften Ausdruck, indem in beiden Gesetzen ausdrücklich vom „Reiche" und von einem „gemeinsamen Ministerium" und „seinen Mitgliedern" die Rede ist. Dem entsprachen auch die Titulaturen: kais. königl. Regierung, Reichskriegsminister und Reichsfinanzminister. Wie erwähnt worden ist, hatte jedoch die Krone im wohlverstandnen gesamtstaatlichen Interesse eine Erweiterung der gemeinsamen Angelegenheiten angestrebt, und der ungarische Reichstag gab insofern nach, als er zugestand, daß „noch andre Angelegenheiten, deren Gemeinsamkeit zwar nicht aus der Pragmatischen Sanktion fließt, teils aus politischen Rücksichten, teils wegen des Zusammenfallens der Interessen beider Teile zweckmüßiger im gemeinsamen Einvernehmen als streng gesondert erledigt werden können". Zu diesen von der österreichischen und von der ungarischen Gesetzgebung nach von Zeit zu Zeit zu vereinbarenden gleichen Grundsätzen zu behandelnden Angelegenheiten wurden gerechnet: erstens die Feststellung des Wehrsystems, zweitens die Gesetzgebung betreffend das Zollwesen, das Münzwesen, den Viehverkehr, die indirekten Steuern und die Eisenbahnen, die die beiderseitigen Interessen berühren, alles das im Rahmen eines Zoll- und Handelsbündnisses, drittens die Be¬ streitung der gemeinsamen Ausgaben. Die Verständigung betreffend das Wehr-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/446>, abgerufen am 23.07.2024.