Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches London, Herr Cambon, der ja auch für Herrn Delcasst der Gewährsmann des Will sich England einerseits von seinem jetzigen diplomatischen Pivot der englisch- Maßgebliches und Unmaßgebliches London, Herr Cambon, der ja auch für Herrn Delcasst der Gewährsmann des Will sich England einerseits von seinem jetzigen diplomatischen Pivot der englisch- <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0437" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300224"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1674" prev="#ID_1673"> London, Herr Cambon, der ja auch für Herrn Delcasst der Gewährsmann des<lb/> englischen Kriegsbündnisses gewesen ist, scheint in dieser Hinficht besonders argwöhnisch<lb/> und eifersüchtig zu sein, zumal nachdem mit dem liberalen Kabinett die Tendenz<lb/> in England sichtlich Boden gewonnen hat, die unnötigen Spannungen mit Deutsch¬<lb/> land zu begleichen und den deutsch-englischen Beziehungen wieder einen freundschaft¬<lb/> lichem Charakter zu geben.</p><lb/> <p xml:id="ID_1675" next="#ID_1676"> Will sich England einerseits von seinem jetzigen diplomatischen Pivot der englisch-<lb/> französischen Entente nicht entfernen, andrerseits bessere Beziehungen zu Deutschland<lb/> Pflegen, ohne ein Mißtrauen Frankreichs wachzurufen, von dem Andeutungen schon<lb/> in der Pariser Presse zutage traten, so bleibt für das britische Kabinett nur übrig,<lb/> allmählich eine Besserung der französisch-deutschen Beziehungen durch Unterstützung der¬<lb/> jenigen französischen Politiker herbeizuführen, die dieser Besserung geneigt und deshalb<lb/> bereit sind, die Hand dazu zu bieten. Ihre Zahl ist nicht groß, und die Aufgabe<lb/> wird darum weder leicht noch in kurzer Zeit zu vollbringen sein. Die große<lb/> Mehrzahl der französischen Politiker wünscht die Ententenpolitik nicht in der Richtung<lb/> einer Annäherung an Deutschland, sondern im Sinne eines fort und fort zu ver¬<lb/> stärkenden Gegensatzes zu Deutschland auszubauen. Dem jetzigen französischen Bot¬<lb/> schafter in Berlin, Herrn Bihourd, bezüglich dessen unbegründete Rücktrittsgerüchte<lb/> im Umlauf waren, sagt man nach, daß er ein Anhänger der Annäherung an Deutsch¬<lb/> land sei, während sein Londoner Kollege, der schon genannte Herr Cambon, die<lb/> französisch-englische Entente nur als gegen Deutschland gerichtet auffaßt und für<lb/> ihren Ausbau in dieser Richtung eintritt. Solange die Republik in London durch<lb/> diesen Botschafter vertreten ist, wird es dem englischen Kabinett somit nicht leicht sein,<lb/> die Richtung der Annäherung zu Deutschland einzuschlagen, auch wenn das ganze<lb/> Kabinett hierin einmütig wäre. Das ist aber nur mit Abstufungen der Fall. Als<lb/> wirklich deutschfreundlich sind in erster Linie der Lord-Kanzler Cockburne und der<lb/> Kriegsminister Haldane anzusprechen, der ja auch den deutschen Herbstmanövern auf<lb/> Einladung des Kaisers beiwohnen wird. Der Premier selbst, Sir Campbell Banner--<lb/> man, hat sich öffentlich wiederholt und namentlich in seiner Programmrede vom<lb/> 21. Dezember v. I. dahin ausgesprochen, daß er in keinem einzigen der Interessen<lb/> beider Völker irgendwelchen Grund zu einer Entfremdung sehen und die kürzlich<lb/> erfolgten offiziellen Freundschaftsbezeigungen begrüße. Er dürfte deshalb seinen<lb/> vorher genannten Amtskollegen in bezug auf Deutschland am nächsten stehen.<lb/> Kühler und ressortmäßig zurückhaltender ist dagegen der Staatssekretär des Aus¬<lb/> wärtigen, Sir Edward Grey, der kein Hehl daraus macht, daß die britische Politik<lb/> bon dem Einvernehmen mit Frankreich abhängig, mithin für die Annäherung an<lb/> Deutschland nur bedingungsweise zu habe« ist. Hierzu kommt, daß dem britischen<lb/> Staatssekretär die Erreichung einer Verständigung mit Rußland viel wichtiger er¬<lb/> scheinen mag, die hauptsächlich der Sicherstellung Indiens und einer Abmachung<lb/> über Zentralasien gelten soll, um auf diese Weise das indische Budget zu entlasten,<lb/> gegenwärtig schweben Verhandlungen mit dem Petersburger Kabinett wegen Tibet.<lb/> >5se dieser Abschluß erst einmal erfolgt, so wird es für England vielleicht weniger<lb/> schwierig sein, ihn auch auf Zentralasien auszudehnen. Es mag das um so eher<lb/> gelingen, als Rußland ohnehin für eine Reihe von Jahren kaum in der Lage sein<lb/> "?"d, sich auf größere kriegerische Unternehmungen einzulassen, und weil auch ein<lb/> etwa vorhandner Wunsch, der Armee durch eine größere Aktion ihren innern Halt<lb/> zurückzugeben, doch nur dann ausführbar sein wird, wenn es mit sichrer Aussicht<lb/> °uf Erfolg geschehn kann. England wird sich somit sicherlich nicht unfreundlich gegen<lb/> Deutschland Verhalten, bevor es des Abschlusses mit Rußland sicher ist, schon aus<lb/> dem Grunde, weil sich Rußland schwerlich beeilen würde, mit einem in Schwierigkeiten</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0437]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
London, Herr Cambon, der ja auch für Herrn Delcasst der Gewährsmann des
englischen Kriegsbündnisses gewesen ist, scheint in dieser Hinficht besonders argwöhnisch
und eifersüchtig zu sein, zumal nachdem mit dem liberalen Kabinett die Tendenz
in England sichtlich Boden gewonnen hat, die unnötigen Spannungen mit Deutsch¬
land zu begleichen und den deutsch-englischen Beziehungen wieder einen freundschaft¬
lichem Charakter zu geben.
Will sich England einerseits von seinem jetzigen diplomatischen Pivot der englisch-
französischen Entente nicht entfernen, andrerseits bessere Beziehungen zu Deutschland
Pflegen, ohne ein Mißtrauen Frankreichs wachzurufen, von dem Andeutungen schon
in der Pariser Presse zutage traten, so bleibt für das britische Kabinett nur übrig,
allmählich eine Besserung der französisch-deutschen Beziehungen durch Unterstützung der¬
jenigen französischen Politiker herbeizuführen, die dieser Besserung geneigt und deshalb
bereit sind, die Hand dazu zu bieten. Ihre Zahl ist nicht groß, und die Aufgabe
wird darum weder leicht noch in kurzer Zeit zu vollbringen sein. Die große
Mehrzahl der französischen Politiker wünscht die Ententenpolitik nicht in der Richtung
einer Annäherung an Deutschland, sondern im Sinne eines fort und fort zu ver¬
stärkenden Gegensatzes zu Deutschland auszubauen. Dem jetzigen französischen Bot¬
schafter in Berlin, Herrn Bihourd, bezüglich dessen unbegründete Rücktrittsgerüchte
im Umlauf waren, sagt man nach, daß er ein Anhänger der Annäherung an Deutsch¬
land sei, während sein Londoner Kollege, der schon genannte Herr Cambon, die
französisch-englische Entente nur als gegen Deutschland gerichtet auffaßt und für
ihren Ausbau in dieser Richtung eintritt. Solange die Republik in London durch
diesen Botschafter vertreten ist, wird es dem englischen Kabinett somit nicht leicht sein,
die Richtung der Annäherung zu Deutschland einzuschlagen, auch wenn das ganze
Kabinett hierin einmütig wäre. Das ist aber nur mit Abstufungen der Fall. Als
wirklich deutschfreundlich sind in erster Linie der Lord-Kanzler Cockburne und der
Kriegsminister Haldane anzusprechen, der ja auch den deutschen Herbstmanövern auf
Einladung des Kaisers beiwohnen wird. Der Premier selbst, Sir Campbell Banner--
man, hat sich öffentlich wiederholt und namentlich in seiner Programmrede vom
21. Dezember v. I. dahin ausgesprochen, daß er in keinem einzigen der Interessen
beider Völker irgendwelchen Grund zu einer Entfremdung sehen und die kürzlich
erfolgten offiziellen Freundschaftsbezeigungen begrüße. Er dürfte deshalb seinen
vorher genannten Amtskollegen in bezug auf Deutschland am nächsten stehen.
Kühler und ressortmäßig zurückhaltender ist dagegen der Staatssekretär des Aus¬
wärtigen, Sir Edward Grey, der kein Hehl daraus macht, daß die britische Politik
bon dem Einvernehmen mit Frankreich abhängig, mithin für die Annäherung an
Deutschland nur bedingungsweise zu habe« ist. Hierzu kommt, daß dem britischen
Staatssekretär die Erreichung einer Verständigung mit Rußland viel wichtiger er¬
scheinen mag, die hauptsächlich der Sicherstellung Indiens und einer Abmachung
über Zentralasien gelten soll, um auf diese Weise das indische Budget zu entlasten,
gegenwärtig schweben Verhandlungen mit dem Petersburger Kabinett wegen Tibet.
>5se dieser Abschluß erst einmal erfolgt, so wird es für England vielleicht weniger
schwierig sein, ihn auch auf Zentralasien auszudehnen. Es mag das um so eher
gelingen, als Rußland ohnehin für eine Reihe von Jahren kaum in der Lage sein
"?"d, sich auf größere kriegerische Unternehmungen einzulassen, und weil auch ein
etwa vorhandner Wunsch, der Armee durch eine größere Aktion ihren innern Halt
zurückzugeben, doch nur dann ausführbar sein wird, wenn es mit sichrer Aussicht
°uf Erfolg geschehn kann. England wird sich somit sicherlich nicht unfreundlich gegen
Deutschland Verhalten, bevor es des Abschlusses mit Rußland sicher ist, schon aus
dem Grunde, weil sich Rußland schwerlich beeilen würde, mit einem in Schwierigkeiten
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