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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Das türkische Schattentheater

macht sich in den widerwärtigsten Bocksgelüsten Luft, und was er in manchen
Possen an Cynismen und Unanständigkeiten leistet, genügte vollkommen, drei
moderne Cyniker in der opulentesten Weise damit auszustaffieren. Karagöz,
dieser mit seinen sadistischen Neigungen sich brüstende Dekadent, ist, wie ein
Franzose geistreich von ihm bemerkte: poro oonronns ä'rin bourse as ton,
und diese charakteristische Bezeichnung käme ihm auch dann zu, wenn er sich
nicht bis zu der Ungeheuerlichkeit seines Bruders in Tunis versteigt, der sich
erdreistet, seine seltsame körperliche Bildung öffentlich zur Schau zu tragen,
ohne daß man es für notwendig erachtet, der anwesenden Jugend beiderlei
Geschlechts diesen schamlosen Anblick zu entziehn.

Neben Karagöz ist sein schon vorhin erwähnter Freund und Kartellträger
"Hagievad" sehr bemerkenswert. Eleganter in seinem Exterieur als der zuerst
genannte, den man gemeinhin für einen Schmied hält, und der auch auf der
Szene immer als eine plumpe Figur mit groben Gesichtszügen erscheint, hat
er auch etwas mehr Bildung, wenngleich er ebenfalls in bedenklichem Maße
zu Verstößen contra, bonos moros neigt, wie sich denn überhaupt seine Sitt¬
lichkeitsbegriffe nur wenig vorteilhaft von denen des Haupthelden unterscheiden.
In Karagöz und Hagievad sehen wir die ältesten Typen der Komödie, und es
gibt Stücke, in denen nur diese beiden lustigen Ulkvögel allein auftreten; viel¬
leicht sind es sogar die unterhaltendsten. Bekri Mustafa, der reich gewordne
Bauer, der nach der Stadt kommt und sich dort jedesmal übertölpeln läßt,
der dünkelhafte, sehr selbstbewußt auftretende Kawasse, der Tschifut, der arme,
von Karagöz beständig gemaßregelte jüdische Schnorrer, der gaunerhafte Der¬
wisch, der Opiumraucher, der Stammler, der Raster, der Armenier, der Franke,
der Albanese, sie und zahlreiche andre charakteristische Vertreter des männlichen
und des weiblichen Geschlechts bilden den anmutigen Chorus, der zu den
Abenteuern und Heldentaten Meisters Karagöz in mittelbaren oder unmittel¬
baren Beziehungen steht.

Von allen deutschen Orientalisten ist Professor Georg Jacob wohl am
tiefsten in das Wesen der Karagözbühne eingedrungen, und ihm gebührt das
unbestrittene Verdienst, sie durch zahlreiche treffliche Übersetzungen ihrer Re¬
pertoirestücke unserm Verständnis näher gebracht zu haben. Aber schon lange
vor ihm haben bekannte französische Schriftsteller wie der feinsinnige Theophile
Gautier und der dichterisch vornehm empfindende Gerard de Nerval diesem
amüsanten Miniaturtheater ihr Augenmerk zugewandt, und insbesondre die von
Champfleury in seinem Nusös ssorst as Is. og-rivaturs mitgeteilte Analyse einer
Karagözkomödie aus der Feder de Nervals ist geeignet, uns eine ziemlich klare
Vorstellung der türkischen Schattenbühne in ihrer Eigenart zu vermitteln. Das
köstliche, von dem genannten Autor elegant und künstlerisch reizvoll wiedergegebne
Stückchen führt den Titel: "Karagöz als das Opfer seiner Keuschheit" und
zeigt uns, wenngleich im Original reich an geschlechtlichen Anspielungen, den
alten Possenreißer und Zotenbruder noch von einer seiner mildesten Seiten.


Das türkische Schattentheater

macht sich in den widerwärtigsten Bocksgelüsten Luft, und was er in manchen
Possen an Cynismen und Unanständigkeiten leistet, genügte vollkommen, drei
moderne Cyniker in der opulentesten Weise damit auszustaffieren. Karagöz,
dieser mit seinen sadistischen Neigungen sich brüstende Dekadent, ist, wie ein
Franzose geistreich von ihm bemerkte: poro oonronns ä'rin bourse as ton,
und diese charakteristische Bezeichnung käme ihm auch dann zu, wenn er sich
nicht bis zu der Ungeheuerlichkeit seines Bruders in Tunis versteigt, der sich
erdreistet, seine seltsame körperliche Bildung öffentlich zur Schau zu tragen,
ohne daß man es für notwendig erachtet, der anwesenden Jugend beiderlei
Geschlechts diesen schamlosen Anblick zu entziehn.

Neben Karagöz ist sein schon vorhin erwähnter Freund und Kartellträger
„Hagievad" sehr bemerkenswert. Eleganter in seinem Exterieur als der zuerst
genannte, den man gemeinhin für einen Schmied hält, und der auch auf der
Szene immer als eine plumpe Figur mit groben Gesichtszügen erscheint, hat
er auch etwas mehr Bildung, wenngleich er ebenfalls in bedenklichem Maße
zu Verstößen contra, bonos moros neigt, wie sich denn überhaupt seine Sitt¬
lichkeitsbegriffe nur wenig vorteilhaft von denen des Haupthelden unterscheiden.
In Karagöz und Hagievad sehen wir die ältesten Typen der Komödie, und es
gibt Stücke, in denen nur diese beiden lustigen Ulkvögel allein auftreten; viel¬
leicht sind es sogar die unterhaltendsten. Bekri Mustafa, der reich gewordne
Bauer, der nach der Stadt kommt und sich dort jedesmal übertölpeln läßt,
der dünkelhafte, sehr selbstbewußt auftretende Kawasse, der Tschifut, der arme,
von Karagöz beständig gemaßregelte jüdische Schnorrer, der gaunerhafte Der¬
wisch, der Opiumraucher, der Stammler, der Raster, der Armenier, der Franke,
der Albanese, sie und zahlreiche andre charakteristische Vertreter des männlichen
und des weiblichen Geschlechts bilden den anmutigen Chorus, der zu den
Abenteuern und Heldentaten Meisters Karagöz in mittelbaren oder unmittel¬
baren Beziehungen steht.

Von allen deutschen Orientalisten ist Professor Georg Jacob wohl am
tiefsten in das Wesen der Karagözbühne eingedrungen, und ihm gebührt das
unbestrittene Verdienst, sie durch zahlreiche treffliche Übersetzungen ihrer Re¬
pertoirestücke unserm Verständnis näher gebracht zu haben. Aber schon lange
vor ihm haben bekannte französische Schriftsteller wie der feinsinnige Theophile
Gautier und der dichterisch vornehm empfindende Gerard de Nerval diesem
amüsanten Miniaturtheater ihr Augenmerk zugewandt, und insbesondre die von
Champfleury in seinem Nusös ssorst as Is. og-rivaturs mitgeteilte Analyse einer
Karagözkomödie aus der Feder de Nervals ist geeignet, uns eine ziemlich klare
Vorstellung der türkischen Schattenbühne in ihrer Eigenart zu vermitteln. Das
köstliche, von dem genannten Autor elegant und künstlerisch reizvoll wiedergegebne
Stückchen führt den Titel: „Karagöz als das Opfer seiner Keuschheit" und
zeigt uns, wenngleich im Original reich an geschlechtlichen Anspielungen, den
alten Possenreißer und Zotenbruder noch von einer seiner mildesten Seiten.


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[0362] Das türkische Schattentheater macht sich in den widerwärtigsten Bocksgelüsten Luft, und was er in manchen Possen an Cynismen und Unanständigkeiten leistet, genügte vollkommen, drei moderne Cyniker in der opulentesten Weise damit auszustaffieren. Karagöz, dieser mit seinen sadistischen Neigungen sich brüstende Dekadent, ist, wie ein Franzose geistreich von ihm bemerkte: poro oonronns ä'rin bourse as ton, und diese charakteristische Bezeichnung käme ihm auch dann zu, wenn er sich nicht bis zu der Ungeheuerlichkeit seines Bruders in Tunis versteigt, der sich erdreistet, seine seltsame körperliche Bildung öffentlich zur Schau zu tragen, ohne daß man es für notwendig erachtet, der anwesenden Jugend beiderlei Geschlechts diesen schamlosen Anblick zu entziehn. Neben Karagöz ist sein schon vorhin erwähnter Freund und Kartellträger „Hagievad" sehr bemerkenswert. Eleganter in seinem Exterieur als der zuerst genannte, den man gemeinhin für einen Schmied hält, und der auch auf der Szene immer als eine plumpe Figur mit groben Gesichtszügen erscheint, hat er auch etwas mehr Bildung, wenngleich er ebenfalls in bedenklichem Maße zu Verstößen contra, bonos moros neigt, wie sich denn überhaupt seine Sitt¬ lichkeitsbegriffe nur wenig vorteilhaft von denen des Haupthelden unterscheiden. In Karagöz und Hagievad sehen wir die ältesten Typen der Komödie, und es gibt Stücke, in denen nur diese beiden lustigen Ulkvögel allein auftreten; viel¬ leicht sind es sogar die unterhaltendsten. Bekri Mustafa, der reich gewordne Bauer, der nach der Stadt kommt und sich dort jedesmal übertölpeln läßt, der dünkelhafte, sehr selbstbewußt auftretende Kawasse, der Tschifut, der arme, von Karagöz beständig gemaßregelte jüdische Schnorrer, der gaunerhafte Der¬ wisch, der Opiumraucher, der Stammler, der Raster, der Armenier, der Franke, der Albanese, sie und zahlreiche andre charakteristische Vertreter des männlichen und des weiblichen Geschlechts bilden den anmutigen Chorus, der zu den Abenteuern und Heldentaten Meisters Karagöz in mittelbaren oder unmittel¬ baren Beziehungen steht. Von allen deutschen Orientalisten ist Professor Georg Jacob wohl am tiefsten in das Wesen der Karagözbühne eingedrungen, und ihm gebührt das unbestrittene Verdienst, sie durch zahlreiche treffliche Übersetzungen ihrer Re¬ pertoirestücke unserm Verständnis näher gebracht zu haben. Aber schon lange vor ihm haben bekannte französische Schriftsteller wie der feinsinnige Theophile Gautier und der dichterisch vornehm empfindende Gerard de Nerval diesem amüsanten Miniaturtheater ihr Augenmerk zugewandt, und insbesondre die von Champfleury in seinem Nusös ssorst as Is. og-rivaturs mitgeteilte Analyse einer Karagözkomödie aus der Feder de Nervals ist geeignet, uns eine ziemlich klare Vorstellung der türkischen Schattenbühne in ihrer Eigenart zu vermitteln. Das köstliche, von dem genannten Autor elegant und künstlerisch reizvoll wiedergegebne Stückchen führt den Titel: „Karagöz als das Opfer seiner Keuschheit" und zeigt uns, wenngleich im Original reich an geschlechtlichen Anspielungen, den alten Possenreißer und Zotenbruder noch von einer seiner mildesten Seiten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/362>, abgerufen am 23.07.2024.