Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das türkische Schattentheater

Klarheit gelangen, wohl aber wissen wir aus unanfechtbaren literarischen Doku¬
menten, wie dem dem elften Jahrhundert entstammenden "Tau-sou" der Chinesen,
daß der Ursprung dieser szenischen Darbietungen bis in die fernsten Kulturperioden
Zurückreicht.

Es ist nicht zu verwundern, daß im Lande des Konfuzius, wo die Klein¬
kunst es schon früh zu bedeutenden Leistungen brachte, auch die subtile Kunst
des Schattenspiels die eifrigste Pflege fand, wie denn der ganze technische
Apparat dieser Miniaturbühne unter den geschickten Händen der Zopfträger zu
einer erstaunlichen Vollendung gelangte. Im Mittelalter finden wir chinesische
Schattenspieler am Hofe der Mongolenfürsten, wo ihre Vorführungen die
höchste Bewunderung hervorriefen, und jener gewandte Artist aus Kairo, der auf
Geheiß Sultan Selims des Zweiten dem jungen Prinzen Soliman im Palast
zu Konstantinopel das Ende des letzten Mamelukenherrschers auf der ^trans¬
parenten Leinwand vorführen mußte, hatte seine Kunstfertigkeit wohl auch
Lehrmeistern aus dem Lande des gelben Stromes zu verdanken.

So viel jedoch darf als feststehend betrachtet werden, daß die Chinesen
zur Verbreitung des Schattenspiels im Orient sehr viel beigetragen haben, und
auch das heutige türkische Schattentheater kann seine Herkunft vom chinesischen
nicht verleugnen, wie schon ein Vergleich des beiderseitigen, in Größe und
Technik völlig übereinstimmenden Figurcnmaterials ganz deutlich zeigt. Während
aber die Wirkung des chinesischen Spiels vornehmlich auf seinem wunderbaren,
die raffiniertesten szenischen Effekte ermöglichenden Mechanismus beruht, hat
sich die türkische Schattenbühne mit ihrem umfangreichen Posten- und Schwank¬
repertoire literarisch so eigenartig und interessant entwickelt, daß es sich wohl
verlohnt, dieses die dramatische Kunst der osmanisch-islamitischen Welt fast aus¬
schließlich repräsentierende Unterhaltungsinstitut in bezug auf seine künstlerischen
Qualitäten einmal näher zu betrachten. Die Hauptperson dieses kleinen ori¬
ginellen Theaters heißt Karagöz, zu deutsch "Schwarzauge"; er ist ein Geistes¬
verwandter unsers heimischen Kasperle, das seine Ahnenreihe bekanntlich
zurückverfolgen kann bis zu dem "Vidusccka" der Jndier, der schon vor zwei¬
tausendfünfhundert Jahren im Lande der Lotosblume mit seinen Hanswurst-
späßeu glänzte.

Am Ramadanfeste, wo sich die Bekenner Mohammeds den ungezügeltsten
Ausschweifungen überlassen und sich dann in der Moschee von ihrer seelischen
Befleckung reinigen, steigt Karagöz aus den dunkeln Tiefen seiner Verborgen¬
heit empor, um sich während der Dauer des großen islamitischen Festes in
der ganzen Glorie eines durch die Keckheit und Urwüchsigkeit seiner Inspirationen
verblüffenden Genies zu zeigen. Zur Erfüllung seiner künstlerischen Mission
steht ihm alljährlich nur die verhältnismäßig kurze Frist eines Monats zur
Verfügung, aber was er während dieser Zeitspanne in Gemeinschaft mit
seinem Freunde und unzertrennlichen Begleiter "Hagievad" an Witz und
originellem Humor zlltage fördert, dürfte schwerer wiegen als die Leistungen


Das türkische Schattentheater

Klarheit gelangen, wohl aber wissen wir aus unanfechtbaren literarischen Doku¬
menten, wie dem dem elften Jahrhundert entstammenden „Tau-sou" der Chinesen,
daß der Ursprung dieser szenischen Darbietungen bis in die fernsten Kulturperioden
Zurückreicht.

Es ist nicht zu verwundern, daß im Lande des Konfuzius, wo die Klein¬
kunst es schon früh zu bedeutenden Leistungen brachte, auch die subtile Kunst
des Schattenspiels die eifrigste Pflege fand, wie denn der ganze technische
Apparat dieser Miniaturbühne unter den geschickten Händen der Zopfträger zu
einer erstaunlichen Vollendung gelangte. Im Mittelalter finden wir chinesische
Schattenspieler am Hofe der Mongolenfürsten, wo ihre Vorführungen die
höchste Bewunderung hervorriefen, und jener gewandte Artist aus Kairo, der auf
Geheiß Sultan Selims des Zweiten dem jungen Prinzen Soliman im Palast
zu Konstantinopel das Ende des letzten Mamelukenherrschers auf der ^trans¬
parenten Leinwand vorführen mußte, hatte seine Kunstfertigkeit wohl auch
Lehrmeistern aus dem Lande des gelben Stromes zu verdanken.

So viel jedoch darf als feststehend betrachtet werden, daß die Chinesen
zur Verbreitung des Schattenspiels im Orient sehr viel beigetragen haben, und
auch das heutige türkische Schattentheater kann seine Herkunft vom chinesischen
nicht verleugnen, wie schon ein Vergleich des beiderseitigen, in Größe und
Technik völlig übereinstimmenden Figurcnmaterials ganz deutlich zeigt. Während
aber die Wirkung des chinesischen Spiels vornehmlich auf seinem wunderbaren,
die raffiniertesten szenischen Effekte ermöglichenden Mechanismus beruht, hat
sich die türkische Schattenbühne mit ihrem umfangreichen Posten- und Schwank¬
repertoire literarisch so eigenartig und interessant entwickelt, daß es sich wohl
verlohnt, dieses die dramatische Kunst der osmanisch-islamitischen Welt fast aus¬
schließlich repräsentierende Unterhaltungsinstitut in bezug auf seine künstlerischen
Qualitäten einmal näher zu betrachten. Die Hauptperson dieses kleinen ori¬
ginellen Theaters heißt Karagöz, zu deutsch „Schwarzauge"; er ist ein Geistes¬
verwandter unsers heimischen Kasperle, das seine Ahnenreihe bekanntlich
zurückverfolgen kann bis zu dem „Vidusccka" der Jndier, der schon vor zwei¬
tausendfünfhundert Jahren im Lande der Lotosblume mit seinen Hanswurst-
späßeu glänzte.

Am Ramadanfeste, wo sich die Bekenner Mohammeds den ungezügeltsten
Ausschweifungen überlassen und sich dann in der Moschee von ihrer seelischen
Befleckung reinigen, steigt Karagöz aus den dunkeln Tiefen seiner Verborgen¬
heit empor, um sich während der Dauer des großen islamitischen Festes in
der ganzen Glorie eines durch die Keckheit und Urwüchsigkeit seiner Inspirationen
verblüffenden Genies zu zeigen. Zur Erfüllung seiner künstlerischen Mission
steht ihm alljährlich nur die verhältnismäßig kurze Frist eines Monats zur
Verfügung, aber was er während dieser Zeitspanne in Gemeinschaft mit
seinem Freunde und unzertrennlichen Begleiter „Hagievad" an Witz und
originellem Humor zlltage fördert, dürfte schwerer wiegen als die Leistungen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0360" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300147"/>
          <fw type="header" place="top"> Das türkische Schattentheater</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1274" prev="#ID_1273"> Klarheit gelangen, wohl aber wissen wir aus unanfechtbaren literarischen Doku¬<lb/>
menten, wie dem dem elften Jahrhundert entstammenden &#x201E;Tau-sou" der Chinesen,<lb/>
daß der Ursprung dieser szenischen Darbietungen bis in die fernsten Kulturperioden<lb/>
Zurückreicht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1275"> Es ist nicht zu verwundern, daß im Lande des Konfuzius, wo die Klein¬<lb/>
kunst es schon früh zu bedeutenden Leistungen brachte, auch die subtile Kunst<lb/>
des Schattenspiels die eifrigste Pflege fand, wie denn der ganze technische<lb/>
Apparat dieser Miniaturbühne unter den geschickten Händen der Zopfträger zu<lb/>
einer erstaunlichen Vollendung gelangte. Im Mittelalter finden wir chinesische<lb/>
Schattenspieler am Hofe der Mongolenfürsten, wo ihre Vorführungen die<lb/>
höchste Bewunderung hervorriefen, und jener gewandte Artist aus Kairo, der auf<lb/>
Geheiß Sultan Selims des Zweiten dem jungen Prinzen Soliman im Palast<lb/>
zu Konstantinopel das Ende des letzten Mamelukenherrschers auf der ^trans¬<lb/>
parenten Leinwand vorführen mußte, hatte seine Kunstfertigkeit wohl auch<lb/>
Lehrmeistern aus dem Lande des gelben Stromes zu verdanken.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1276"> So viel jedoch darf als feststehend betrachtet werden, daß die Chinesen<lb/>
zur Verbreitung des Schattenspiels im Orient sehr viel beigetragen haben, und<lb/>
auch das heutige türkische Schattentheater kann seine Herkunft vom chinesischen<lb/>
nicht verleugnen, wie schon ein Vergleich des beiderseitigen, in Größe und<lb/>
Technik völlig übereinstimmenden Figurcnmaterials ganz deutlich zeigt. Während<lb/>
aber die Wirkung des chinesischen Spiels vornehmlich auf seinem wunderbaren,<lb/>
die raffiniertesten szenischen Effekte ermöglichenden Mechanismus beruht, hat<lb/>
sich die türkische Schattenbühne mit ihrem umfangreichen Posten- und Schwank¬<lb/>
repertoire literarisch so eigenartig und interessant entwickelt, daß es sich wohl<lb/>
verlohnt, dieses die dramatische Kunst der osmanisch-islamitischen Welt fast aus¬<lb/>
schließlich repräsentierende Unterhaltungsinstitut in bezug auf seine künstlerischen<lb/>
Qualitäten einmal näher zu betrachten. Die Hauptperson dieses kleinen ori¬<lb/>
ginellen Theaters heißt Karagöz, zu deutsch &#x201E;Schwarzauge"; er ist ein Geistes¬<lb/>
verwandter unsers heimischen Kasperle, das seine Ahnenreihe bekanntlich<lb/>
zurückverfolgen kann bis zu dem &#x201E;Vidusccka" der Jndier, der schon vor zwei¬<lb/>
tausendfünfhundert Jahren im Lande der Lotosblume mit seinen Hanswurst-<lb/>
späßeu glänzte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1277" next="#ID_1278"> Am Ramadanfeste, wo sich die Bekenner Mohammeds den ungezügeltsten<lb/>
Ausschweifungen überlassen und sich dann in der Moschee von ihrer seelischen<lb/>
Befleckung reinigen, steigt Karagöz aus den dunkeln Tiefen seiner Verborgen¬<lb/>
heit empor, um sich während der Dauer des großen islamitischen Festes in<lb/>
der ganzen Glorie eines durch die Keckheit und Urwüchsigkeit seiner Inspirationen<lb/>
verblüffenden Genies zu zeigen. Zur Erfüllung seiner künstlerischen Mission<lb/>
steht ihm alljährlich nur die verhältnismäßig kurze Frist eines Monats zur<lb/>
Verfügung, aber was er während dieser Zeitspanne in Gemeinschaft mit<lb/>
seinem Freunde und unzertrennlichen Begleiter &#x201E;Hagievad" an Witz und<lb/>
originellem Humor zlltage fördert, dürfte schwerer wiegen als die Leistungen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0360] Das türkische Schattentheater Klarheit gelangen, wohl aber wissen wir aus unanfechtbaren literarischen Doku¬ menten, wie dem dem elften Jahrhundert entstammenden „Tau-sou" der Chinesen, daß der Ursprung dieser szenischen Darbietungen bis in die fernsten Kulturperioden Zurückreicht. Es ist nicht zu verwundern, daß im Lande des Konfuzius, wo die Klein¬ kunst es schon früh zu bedeutenden Leistungen brachte, auch die subtile Kunst des Schattenspiels die eifrigste Pflege fand, wie denn der ganze technische Apparat dieser Miniaturbühne unter den geschickten Händen der Zopfträger zu einer erstaunlichen Vollendung gelangte. Im Mittelalter finden wir chinesische Schattenspieler am Hofe der Mongolenfürsten, wo ihre Vorführungen die höchste Bewunderung hervorriefen, und jener gewandte Artist aus Kairo, der auf Geheiß Sultan Selims des Zweiten dem jungen Prinzen Soliman im Palast zu Konstantinopel das Ende des letzten Mamelukenherrschers auf der ^trans¬ parenten Leinwand vorführen mußte, hatte seine Kunstfertigkeit wohl auch Lehrmeistern aus dem Lande des gelben Stromes zu verdanken. So viel jedoch darf als feststehend betrachtet werden, daß die Chinesen zur Verbreitung des Schattenspiels im Orient sehr viel beigetragen haben, und auch das heutige türkische Schattentheater kann seine Herkunft vom chinesischen nicht verleugnen, wie schon ein Vergleich des beiderseitigen, in Größe und Technik völlig übereinstimmenden Figurcnmaterials ganz deutlich zeigt. Während aber die Wirkung des chinesischen Spiels vornehmlich auf seinem wunderbaren, die raffiniertesten szenischen Effekte ermöglichenden Mechanismus beruht, hat sich die türkische Schattenbühne mit ihrem umfangreichen Posten- und Schwank¬ repertoire literarisch so eigenartig und interessant entwickelt, daß es sich wohl verlohnt, dieses die dramatische Kunst der osmanisch-islamitischen Welt fast aus¬ schließlich repräsentierende Unterhaltungsinstitut in bezug auf seine künstlerischen Qualitäten einmal näher zu betrachten. Die Hauptperson dieses kleinen ori¬ ginellen Theaters heißt Karagöz, zu deutsch „Schwarzauge"; er ist ein Geistes¬ verwandter unsers heimischen Kasperle, das seine Ahnenreihe bekanntlich zurückverfolgen kann bis zu dem „Vidusccka" der Jndier, der schon vor zwei¬ tausendfünfhundert Jahren im Lande der Lotosblume mit seinen Hanswurst- späßeu glänzte. Am Ramadanfeste, wo sich die Bekenner Mohammeds den ungezügeltsten Ausschweifungen überlassen und sich dann in der Moschee von ihrer seelischen Befleckung reinigen, steigt Karagöz aus den dunkeln Tiefen seiner Verborgen¬ heit empor, um sich während der Dauer des großen islamitischen Festes in der ganzen Glorie eines durch die Keckheit und Urwüchsigkeit seiner Inspirationen verblüffenden Genies zu zeigen. Zur Erfüllung seiner künstlerischen Mission steht ihm alljährlich nur die verhältnismäßig kurze Frist eines Monats zur Verfügung, aber was er während dieser Zeitspanne in Gemeinschaft mit seinem Freunde und unzertrennlichen Begleiter „Hagievad" an Witz und originellem Humor zlltage fördert, dürfte schwerer wiegen als die Leistungen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/360
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/360>, abgerufen am 23.07.2024.